Wenn nur noch Beten hilft …

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 22. September 2002

Im Gottesdienst gingen zwei Szenen voran:

  • in der einen konnte man einen Flugzeugpassagier beobachten, der sich in einer brenzligen Situation an Restbestände seiner religiösen Erziehung erinnert, dramatisch betet, dann aber nach Entspannung der Lage alles wieder vergisst;
  • die zweite beschrieb, wie in einem Kreislauf des Segens – immer wieder unterstützt durch Gebet – Menschen sich verändern und beginnen, kleine und große Aufträge Gottes anzunehmen.

»Wenn nur noch beten hilft …« heißt dieser Gottesdienst. Aber wann ist es so weit, dass nur noch beten hilft? Wann ist der Punkt gekommen, wo einer sagen muss: jetzt setze ich alles auf diese Karte, jetzt hilft wirklich nur noch beten? Wir haben heute in den beiden Theaterszenen zwei verschiedene Antworten auf diese Frage bekommen.

Die Antwort des ersten Stückes ist klar: wenn es wirklich brenzlig wird, wenn die nackte Angst nach einem greift, und wenn man wirklich nichts anderes mehr machen kann, dann kann man es ja vielleicht auch noch mal mit Gott versuchen. Dann fallen einem die religiösen Restbestände von früher ein und man versucht, sich so zu verhalten, wie man glaubt, dass man das eben machen muss.

Aber funktioniert das? Die Antwort ist: ja, erstaunlich oft. Es gibt viele Menschen, die in einer Situation der Ausweglosigkeit angefangen haben zu beten, und sie haben Hilfe erfahren. Schon in der Bibel. Wir können etwa an die vielen Kranken denken, die zu Jesus gekommen sind, in einer akuten Notsituation, weil sie anders nicht gesund werden konnten. Und sie wurden geheilt.

Dass Menschen das dann anschließend schnell wieder vergessen und sich eher wieder für Eintracht Frankfurt interessieren, das steht auf einem anderen Blatt. Aber bis heute gebraucht Gott solche Situationen, um uns zu signalisieren: Hier bin ich, ich höre dich, du bist nicht allein! Ich warte darauf, dass du dich an mich erinnerst. Es ist aus Gottes Sicht vielleicht keine sehr befriedigende Methode, weil wir anschließend am liebsten wieder schnell vergessen, wie hilflos wir waren, und deshalb vergessen wir auch die Hilfe Gottes oft oder spielen nachträglich die Gefahrensituation herunter. Aber Gott erreicht auf diesem Weg durchaus Menschen, und nicht jeder vergisst diese Hilfe anschließend wieder. Sie kennen vielleicht die Geschichte von den 10 geheilten Aussätzigen: nur einer kam nach der Heilung zurück und bedankte sich bei Jesus, weil er nicht vergessen hatte, wer ihm geholfen hat. 10% Erfolgsquote – Gott arbeitet auch damit.

Aber natürlich ist das, was wir eben in der zweiten Szene gesehen haben, näher am Herzen Gottes. Da taucht Beten auch in den entscheidenden Momenten immer wieder auf, aber es ist viel organischer verbunden mit dem Leben der Menschen. Es gehört zu dem Segensstrom dazu, der von einem Menschen zum andern fließt und am Ende wieder zum Ursprung zurückkehrt. Ein Lehrer, der für seine Schüler betet, eine Frau, die gelernt hat, auf Gottes Hilfe für ihren Lebensunterhalt zu vertrauen, eine andere, die in einer Notsituation nicht wegschaut, sondern hilft und betet – und so weiter. Das ist alles viel mehr mit dem Leben verbunden und deshalb viel natürlicher, organischer. Da geht es nicht um den extremen Notfall, sondern um ein kontinuierliches Leben mit Gott, ein beständiges Hören auf ihn und ein Tun seines Willens.

Aber um dieses Leben lebendig zu erhalten, dafür ist Beten notwendig, und man könnte sagen: ja, dass dieser Strom des Segens weiterfließt, auch dazu hilft nur Beten. Weil nämlich dadurch unser Herz den Spielraum bekommt, sich zu entfalten. Aus unserem Herzen fließt ja alles Segensreiche und Freudige, das wir tun und um uns verbreiten. In unserem Herzen verankert ist alle echte Anteilnahme und alles sinnvolle Arbeiten, alle ehrliche Anbetung und die wirkliche Opferbereitschaft.

Es ist ja Jesus nie darum gegangen, eine Religion zu gründen mit heiligen Texten und Riten und Traditionen. Er hat den Menschen wieder den Weg gezeigt, wie sie aus der innersten Sehnsucht ihres Herzens und ihrer Seele heraus leben können. Unser Herz wünscht sich immer noch die Berührung durch die Gegenwart Gottes. Es wünscht sich die echten Augenblicke, von denen wir lange leben können, die Situationen, durch die es ernährt und geheilt wird.

In dieser zweiten Szene verfolgen wir eine Kette von solchen Situationen, in denen Menschen der authentischen Stimme ihres Herzens folgen:

  • das Engagement dieses Lehrers für seine Kinder, mit dem alles anfängt.
  • Die Hilfsbereitschaft seines Schülers, der Schnee schippt, damit seine Mutter sich nicht mehr so viele Sorgen um das Geld machen muss, und der damit – ohne es zu ahnen – nicht so sehr ihren Geldbeutel, sondern vor allem ihr Herz anrührt.
  • Die spontane Entscheidung dieser Frau, nicht wegzusehen, sondern bei dem Unfall vom Fahrrad zu steigen und dem Verletzten beizustehen. Wobei diese Entscheidung ja gar nicht so spontan war, sondern durch die Gruppe, zu der sie ging, schon
  • lange vorbereitet war.
  • Dieses Projekt für Kinder und Jugendliche, das so vielen Menschen die Gelegenheit gab, neue, echte Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die sie sonst nie gemacht hätten, und die ihr Herz zum Wachstum herausforderten.
  • Die Entscheidung, nicht mehr die Weltprobleme aus sicherem Abstand am Fernseher zu verfolgen, sondern als Freiwillige hinzugehen und vor Ort sein Teil zu tun, damit in der Welt mehr Frieden herrscht.
  • Die Freundschaft mit einem Menschen aus einem ganz anderen Kulturkreis, die ganz unerwartete Geschenke mit sich bringt.
  • Und am Schluss die Entscheidung. sich ganz und mit vollem Herzen auf einen Menschen einzulassen und mit ihm das Leben zu teilen.

Das alles sind Entscheidungen ganz unterschiedlicher Tragweite. Aber sie haben gemeinsam, dass Menschen die Möglichkeiten ihres Herzens wirklich ausschöpfen, dass sie es nicht verkümmern lassen, sondern in Kontakt mit dieser Quelle des Lebens in ihrem Inneren sind. Das alles sind nicht unbedingt »fromme« Entscheidungen im engeren Sinn, aber sie geschehen innerhalb dieses Segenskreislaufes, unter dem Schutz des Gebets und im Umfeld von christlichen Gemeinden. Gott schützt unser Herz, weil er von dort aus zu uns reden will und uns dort Leben schenken will aus seiner unerschöpflichen Fülle. Und diese Fülle hat deutliche Gestalt angenommen in Jesus von Nazareth.

Christliche Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Menschen, die Seine Stimme in ihrem Herzen gehört haben und von daher leben wollen. Menschen, die die Einladung Gottes angenommen haben zu einem Leben, zu dem Schönheit, Wagnis und Nähe gehören.

  • Man kann es eine Reise nennen, weil wir vorher nicht wissen, was alles auf uns wartet.
  • Man kann es eine Liebesgeschichte nennen, weil die Begegnung mit der süßen Liebe Gottes im Herzen der stärkste Motor für das Ganze ist.
  • Man kann es »Rückkehr in die Heimat« nennen, weil wir merken, dass wir uns das eigentlich immer gewünscht haben.
  • Man kann es Ganzwerden nennen, weil wir nur ganz und heil werden, wenn wir Anteil an Gott haben.

Wenn der Wunsch, auf diese Reise zu gehen, wirklich da ist, dann nehmen Menschen auch Unsicherheit und Wagnisse, Trennungen und Gefahren auf sich, dann lassen Menschen ihr bisheriges vertrautes Leben hinter sich und gehen dahin, wo Gott ihnen verspricht, dass sie ihn dort finden werden. Gott weckt in uns diese gefährliche Sehnsucht nach ihm, und wenn du angefangen hast, sie zu kennen, dann kannst du sie nur noch schwer aus deinem Herzen vertreiben.

Ich glaube, dass es heute vielleicht gar nicht mehr deutlicher Unglaube oder Ablehnung Gottes ist, die Menschen nicht zu Gott finden lassen. Viel gefährlicher ist es, dass wir heute in einer Welt voller Anforderungen und Aufgaben leben, die uns immer wieder wegholen von der Quelle unserer Lebenskraft in unserem Herzen, wo Gott auf uns wartet, um uns zu beschenken mit seiner Gnade.

Nicht, dass wir viel dagegen hätten, aber wir leben alle so weit weg von dieser Quelle, dass wir nur selten dazu kommen, daraus zu trinken. Wir werden dann zwangsläufig oberflächlich und beschäftigen uns mit Aktivitäten, die unser Herz nicht herausfordern, sondern ihm kleine Befriedigungen gewähren, die es eine Zeit lang stillhalten lassen, ohne dass es wirklich froh würde.

Und dagegen hilft tatsächlich auch nur noch Beten. Ich meine nicht in erster Linie eine geregelte, ordentliche Gebetszeit, sondern ich meine diese Zeit, in der wir Kontakt finden zu dem Leben, das wir in uns tragen. Diese Zeit, in dem wir es unserem Herzen erlauben, zu jubeln über die Begegnung mit dem Leben Gottes. Diese Zeit, in der wir nicht ruhig sitzen bleiben können, weil wir die Stimme hören, die unser Glück und unsere Freude ist. Diese Zeit, in der wir Gott von neuem sagen: ich vertraue dir, das habe ich eigentlich immer gewusst, aber jetzt ist es mir wieder ganz klar geworden. Diese Zeit, in der unser Herz so sein darf, wie es von Anfang an sein sollte.

Das ist das Beten, von dem Jesus sprach: die Leidenschaft unseres Herzens, unserer ganzen Seele und all unserer Kräfte für die Stimme, die zu uns spricht. Wenn wir das lernen, dann werden wir einfach, es gibt dann nicht mehr viele wichtige Dinge, die uns über den Kopf wachsen und alle beachtet werden wollen, sondern dann gibt es eine ganz einfache Mitte, aus der wir leben. Eine Mitte, die uns auch in schwierigen Situationen eindeutig die Richtung zeigt, und für die eine Triebwerkspanne im Flugzeug sozusagen Routine ist.