Behüte dein Herz, denn daraus fließt das Leben

Predigt am 20. Oktober 2002 (Goldene Konfirmation) zu Sprüche 4,23

Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben.

Vielleicht hat Ihnen das sinngemäß schon mal der Arzt gesagt: Passen Sie auf die Pumpe auf, ohne die geht es nicht! Und das ist wirklich ein guter Rat.

Aber in der Bibel ist das Herz noch viel mehr als die Pumpe, die das Blut durch unsere Adern drückt. Das Herz ist das Zentrum der Person, es ist die Stelle, wo es sich entscheidet, wer ich wirklich bin. Was wir in unserem Herzen sind, das gilt, das sind wir in echt, auch wenn wir uns nach außen vielleicht ganz anders geben. Wenn unser Herz fröhlich ist, dann geht es dem ganzen Menschen gut. Und wenn unser Herz müde wird, dann haben wir auch keine Kraft mehr. Was wir in unserem Herzen sind, das wird sich am Ende auch in unserem Leben widerspiegeln. Und wenn Gott uns anschaut, dann sieht er unser Herz an. Wenn er uns ruft, dann hören wir seinen Ruf mit dem Herzen. Das Leben unseres Herzens ist Gottes zentrales Anliegen. Da sollen wir lebendig sein, das soll eine Quelle sein, die uns und andere mit Freude und Glück versorgt.

Ja, man kann sagen, dass jeder von uns eigentlich zwei Lebensgeschichten hat:

  • einmal die äußere Geschichte, die wir aufschreiben, wenn wir unseren Lebenslauf darstellen wollen: wo wir gewohnt haben, was wir gelernt und gearbeitet haben, unsere Familie und unsere Gesundheit.
  • Und dann gibt es noch die Geschichte unseres Herzens. Das ist eine verborgene Geschichte, die andere nur zum Teil kennen, die vielleicht noch nicht einmal unser Ehepartner begreift, und die auch vor uns selbst zu einem großen Teil verborgen ist. Das ist eine Geschichte unserer Träume und Hoffnungen; es ist die Geschichte der Augenblicke voller Glück, die wir nie mehr vergessen; es ist auch eine Geschichte von Enttäuschungen Demütigungen und Schmerzen, die wir vielleicht noch nicht einmal uns selbst eingestehen; und es ist die Geschichte davon, wie Gott uns ruft, weil er uns zu dem Menschen machen will, den er im Sinn hatte, als er uns schuf, und die Geschichte unserer Antworten und Nicht-Antworten auf seinen Ruf.

Diese beiden Geschichten, die äußere und die innere Geschichte unseres Lebens, die sind mehr oder weniger miteinander verquickt, sie beeinflussen sich gegenseitig und treiben sich gegenseitig voran. Manchmal laufen sie auch nebeneinander her, so als ob sie gar nichts miteinander zu tun hätten: ein äußeres Leben, das so abläuft, wie es von uns erwartet wird, und ein inneres Leben, das sich nirgends verwirklichen kann und nach und nach immer mehr verkümmert wie eine Pflanze in einer dunklen Ecke.
Unsere äußere Geschichte wird ganz stark mitbestimmt von anderen Menschen und der Zeit, in der wir leben. Obwohl es natürlich schon eine gewaltige Rolle spielt, wie wir an das Leben herangehen, ob wir uns zutrauen, unser Leben zu gestalten oder ob wir uns als Opfer der Umstände empfinden.

Die Geschichte unseres Herzen ist die Innenseite unseres Lebensweges, wie er unser Denken und unseren Charakter geprägt hat. Es ist die Geschichte der Menschen, denen wir gestattet haben, uns zu beeinflussen. Und es ist vor allem die Geschichte der starken und besonderen Momente, die man immer noch im Gedächtnis behält, wenn vieles Alltägliche schon längst vergessen ist; Augenblicke, in denen wir ganz gefordert waren, Zeiten, in denen wir mit Kopf und Herz gefordert und engagiert waren.

Dazu gehören vielleicht

  • die Zeiten, in denen wir mit ganzem und brennendem Herzen geliebt haben;
  • der Moment, als wir ein eigenes Kind zum ersten Mal auf den Arm genommen haben;
  • die Zeiten, als wir einen Aufbruch gewagt haben, einen neuen Weg eingeschlagen haben, einen Anfang gemacht haben mit seinem Wagnis und dem Zauber, der darin liegt;
  • Augenblicke der Schönheit, als uns etwas begegnet ist, was uns angerührt hat, etwas, das uns gezeigt hat, wieviel größer die Welt ist, als wir selber: der Sternenhimmel über uns, ein Sonneuntergang, eine gewaltige Landschaft;
  • auch die Zeiten, in denen es dunkel und traurig um uns herum wurde und wir vielleicht nicht geglaubt haben, dass es in der Zukunft für uns noch einmal gute Zeiten geben könnte.
  • oder auch die Male, in denen wir überrascht worden sind von der Güte Gottes, die uns unverhofft begegnet ist und unser Herz erfreut und erwärmt hat.

Vielleicht verstehen Sie, was ich meine: die Augenblicke, in denen wir etwas erleben von dem, was größer ist als wir selbst, und für das wir gerade deshalb bestimmt sind. Es sind diese Momente, in denen unser Herz angesprochen ist, wo es intensiv lebt und erlebt. Dafür ist es geschaffen. Aber wenn es diese Augenblicke gar nicht gibt, weil das Leben gleichmäßig und ohne große Hoffnungen seinen Weg geht, dann verkümmert das Herz wie ein Muskel, der nicht gebraucht wird und seine Kraft verliert.

Es gibt eine Geschichte vom auferstandenen Jesus, wie er zweien seiner Jünger auf der Straße begegnet, und sie erkennen ihn nicht, weil sie sich nicht vorstellen können, dass er lebt. Und als ihnen endlich die Augen aufgehen und sie begreifen, wer das ist, da verschwindet er vor ihren Augen. Und dann sagen sie zu sich: »Brannte nicht unser Herz, als er mit uns redete?« Im Nachhinein merken sie, dass ihr Herz ihn schon längst erkannt hatte. Es war einer dieser Momente, wo das Herz ganz gefordert ist. Und ihr Herz hatte reagiert, es hatte alle Energie eingesetzt und alle Reserven aktiviert. Aber die Jünger hatten an diesem Tag keinen guten Kontakt zu ihrem Herzen, und es dauerte lange, bis sie verstanden, was ihr Herz schon längst wusste. Wir müssen das lernen, auf die Stimme unseres Herzens zu hören, damit wir den Ruf Gottes hören. Gott spricht zu uns so, dass unser Herz es hören kann, aber wenn wir aufgehört haben, unser Herz zu spüren, dann hören wir auch Gott nicht mehr.

Und der Konfirmandenunterricht soll – von Ihrer Zeit bis heute – mit allem, was dazugehört, eine Anleitung sein, wie wir mit unserem Herzen Zugang finden können zu der Lebendigkeit Gottes, die in Jesus auch ganz äußerlich unter den Menschen sichtbar geworden ist. Da sollen Menschen lernen, dass dieses Leben eine Tiefendimension hat, dass uns da jemand ruft, von Anfang an: Gott, der von sich aus mit uns eine Liebesgeschichte begonnen hat und auf unsere Antwort wartet. Und ob unser Leben seine volle Qualität erreichen wird, ob wir die Menschen werden, die Gott im Sinn hatte, als er uns schuf, oder ob weit darunter bleiben, und ob unser Leben am Ende bestehen bleiben wird, das entscheidet sich daran, wie wir auf diesen Ruf antworten.

Ich habe mich in der letzten Zeit mit der Geschichte unseres Ortes und unserer Kirchengemeinde beschäftigt, und alles was ich über Pastor Hennies gefunden habe, der Sie konfirmiert hat, das deutet mir dahin, dass das jemand war, der von diesem Leben des Herzens gewusst hat und auch seinen Konfirmanden helfen wollte, dieses innere Leben des Herzens nicht zu überhören. Wenn ich daran denke, wie er schon damals Fahrten unternommen hat, und damit Erlebnisse ermöglicht hat, die über den Rahmen des Normalen und Vertrauten hinausgingen – ich habe Aufzeichnungen gefunden von einer Fahrt nach Sellenstedt, wo auch von Ihnen wohl einige mit dabei waren, wo die Jugendlichen einen Gemeindeabend vorbereitet und durchgeführt haben. Eine echte Herausforderung!

Und aus Gesprächen und Erinnerungen habe ich herausgehört: das war einer, der sich erkennbar gemacht hat, der gerade zu jungen Menschen ein persönliches Verhältnis aufbauen konnte und ihnen in Erinnerung geblieben ist. Und ich merke in seinen Aktennotizen, wie ihm das auch wirklich am Herzen gelegen hat, und wie er gehofft hat, dass die Jugendlichen vieles anders machen würden als die Erwachsenen, unter deren Lauheit er gelitten hat. Das hat er sicher so nie gesagt, aber er hat es hier und da geschrieben.

Was heißt das eigentlich, wenn man von Lauheit spricht? Man kann damit ganz kirchenamtlich geringen Gottesdienstbesuch oder geringes Spendenaufkommen oder so etwas meinen. Aber eigentlich ist etwas gemeint, was noch dahinter liegt: eine Begrenzung des Herzens, die Menschen davon abhält, sich mit ganzem Herzen hinzugeben (wenn ich diesen etwas ungewöhnlichen Begriff mal benutzen darf), sich zu verschenken an etwas, das größer ist als wir selbst. Gott hat diese Fähigkeit in uns hineingelegt, dass wir unser Herz weggeben können und es gerade so neu wiederbekommen. Gott hat uns so geschaffen, weil er selbst mit uns eine Liebesgeschichte haben will. Und normalerweise ist unser Herz an diesem Punkt chronisch unterfordert. Aber wenn wir unser Herz nicht an Gott hängen, dann werden wir es an etwas kleineres oder falsches hängen oder es einsperren und bei wenig Nahrung verschmachten lassen.

Vielleicht haben Sie in Ihrer Kindheit ja noch ein ganz wenig mitbekommen von der Stimmung der Kriegsjahre. Ich habe das neulich verfolgt an den Rundbriefen, die erst der Groß Ilseder NSDAP-Ortsgruppenleiter und später jemand anders an die Groß Ilseder geschrieben hat, die als Soldaten über ganz Europa verstreut waren. Und auch wenn da natürlich viel dabei ist, was einfach die Moral der Soldaten heben soll, so merkt man doch in diesen Briefen, was da auch für eine Begeisterung und Hingabebereitschaft geherrscht haben muss, gerade am Anfang, als ein Sieg auf den anderen folgte. Und dann, ungefähr in der Zeit von Stalingrad, da ändert sich das auf einmal, und von da an ist das Hauptthema der Briefe das Wetter. Und noch später, nach der Niederlage, da liest man in Texten desselben Mannes die Enttäuschung und Empörung, dass man doch der Führung vertraut hat, und nun ist dieses Vertrauen und diese Hingabebereitschaft missbraucht worden.

Ich habe den Eindruck, dass das in der Zeit nach dem Krieg ein ganz starker Eindruck gewesen ist: in seiner Bereitschaft zu Hingabe und Opfer missbraucht worden zu sein. Und ich habe die Arbeit von Pastor Hennies so verstanden, dass er den jungen Leuten zeigen wollte: ja, es gibt wirklich etwas, wofür es sich lohnt, mit ganzem Herzen zu leben, denn Jesus Christus wird uns nicht enttäuschen. Er wird unser Vertrauen nicht enttäuschen. Er ist unserer Hingabe und unserer Liebe tatsächlich würdig. Bei ihm ist wirklich Leben zu finden, nicht Tod und Betrug.

Und die Gemeinde ist der Ort, wo wir lernen, ein starkes und echtes Leben zu führen, das unser Herz herausfordert und nicht unterfordert. Der Ort, wo wir lernen, die Stimme Jesu zu hören, die uns zu diesem Leben ruft, das uns vielleicht ungewöhnlich und merkwürdig erscheint, aber es ist die Stimme, die wir in unserem Herzen hören. Und die Gemeinde ist der Ort, wo uns gesagt wird: ja, es hat seine Ordnung damit, und wir ermutigt werden, diesem Ruf zu trauen und ihm zu folgen.

Menschen haben oft den Eindruck gehabt, es ginge in der Kirche darum, bestimmte Mindeststandards zu erfüllen, damit man am Ende die Ewigkeit im Himmel zubringt, und dann streitet man sich vielleicht noch darum, wie hoch denn diese Standards sind. In Wirklichkeit geht es Gott darum, mit uns eine Liebesgeschichte zu beginnen, die unser Herz ein Leben lang lebendig erhält und in Ewigkeit weitergeht.

Das ist die wirkliche Quelle unseres Lebens, die Jesus uns von neuem aufschließt. Das Leben unseres Herzens ist das wirkliche Kapital unseres Lebens, und es vermehrt sich, wenn wir es einsetzen. Deswegen heißt es: Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben. Behüte dein Herz sorgfältig, gib ihm volle Aufmerksamkeit, das kannst du nicht nebenbei machen. Gib ihm Raum und Zeit, und überhöre in deinem Herzen nicht die leise Stimme Gottes, die dich einlädt zu einem Leben, das größer ist als alles andere.