Disziplin entwickeln (Weisheit IV)

Predigt am 20. Februar 2000 zu Sprüche 20,4

Wissen Sie, was der Stein der Weisen ist? Ein sagenhaftes Mittel, um alles, was man damit berührt, in Gold zu verwandeln. In früheren Jahrhunderten haben sich ganze Generationen von Forschern und Gelehrten auf die Suche gemacht nach diesem »Stein der Weisen«. Könige und Fürsten haben Alchimisten bezahlt, damit sie ihnen das Geheimnis lüften, wie man zu unermeßlichem Reichtum kommt. Die frühen Wissenschaftler haben manchmal ein Leben lang danach geforscht – vergeblich.

Das kann nicht anders sein, denn beim eigentlichen »Stein der Weisen« geht es um etwas ganz anderes. In der Tat ist bei den Weisen etwas zu finden, was buchstäblich alles in etwas Wertvolles verwandeln kann. Das Buch der Sprichwörter redet im Grunde in jedem Vers davon. Die Weisen Israels haben entdeckt, was in jeder Lage hilfreich und nützlich ist, was es uns erlaubt, auch noch aus den schwierigsten Situationen Gewinn zu ziehen und auch in der hoffnungslosesten Lage nicht aufzugeben.

Ich rede so großartig daher, weil die Weisen es auch tun. Sie können nicht aufhören in immer neuen Wendungen etwas zu preisen, was der größte Verbündete ist beim Streben nach einem glücklichen Leben. Wissen Sie, was das ist? Ich meine jetzt nicht Gott; daß Gott der Grund von allem ist und praktischer Helfer Tag für Tag, das setzten die Weisen voraus und betonten es nur selten extra. Sie wollten ja ganz weltlich von den praktischen Erfahrungen des Lebens reden, die sie mit Gottes Hilfe verstanden hatten. Was also ist jener Stein der Weisen, der in unserem Leben alles in Gold verwandeln kann? Ich nehme einen modernen Begriff, unter dem man zusammenfassen kann, was sie uns in immer neuen Wendungen ans Herz gelegt haben: der Weg zu einem Leben, auf das man einmal mit Freude zurückblickt, heißt Disziplin.

Ich hoffe, jetzt hat keiner einen Schreck bekommen. Wenn wir an Disziplin denken, dann steigen in uns eher unerfreuliche Bilder auf: Kinder, die geschlagen werden oder in der Ecke stehen müssen; Soldaten, die stundenlang marschieren und exerzieren; kalte, lieblose Menschen, die andere gnadenlos zusammenstauchen. In dieser Sichtweise ist Disziplin ein Feind, etwas, was uns von einer höheren Macht aufgezwungen wird und uns die Freude am Leben verdirbt. Gerade Menschen, die in ihrer Jugend unter so einer Art von Disziplin aufgewachsen sind, möchten das oft ihren Kindern ersparen.

Aber ist das wirklich alles, was wir zum Thema Disziplin zu sagen haben? Vielleicht haben Sie gestern auch den Artikel gelesen, wie sich in Peine mehrere Schulklassen daran gemacht haben, selbst eine Folge von »Gute Zeiten – schlechte Zeiten« zu drehen. Und auf einmal merkten sie, wie anstrengend das sein kann, bis man eine Szene von 20 Sekunden endlich richtig gedreht hat: immer wieder muß man es proben, bis es endlich ohne Pannen klappt. »Ich will nie Schauspielerin werden« wird ein Mädchen zitiert. Was am Ende so einfach und selbstverständlich aussieht, ist in Wirklichkeit das Ergebnis von langer harter Arbeit – das Ergebnis von Disziplin.

Ganz ähnlich ist es bei Musikern. Bis einer so weit ist, daß er sich in der Sprache der Musik wirklich ausdrücken kann, muß er lange arbeiten. Wenn einer ganz spontan und locker auf einen Einfall reagieren und ihn verwirklichen kann, dann ist das das Ergebnis von Üben, Üben, Üben – von Disziplin. Aber glauben Sie, daß dieser Musiker Disziplin ablehnt, die es ihm doch erlaubt, sich so auszudrücken und vielen Menschen Freude zu machen?

Oder in einer Talkshow, wo die Moderatorin scheinbar locker mit den Gästen plaudert, da steht im Hintergrund ein Team von Leuten, die ihr Tag für Tag zuarbeiten, Ideen sammeln, Witze ausdenken, telefonieren und für jeden Gast, der dann wirklich kommt, neun mögliche Gäste durchchecken, die dann doch nicht kommen. Und das dann eben wirklich Tag für Tag, weil die Show ja täglich gesendet wird. Da kann man nicht mal spontan einen Tag freimachen, wenn man keine Lust hat. Alles, was Hand und Fuß haben soll, braucht Disziplin.

Wir haben neulich Freunde von uns besucht, und die nahmen uns am Sonntag mit zum Gottesdienst in ihre Gemeinde. Ein wichtiger Teil des Gottesdienstes wurde von einer Band bestritten, die sehr ausdrucksstark Lieder zur Ehre Gottes sang. Dazu tanzten vier junge Frauen. Ich bin bei solchen Sachen ja eher skeptisch und habe erstmal das Gefühl: das ist irgend so ein Schnickschnack, den sich jemand ausgedacht hat, weil er unbedingt was ganz Modernes haben will. Aber es war wirklich schön. Die brachten miteinander die Lieder so rüber, daß man die Aussage richtig spürte und verstand, in einer Intensität, wie es pure Worte gar nicht könnten. Und offensichtlich hatten sie kein festes Programm, das sie abgespult hätten, sondern reagierten sehr flexibel auf die Stimmung in der Gemeinde.

Hinterher ist mir klar geworden, was da für eine Arbeit drinsteckt, bis die das so authentisch hinbekamen. Wie lange die miteinander geübt haben müssen, bis sie so flexibel sein konnten. Und dann haben sie wahrscheinlich zusätzlich noch mit einem Ohr darauf geachtet, was ihnen Gott sagte. Und wenn man sie fragen würde, wie sie das so hinkriegen, was würden sie wohl antworten? Sie würden sicher sagen: jahrelange Übung. Für Gott ist das Beste gerade gut genug. Für ihn haben wir immer wieder geprobt und geprobt, bis es uns zu den Ohren raushing – und wahrscheinlich sind sie oft genug sauer auf einen gewesen, der was verpatzt hat, und sie mußten es noch mal von vorn probieren – aber: jetzt sind sie eine Gruppe, die einer ganzen Gemeinde hilft, mit Freude, locker und leicht Gott zu loben. Disziplin.

Wir sind nicht alle Supertalente. Aber eins können wir alle tun: Disziplin entwickeln. Und manchmal werden wir damit sogar jemanden ausstechen, der enorme Begabung hat, aber undiszipliniert ist.

Nichts Gutes kommt auf die Dauer zustande, ohne daß Menschen Dinge tun, die ihnen kurzfristig keinen Spaß machen, die Mühe kosten, die manchmal auch weh tun. Wenn du eine Beziehung aufbauen willst, wenn du Kinder zu glücklichen Menschen erziehen willst, wenn du gute Arbeit leisten willst im Beruf, wenn du Gott besser kennenlernen willst, wenn du ein freundlicherer, geduldigerer, besserer Mensch werden willst – nichts davon geht, ohne daß du heute auf etwas verzichtest oder heute etwas Unangenehmes erträgst, damit du morgen die Früchte ernten kannst.

In den Sprichwörtern wird das so gesagt (20,4):

Im Herbst mag der Faulpelz nicht pflügen; später will er ernten und kann nichts finden.

Wir würden alle am liebsten in einem Schlaraffenland leben, wo uns alles von allein zufliegt; aber die Welt ist nun mal nicht so. In der Welt, in der wir leben, muß man pflügen, wenn man ernten will, und das heißt: wir müssen meistens am Anfang etwas tun, was uns nicht so gefällt, damit wir am Ende das bekommen, was uns gefällt.

Disziplin bedeutet also vor allem: vorausschauende Lebensführung. Wenn die Spanne, auf die wir vorausschauen, nur ein paar Minuten oder eine Stunde oder einen Tag umfaßt, dann werden wir das tun, was uns kurzfristig die meiste Erleichterung verschafft. Wenn wir aber längerfristig denken, dann sehen wir, daß das unterm Strich für uns nicht unbedingt das Beste ist.

Ein Psychiater erzählte in einem Buch von einem Patienten, der Arbeitsstörungen hatte. Er trödelte im Büro und kam nicht voran. Schließlich fragte er seinen Patienten: »Was mögen Sie eigentlich vom Kuchen am liebsten, den Belag oder den Boden?« »Natürlich den Belag« antwortete er. »Und was essen Sie als erstes?« fragte der Psychiater. Wieder war die Antwort: »Natürlich den Belag«. Von den Gewohnheiten beim Kuchenessen kamen sie zu den Arbeitsgewohnheiten, und da stellte es sich heraus, daß der Mann genauso arbeitete, wie er Kuchen aß: in der ersten Stunde im Büro machte er die Dinge, die er interessant fand, und den Rest des Tages verbrachte er damit, sich vor den Dingen zu drücken, die er nicht so gern tat. Die Lösung war natürlich einfach: zuerst eine Stunde lang die unangenehmen Dinge tun und dann den Rest der Arbeitszeit interessanten Dinge widmen.

Natürlich sind die unangenehmen Dinge nicht immer in einer Stunde zu erledigen. Aber es ist schon so, daß wir uns normalerweise hinterher besser fühlen, wenn wir die unangenehmen Dinge als erstes anpacken. Schon deshalb, weil sie oft in Wirklichkeit gar nicht so unangenehm sind. Und auf jeden Fall ist das Vergnügen größer, wenn man zuerst das Unangenehme hinter sich bringt. Deshalb achten kluge Eltern darauf, daß ihre Kinder zuerst die Hausaufgaben hinter sich bringen und sie nicht bis zum Schluß aufschieben. Das bei den Hausaufgaben zu lernen ist wahrscheinlich wichtiger als all das andere, was man möglicherweise bei den Hausaufgaben sonst noch lernt.

Zur vorausschauenden Lebensführung gehört auch, daß man Entscheidungen rechtzeitig trifft und zwar in einem Augenblick, wo man einen klaren Kopf hat. Wann man morgens aufstehen will, das sollte man spätestens am Abend vorher entscheiden. Wenn ich mich erst morgens entscheide, wann ich aufstehen will, dann weiß ich schon, wie meine Entscheidung lauten wird. Und wie lange man Fernsehen will, das sollte man entscheiden, bevor man das Gerät anstellt – wenn man erst davor sitzt, dann sind all die anderen Dinge, die man in dieser Zeit vielleicht sonst tun würde, ganz unwichtig. Erst hinterher merkt man, daß man mit dieser Zeit eigentlich etwas viel schöneres hätte tun können.

Genauso sollte man vor dem ersten Glas wissen, wieviel man trinken wird, und wenn man in einen Laden geht, sollte man ungefähr wissen, wieviel man ausgeben will. Von denen, die abends nicht wissen, in welchem Bett sie morgens aufwachen werden, will ich lieber nicht groß reden. Aber man sollte abends schon wissen, daß man morgens zum Gottesdienst geht, sonst bringt einen schon ein bißchen Regenwetter davon ab.

Wir leben heute leider in einer Umwelt, die mit vielen Tricks versucht, uns von einer disziplinierten Lebensweise abzubringen. Aber klagen hilft nichts – wir müssen vorausschauen, unsere Schwächen einkalkulieren und uns rechtzeitig entscheiden, solange wir noch klar denken können. Und diese Entscheidung dann auch konsequent durchhalten, nach dem Motto: meine Entscheidungen revidiere ich erst wieder, wenn mein Kopf klar ist.

Zur Disziplin gehört Liebe zur Wahrheit. Und zwar in dem Sinn, daß wir uns nicht beschummeln über die Zusammenhänge im Leben, daß wir stattdessen immer besser zu verstehen suchen, wie die Dinge wirklich funktionieren und das berücksichtigen. In den Sprüchen taucht immer wieder der Dummkopf auf, der glaubt, schon alles zu wissen und keine Lust hat, sich auf neue Erfahrungen und Erkenntnisse einzulassen.

Ein verständiger Mensch hungert nach Wissen; ein uneinsichtiger hat nur auf Dummheit Appetit

heißt es da z.B. (15,14). Die ganze Weisheit ist ein Versuch, wirklich zu verstehen, wie es in der Welt läuft, sich den Tatsachen zustellen, anstatt sich an ihnen vorbeizudrücken, und dann entschlossen die Konsequenzen zu ziehen. Es hat keinen Zweck, wenn ich mir einrede, ich könnte irgendetwas Gutes und Bleibendes bewirken ohne Mühe, Anstrengung und auch Schmerz.

Man kann das im Leben Jesu sehr gut beobachten, wie er den Problemen nie ausgewichen ist, wie er keine Abkürzungen gesucht, sondern sich den Dingen gestellt hat, auch wenn sie sehr schmerzlich waren. Als ihm deutlich war, daß es Zeit war, nach Jerusalem zu gehen und in der Auseinandersetzung mit den Priestern dort zu sterben, da schob er es nicht auf die lange Bank, sondern ging mit entschlossenen Schritten dorthin. Seine Jünger wollten nichts davon hören und verschlossen mit Macht Augen und Ohren davor. Und am Abend vor seiner Kreuzigung betete Jesus und entschloß sich noch einmal, den Weg zu gehen, solange sein Denken noch nicht von Druck und Schmerz beeinträchtigt war, und diesen Entschluß hielt er dann durch. Jesus war ein sehr disziplinierter Mensch, und gleichzeitig ein sehr fröhlicher Mensch.

Wer gestern mittag hier am Gemeindehaus vorbeigekommen ist, der hat gesehen, wie draußen auf dem Platz und an der Straße lauter Autos standen. Dazwischen standen die Menschen, die mit diesen Autos gekommen waren: Eltern, die ihre Kinder vom Kinder-Bibel-Morgen abholen wollten. Etwas später strömten dann die Kinder heraus, gingen zu ihren Eltern oder machten sich zu Fuß auf den Nachhauseweg. Als ich mir das ansah, dachte ich daran, daß all diese Kinder groß werden mit vielen Gedanken an Gott und guten Erfahrungen damit, zur Gemeinde zu kommen. Ich bin selbst früher zum Kindergottesdienst gegangen und weiß, wie wichtig das war, daß es immer wieder solche Gelegenheiten gab, wo ich an Gott erinnert wurde und etwas über ihn erfuhr.

Und dann dachte ich an die ganze Arbeit, die es kostet, bis so ein Kinder-Bibel-Morgen vorbereitet ist. Ich lobe mich jetzt nicht selbst, weil das ja ein Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz selbständig macht. Aber wenn die nicht Monat für Monat die Disziplin aufbrächten, sich vorzubereiten, aufzubauen, geduldig zu bleiben, ihr Bestes zu geben, hinterher alles wieder aufzuräumen, diese ganze Zeit und Mühe dafür einzusetzen, dann würden viele Kinder bei uns nicht mit diesen Gedanken und Erfahrungen von Gott aufwachsen. Dann hätten auch viele Erwachsene weniger von ihm gehört. Vielleicht, hoffentlich, bestimmt sind unter den Kindern auch viele, die in fünf oder zehn oder zwanzig Jahren anderen von Jesus erzählen und einmal zu den tragenden Mitgliedern unserer oder anderer Gemeinden gehören werden.

Aber das alles könnte nicht passieren, wenn da nicht Leute wären, die jetzt und heute Mühe und Arbeit auf sich nehmen, damit diese Kinder einen möglichst schönen Vormittag haben. Das gehört zu der Arbeit, die uns Gott nicht abnimmt, die sollen wir tun. Das geht nicht ohne Disziplin. Am Anfang erscheint sie uns fast immer wie ein Feind. Aber am Ende merken wir, wieviel Schönes, Gutes und Befreiendes sie uns gibt.