Disziplin – Gründe dafür und dagegen (Weisheit V)

Predigt am 27. Februar 2000 zu Sprüche 18,9

Am letzten Sonntag habe ich über eine Haltung gepredigt, die sich durch die ganze Weisheit hindurchzieht, eine Haltung, die von den Weisen als bestes Mittel zu einem guten Leben immer wieder empfohlen wird. Es ist eine Art Universalwerkzeug, das jeder braucht, der erfolgreich und glücklich durch die Welt kommen will. Wenn jemand Schiffbruch erleidet, dann liegt der Grund dafür meistens an dieser Stelle.

Die Haltung, um die es geht, ist Disziplin. Und zwar in dem Sinn, daß man sich die Welt nicht zurechtmacht, wie man sie gerne haben möchte, sondern daß man sich an der Realität orientiert. Und die Realität der Welt ist, daß man etwas wirklich Gutes, was Hand und Fuß hat, nicht bekommt ohne Mühe und Arbeit. Man muß etwas investieren, wenn man gewinnen will. Am Ende ist der Gewinn so, daß es sich lohnt, aber bis dahin muß man Durststrecken überstehen, man muß Dinge tun, die keinen Spaß machen, die mühsam oder langweilig sind.

Stellen Sie sich vor, Sie liegen in einem Krankenhausbett und sollen gerade in den Operationssaal gefahren werden, da hören Sie, wie der Chirurg zu seinem Assistenten sagt: »Mensch, mich ödet das an, vor jeder Operation wieder die Hände desinfizieren, diese häßlichen grünen Kittel anziehen, diese ekligen Gummihandschuhe – laß uns heute mal probieren, ob es nicht auch ohne diese eintönigen Prozeduren geht! Warum können wir das nicht alles mal weglassen? Nur heute, ich bin nicht so gut drauf!«

Würden Sie dann nicht vom Operationstisch springen und rufen: »Nein, ich hab’s mir anders überlegt, ich behalte lieber meinen Blinddarm«? Sie haben darauf vertraut, daß der Arzt all diese Regeln einhält, die die Medizin im Lauf jahrhundertelanger Erfahrung und Forschung entwickelt hat. Daß er die Disziplin aufbringt, sich gründlich zu desinfizieren, auch wenn es sicher keine besonders interessante Aufgabe ist, so wie für die meisten von uns wahrscheinlich das Zähneputzen auch keine besonders attraktive Tätigkeit ist. Aber es ist eben nötig.

Wenn Sie nun aber erfahren, daß der Chirurg diese Disziplin nicht aufbringt, dann fürchten Sie zu Recht um Ihr Leben. Wir vertrauen uns am liebsten einem Arzt an, der lange Erfahrung hat, der schon viele solcher Operationen durchgeführt hat und der zuverlässig ist. Einer der schon Hunderte und Tausende von Patienten gesehen hat, der immer wieder geübt hat, der jedes Jahr wieder dazugelernt hat, bis er sich im Bauch eines Menschen so genau auskennt wie wir uns in unserem Garten auskennen. Jedenfalls die Gartenfreunde unter uns.

Wird dieser Arzt die Disziplin als Freund oder Feind ansehen? Er und seine Patienten werden sie als unersetzliches Werkzeug schätzen. Und trotzdem hat Disziplin für viele einen schlechten Beigeschmack, und viele erreichen selbst nur wenig Disziplin. Deshalb möchte ich heute sprechen über Hindernisse der Disziplin und über Faktoren, die sie unterstützen.

Der erste Punkt ist

1. Liebe

Nur wenn wir gelernt haben, etwas zu lieben, dann gibt es auch Personen und Dinge, von denen wir denken, daß sie unserer Disziplin wert sind. Wenn ein Kind sein Haustier wirklich lieb hat, dann wird es lernen, sich um die Bedürfnisse dieses Tieres zu kümmern. Es wird morgens früher aufstehen, um den Hund Gassi zu führen (falls die Eltern ihm das nicht abnehmen), es wird rechtzeitig daran denken, daß der Hamster neues Futter braucht. Und wenn wir einen Menschen liebhaben, dann werden wir uns ganz ähnlich auf seine Bedürfnisse einstellen. Und auch, wenn jemand begeistert ist von seinem ersten Auto, dann wird er ebensoviel Sorgfalt darauf verwenden wie eine Sportlerin, die immer und immer wieder übt, um gut zu sein in der Sportart, die ihr so viel bedeutet.

Wenn aber Menschen nicht gelernt haben zu lieben, dann werden sie es auch schwer haben, Disziplin zu entwickeln. Liebe ist ja gerade deshalb immer auch mit Mühe verbunden, mit Schmerzen verbunden, weil wir uns da auf etwas anderes oder eine andere Person einlassen, die anders ist als wir, die andere Bedürfnisse hat, eine Person, die wir nicht wirklich kontrollieren können.

Wenn jemand als Kind das nicht erlebt hat, wenn er nicht gelernt hat, in stabilen, liebevollen Beziehungen zu leben, in denen man auf den anderen achtet, dann wird er es mit der Disziplin schwer haben. Er kann dann nur schwer nachvollziehen, daß man für die Dinge und Personen, die man liebt, Opfer bringen muß, die sich am Ende auszahlen.

In den Sprichwörtern heißt es (18,9): »Der nachlässige Arbeiter und der mutwillige Zerstörer sind Brüder.« Schlampige Arbeit und mutwilliges Zerstören kommen aus einer Wurzel. Und welche ist das? Wenn Menschen nicht gelernt haben, etwas zu lieben, dann gehen sie nicht sorgfältig mit der Welt um. Dann bringen sie noch nicht mal die Disziplin auf, um ein Beet herumzugehen, nein, sie trampeln mitten hindurch.

Um Disziplin zu entwickeln brauchen wir Ziele, wir brauchen etwas, wofür es sich lohnt, zu leben und sich Mühe zu geben. Wir brauchen etwas, wofür unser Herz schlägt. Wenn wir zufrieden sind mit einem unproblematischen Job, mit ein paar oberflächlichen Bekanntschaften und einem netten Gemeindeleben, mit lauter Sachen, die nur minimalen Einsatz fordern, dann gibt es keinen Grund, sich um Disziplin zu bemühen. Aber wenn wir in der Welt etwas bewirken wollen, wenn wir Spuren hinterlassen wollen, positive Spuren im Leben anderer Menschen, wenn wir Gott von Herzen dienen wollen, dann brauchen wir sie.

Der zweite Punkt, der für Disziplin wichtig ist, ist das

2. Selbstwertgefühl

Wer mit dem Grundgefühl aufgewachsen ist »ich bin ein wertvoller Mensch«, der hat einen unschätzbaren Startvorteil fürs Leben. Wenn Kinder merken, daß sie geschätzt werden, wenn sie sich im Innern wahrhaft geborgen und angenommen fühlen, wenn sie spüren, daß sie ihren Eltern wertvoll sind, dann glauben sie es auch selbst. Eltern geben da im Auftrag Gottes die Botschaft weiter, daß jeder Mensch unendlich wertvoll ist. Wer das mit der Muttermilch eingesogen hat, wer das in seinen ersten Jahren immer wieder gespürt hat, wem das von Anfang an eine Selbstverständlichkeit ist, der hat einen unschätzbaren Startvorteil für alles weitere.

Das Gefühl, wertvoll zu sein, ist wesentlich für die seelische Gesundheit, und es ist ein Grundbaustein der Selbstdisziplin. Es ist ein direktes Produkt elterlicher Liebe und Aufmerksamkeit. Wenn man es nicht von klein auf mit auf den Weg bekommt, ist es extrem schwierig, das als Erwachsener nachzuholen. Wenn man das aber früh gelernt hat, dann werden es auch die Wechselfälle des Lebens nicht wieder zerstören. Und wenn man sich selbst als wertvoll betrachtet, dann geht man auch sorgsam mit sich und seinem Leben um. Wenn ich nichts wert bin, dann achte ich nicht auf meine Zeit, ich achte nicht auf meine Gesundheit, ich achte nicht auf meine Würde, ich lasse andere mit mir machen, was sie wollen, und ich behandele andere genauso rücksichtslos.

In den Sprichwörtern wird immer wieder dazu geraten, Kinder sorgfältig zu erziehen. Das ist ein Zeichen von Wertschätzung: »Bring einem Kind am Anfang seines Lebens gute Gewohnheiten bei, es wird sie auch im Alter nicht vergessen« (21,6).

Ich erlebe oft, daß Eltern schwanken zwischen einem Laufenlassen und Gewährenlassen auf der einen Seite und massiven Überreaktionen wie Anschreien und Schlagen auf der anderen Seite. Einerseits haben Eltern nicht den Nerv, ihre Vorstellungen vom Zusammenleben in der Familie auch verbindlich zu machen. Sie sagen »laß das«, und wenn das kleine Ungeheuer einfach weitermacht, dann sind sie hilflos. Sie geben entnervt auf, und das Kind lernt, daß man Vorschriften folgenlos übertreten darf. Aber dann reißt den Eltern irgendwann der Geduldsfaden, dann brüllen sie, strafen, schlagen und das Kind merkt genau, daß das nicht mit seinem Verhalten zu tun hat, sondern mit den Launen der Eltern. Beide Male orientieren sich Eltern nicht an dem Kind und den Erziehungsnotwendigkeiten, sondern an ihren eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten. Kein Wunder, wenn ein Kind daraus den Schluß zieht, daß es nicht besonders wertvoll sein kann, wenn die Eltern ihm so wenig Sorgfalt zukommen lassen.

Nun noch ein dritter Punkt:

3. Freiwilligkeit und Ausgewogenheit

Bei uns in Deutschland hat es als Reaktion auf die militärische Grundhaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine starke Gegenbewegung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gegeben. 50 Jahre, in denen die Deutschen in Uniformen gesteckt wurden und marschieren lernten, am Ende eben entschlossen in den Untergang marschierten, haben ihre Spuren hinterlassen. Wir müssen erst langsam lernen, was der Unterschied ist zwischen Disziplin einerseits und militärischem Drill und Ordnungsfanatismus andererseits.

Disziplin, so die Sprichwörter der Bibel sie beschreiben, ist etwas Freiwilliges. Sicher wird sie zuerst anerzogen, aber irgendwann muß sie als Eigenes übernommen werden. Dann ist sie mit Liebe und Weisheit gepaart. Deshalb werben die Sprichwörter um die Zustimmung der Jugendlichen (3,1-4): »1 Mein Sohn, vergiß nicht, was ich dir beigebracht habe; behalte meine Anweisungen im Gedächtnis! 2 Dadurch sicherst du dir ein langes, erfülltes Leben. 3 An Liebe und Treue zu anderen soll es bei dir niemals fehlen. Schmücke dich damit wie mit einer Halskette!«

Wenn aber Disziplin immer nur aufgezwungen wird, wenn sie nicht wirklich zum Freund geworden ist, dann wird sie immer eine Feindin bleiben, bestenfalls eine Fremde. Deshalb haben Menschen, die nur äußerlich gedrillt worden sind, so oft irgendeine geheime Ecke voll Unordnung. Sie sagen: immer muß ich funktionieren, wenigstens irgendwo muß ich doch mal ich selbst sein! Sie erfüllen äußerlich bestimmte Anforderungen, aber man merkt, daß es nicht wirklich ihre eigene Sache ist.

Weil Disziplin oft nur äußerlich auferlegt, aber nicht verstanden wird, deshalb können sich viele Menschen das nur als etwas Bedrückendes vorstellen. Deshalb gibt es viele Eltern, die für sich selbst Disziplin haben, die sich aber nicht trauen, das zu einem Erziehungsziel für ihre Kinder zu machen, obwohl sie selbst ein sehr geordnetes und vernünftiges Leben führen. Sie möchten ihren Kindern diesen Zwang ersparen – und es ist klar, dann werden Kinder das auch nicht als etwas Positives sehen können.

Dieses schiefe Bild, daß es um etwas starr von außen auferlegtes geht, steht vielen im Wege. Dabei ist echte Disziplin flexibel. Sie braucht Urteilskraft und Ausgewogenheit. Pünktliches Aufstehen ist wichtig, aber es gibt Situationen, da ist es wichtiger, genug Schlaf zu bekommen. Seinen Zorn zu beherrschen ist wichtig, aber hin und wieder ist es richtig, ihn deutlich zum Ausdruck zu bringen. Seine Arbeit gut zu machen, ist wichtig, aber es gibt auch Situationen, wo man fünfe gerade sein lassen muß. Man muß das Unangenehme beherzt anpacken und doch wissen, wann Zeit zum Feiern ist. Dies alles zu unterscheiden und dann immer noch dafür zu sorgen, daß die Ausnahmen nicht zur Regel werden, das braucht Kompetenz, und das ist gerade das Gegenteil von Sturheit. Bei der Disziplin geht es im Grunde darum, daß wir hellwach den Herausforderungen begegnen, die auf uns zukommen. Daß wir die Realität so sehen, wie sie ist und sie uns nicht ersparen; daß wir keine Abkürzungen und keine dunklen Pfade gehen, die uns am Ende doch nur in Sackgassen bringen.

Disziplin ist angewandte Weisheit. Sie vertraut darauf, daß Gott uns nicht ärgern wollte, als er die Welt schuf, sondern daß er sinnvolle Regeln und Zusammenhänge gegeben hat, die verläßlich sind und auch in der gefallenen Welt am Ende zu unserem Besten dienen. Sie vertraut darauf, daß diese Welt eine Zukunft hat, weil Jesus Christus hier gelebt hat.