Das versteht nicht jeder

Predigt am 12. Juni 2011 zu 1. Korinther 2,12-16

12 Wir haben aber nicht den Geist dieser Welt erhalten, sondern den Geist, der von Gott kommt. Darum können wir erkennen, was Gott uns geschenkt hat. 13 Davon reden wir nicht in Worten, wie sie menschliche Weisheit lehrt, sondern in Worten, die der Geist Gottes eingibt. Von dem, was Gott uns durch seinen Geist offenbart, reden wir so, wie sein Geist es uns lehrt.
14 Menschen, die sich auf ihre natürlichen Fähigkeiten verlassen, lehnen ab, was der Geist Gottes enthüllt. Es kommt ihnen unsinnig vor. Sie können nichts damit anfangen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann.
15 Wer dagegen den Geist hat, kann über alles urteilen, aber nicht von jemand beurteilt werden, der den Geist nicht hat. 16 Es heißt ja in den Heiligen Schriften: »Wer kennt den Geist des Herrn? Wer will sich herausnehmen, ihn zu belehren?« Und das ist der Geist, den wir empfangen haben: der Geist von Christus, dem Herrn.

Das sind sehr starke Sätze: Wir kennen Gottes Gedanken, denn wir haben seinen Geist, den Geist von Jesus! Besonders, wenn man bedenkt, dass es damals vielleicht gerade mal ein paar Tausend Jesus-Leute gab, verstreut unter den Millionen Menschen, die damals schon im Römischen Reich lebten. Und da in Korinth, der Stadt, wohin der Brief ging, waren es vielleicht hundert – in einer der großen Städte des Reiches. Eine sehr überschaubare Zahl von Menschen, die sich im Namen eines durch Kreuzigung hingerichteten Propheten aus einem der hinteren Winkel des Mittelmeerraumes trafen, aber sie sagen: wir haben den entscheidenden Zugang zur Realität, wie sie wirklich ist. Wir verstehen die entscheidenden Dinge, auch wenn sie den anderen merkwürdig und verrückt erscheinen. Aber wir wissen, dass das Gottes Weisheit ist, sein geheimer Plan, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen.

Man muss das mal einfach auf sich wirken lassen, was das für ein Aufbruch gewesen sein muss für diese wenigen Menschen, die das ganz am Anfang miterlebt haben: Jetzt verstehen wir endlich, wie Gott sich das alles gedacht hat. Wie sein neuer Weg aussieht, auf den er schon immer hingearbeitet hat. Er wollte einen Menschen wie Jesus ermöglichen. Einen Menschen, der auf all das Dunkle und Kaputte in der Welt eine heilende Antwort kennt. Einen Menschen, der in sich ein ansteckendes Leben trägt, das die Kraft zum Neuanfang hat, auch da, wo Menschen schon fast ganz in ihrer Menschlichkeit zerstört sind.

Denken Sie an Länder, in denen Menschen schon seit Jahren und Jahrzehnten Gewalt und Unterdrückung ertragen müssen, wie Nordkorea oder Iran; Länder, in denen seit Jahrzehnten Krieg und Unsicherheit herrschen wie Afghanistan oder Somalia; denken Sie an Menschen, deren Gedanken nur noch darum kreisen, wie sie sich neue Drogen beschaffen können. Aber denken Sie auch an Menschen, die ganz für ihre Statussymbole leben, für Geld oder Macht, die rücksichtslos ihre Interessen gegen die anderen durchsetzen und das toll finden. Gibt es einen Weg, wie man solchen Menschen einen neuen Weg öffnen kann? Ja, sagt Paulus, die Kraft Jesu kann das.

Ein Pastoren-Kollege hat öfter mal die Geschichte erzählt, wie er auf dem Flughafen im Transitbereich wartet, und dann sieht er da zwei kleine Jungen, von denen einer den anderen unglaublich brutal schlägt. Anscheinend ist da kein verantwortlicher Erwachsener, und so greift er ein und trennt die beiden und besorgt jemanden, der sich um die beiden kümmert. Dann muss er selbst weiter, und im Flugzeug denkt er darüber nach und fragt sich: was soll aus diesem Jungen werden, wenn der jetzt schon überhaupt keine Hemmungen hat, jemand anders so brutal zuzurichten? Wir lesen und hören ja auch oft genug von Menschen, die aus einer Laune heraus brutal andere zusammenschlagen. Und er geht die Möglichkeiten durch und fragt sich, was müsste geschehen, damit der auf einen anderen Weg kommt? Würden schärfere Gesetze helfen? Aber würden sie ihn innen erreichen? Und dann landet er dabei und sagt: dem müssten Menschen begegnen, die für ihn den Geist von Jesus verkörpern, dann hätte er eine Chance, von innen heil zu werden.

Sehen Sie, es geht im Christentum um die Frage, was für eine Kraft es schafft, all dem Dunkel und der Zerbrochenheit und Hohlheit, all den schiefen Verhältnissen, all dem inneren und äußeren Elend etwas entgegenzusetzen. Wie man das nicht nur mühsam begrenzen oder wegsperren kann, sondern wie es wirklich heilt.

Und Paulus sagt: uns hat Gott gezeigt, was hilft. Wir haben den Geist von Jesus, der die Welt und die Menschen wirklich kennt, wir haben die Liebe, für die Menschen geschaffen sind, und nach der sie sich noch in ihrem zerstörtesten und verführtesten Herzen sehnen. Wir haben den Schlüssel, der die Herzen und die Kerker aufschließt. Wir haben den Geist von Jesus, und damit ist alles möglich.

Und tatsächlich haben sich diese paar tausend Menschen im Lauf weniger Jahrzehnte über die ganze damals bekannte Welt ausgebreitet, obwohl es lebensgefährlich werden konnte, wenn man zu den Jesus-Leuten gehörte, die von ihren Nachbarn wie von den Vertretern des Imperiums misstrauisch beobachtet wurden. Aber wer das verstanden hatte, bei wem es »Klick« gemacht hatte, wem die Augen aufgegangen waren, der wollte das nie wieder verlieren. Es ist vielleicht ein bisschen, wie wenn man einen 3D-Film sieht und die Brille dafür aufsetzt, und auf einmal bekommt die Welt Tiefe und man sieht Dinge auf eine andere Weise. Man sieht die gleiche Welt, und trotzdem ganz neu.

Das ist der Wechsel von dem Geist der Welt zum Geist Christi. »Geist der Welt« klingt für unsere Ohren ein bisschen merkwürdig. Um etwa den Ton zu treffen, den das damals hatte, müsste man heute übersetzen: der Geist des Systems. Jeder Mensch bekommt die Brille des Welt- oder des Familiensystems angepasst, in dem er aufwächst. Die Kultur, in der er lebt, ist für ihn ganz selbstverständlich, aber wenn er dann mal eine Zeit in einem ganz anderen Land oder unter ganz anderen Menschen lebt, dann staunt er: was, man kann mit so wenig Geld leben, ohne gekacheltes Bad, ohne Auto, mit ganz wenig Klamotten, und trotzdem machen die Leute keinen unglücklichen Eindruck. Oder einer lernt eine andere Familie kennen, vielleicht die des Ehepartners, und er staunt und sagt: oh, man kann auch miteinander reden, ohne sich anzuschreien, man kann miteinander essen, ohne dass einer gleich mit Tellern schmeißt, das wusste ich ja noch gar nicht! Jetzt verstehe ich, was mir an meinem Schatz so gut gefällt, und woher das kommt!

Und so geht es im christlichen Glauben darum, dass ein ganzes Biotop entsteht, das vom Geist Jesu geprägt ist, eine Kultur, die ihn mit hundert Einzelheiten kommuniziert, eine Familie, die nicht durch Blut, Verwandtschaft und Verletzungen verbunden ist, sondern durch den Geist Gottes, kulturübergreifend. Und wer das kennenlernt, der sagt: ach, so kann man die Dinge also auch sehen. Das gefällt mir aber. Und dann ändern sich die ganzen Selbstverständlichkeiten.

Das heißt nicht, dass dann gleich alles paletti wäre. Im nächsten Kapitel schreibt Paulus seinen Korinthern, was sie doch bitte noch an ihrem Gemeindestil ändern sollten, weil das eigentlich überhaupt nicht zu Jesus passt. Schon damals war es eine entscheidende Aufgabe, die Kultur der Gemeinde so zu gestalten, dass sie dem Geist Jesu möglichst wenig im Weg steht. Denn natürlich kann man auf eine so unfreundliche oder meckerige oder ausbeuterische Art Christ sein, dass der Geist Jesu nur noch betrübt daneben steht.

So ärgerlich das ist, es darf doch nicht die viel größere Tatsache verdecken, dass jetzt der Geist Jesu da ist. Wir haben den Geist Christi, wir haben den Schlüssel zum Plan Gottes bekommen. Wir wissen jetzt, wie Gott die kaputte Welt heilen will. Jesus ist seinen Weg gegangen, in der Bergpredigt hat er die innere Logik dieses Weges beschrieben: reiß dir nicht die Welt unter den Nagel, vertraue auf Gott und den Segen, den er in die Welt hinein gibt, lass dich vom Bösen nicht anstecken, ertrage es in der Kraft Gottes, damit es verschwindet. Selig sind die Friedfertigen. Kein Wunder, dass das für alle völlig verrückt klang, die das zum ersten Mal hörten.

Natürlich ist inzwischen viel davon in unser Denken eingegangen, es ist für uns nicht mehr ganz so neu und unvertraut, nicht mehr ganz so verrückt, wie es für die Menschen in der Antike klang. Es gab Franz von Assisi, Martin Luther King und Mutter Theresa. Die und viele andere haben uns gezeigt, dass es wirklich eine Kraft gibt, die auf ganz andere Weise als mit Druck und Zwang die Welt verändert. Aber es ist auch für uns immer noch sehr speziell, und unsere Art, das verrückt zu nennen geht so: »Das ist sicher eine bewundernswerte Art zu leben, aber für mich wäre das nichts.«

Auch im christlichen Abendland steckt der Geist der Welt, der Geist des Systems tief in uns drin, und es ist eine mühsame Sache, sich davon befreien zu lassen und aus dem Geist Jesu heraus zu leben. Es geht nicht um fünf Tricks, die du beachten musst, um Mutter Theresa zu werden. Es geht um eine Transformation unserer Person. Wenn es ein klares System von Regeln gäbe, das würden Menschen besser verstehen. Aber so eine Art des Lebens, wie Jesus es vorgemacht hat, das kann man nicht in ein paar Regeln verpacken. Deswegen geht es um den Geist, also um etwas Bewegliches, Fließendes, um den Abdruck der Person Jesu in der Mitte unserer Person. Es geht um Gottes Gedanken in unserem Herzen. Um das Leben Jesu, wie es sich in einer Gemeinschaft von Menschen entfaltet, wie es zu einem Biotop wird, zu einer Kultur, die es uns leichter macht, aus dem Geist Jesu heraus zu leben. Wer das erlebt, der liest die Bibel mit ganz anderen Augen, weil merkt: da geht es um dieselbe Sache, die mich bewegt.

Wenn wir heute zurückschauen auf diese Anfänge der Jesusbewegung und manches nicht verstehen oder merkwürdig finden, dann muss das nicht an den alten Urkunden liegen. Es kann auch daran liegen, dass wir zu wenig in den Fragen leben, die die Menschen damals bewegten. Jesus, Paulus und all die anderen bewegten sich in der jüdischen Kultur des ersten Jahrhunderts, die ganz stark geprägt war von dieser biblischen Frage: Gott, wann wirst du dein Reich aufrichten? Wie lange müssen wir noch dieses Elend ertragen? Warum sind die Machthaber und Potentaten immer obenauf? Warum tust du nichts? Wie kann die Welt zurückfinden zu der Herrlichkeit, mit der du sie geschaffen hast? Darauf gab es unterschiedliche Antworten, und die Antwort, die Jesus gab, war – gelinde gesagt – umstritten. Aber die Frage bewegte die Menschen. Die Frage war ihnen vertraut.

Heute kommt es mir manchmal so vor, als ob Gott uns den Schlüssel zur Welt anvertraut hat, den Schlüssel zur neuen Welt, die im Verborgenen schon da ist, aber keiner wollte ihn haben, und nun liegt er verdreckt, verrostet und verbogen irgendwo herum und wartet darauf, dass Menschen ihn finden und seinen Wert erkennen, ihn säubern und entrosten und ihn dann benutzen, vor allem: gemeinsam lernen, ihn zu benutzen.

Dann wird auch der Moment wiederkommen, wo wir nicht mehr befremdet sind von diesen großen Worten, wo wir nicht zurückschrecken, sondern wo uns das ganz selbstverständlich ist: Ja, wir haben den Geist Gottes. Die anderen verstehen das nicht, das ist nicht weiter verwunderlich, aber bei uns lebt er, und wir leben in seiner Kraft. Wir verstehen Gott von innen, in seinem Herzen.

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