Freunde suchen (Weisheit VII)

Predigt am 26. März 2000 zu Sprüche 4,9-12

Was beeinflußt uns am meisten? Es sind die Menschen, die uns am nächsten sind. Die Menschen, zu denen wir Vertrauen haben, mit denen wir häufig reden, und an die wir denken, wenn wir neue Erfahrungen machen: »Was würde XY wohl dazu sagen?« fragen wir uns, und wenn wir uns sicher sind, daß XY das gar nicht gut finden würde, dann lassen wir lieber die Finger davon.

Neben unseren Familienangehörigen sind unsere Freunde die wichtigsten Menschen in unserem Leben. Im Prediger Salomo, einem Buch, das auch zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur gehört, ist das sehr praktisch beschrieben:

9 Zwei sind allemal besser dran als einer allein. Wenn zwei zusammenarbeiten, bringen sie es eher zu etwas. 10 Wenn zwei unterwegs sind und hinfallen, dann helfen sie einander wieder auf die Beine. Aber wer allein geht und hinfällt, ist übel dran, weil niemand ihm helfen kann. 11 Wenn zwei beieinander schlafen, können sie sich gegenseitig wärmen. Aber wie soll einer allein sich warm halten? 12 Ein einzelner Mensch kann leicht überwältigt werden, aber zwei wehren den Überfall ab. Noch besser sind drei; es heißt ja: »Ein Seil aus drei Schnüren reißt nicht so schnell.«

Hier ist tatsächlich so etwas im Blick wie ein kleines Team von Leuten, die miteinander durchs Leben gehen, die sich gegenseitig ermutigen und beraten, die sich helfen, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen.

Vielleicht kann man sagen, daß es ein Geschenk Gottes ist, wenn nicht nur er uns bis in die Tiefe unseres Herzens kennt, wenn nicht nur er Zugang zu unserer Seele hat, wenn nicht nur er unser Vertrauter ist, vor dem wir nichts verbergen, sondern wenn er uns Menschen schenkt, die auch an dieser Vertrautheit teilhaben.

Wenn die Beziehung zu Freunden also ein Stück weit an die Beziehung zu Gott erinnert, dann heißt das auch, daß Freunde für uns eine Herausforderung sein sollten, zu wachsen und zu lernen. Die kluge Wahl unserer Freunde hilft uns, uns in die richtige Richtung zu entwickeln. Wenn wir merken, daß wir in unseren Entscheidungen häufiger danebenliegen, dann sollten wir uns nach Leuten umsehen, die ein gutes Urteilsvermögen haben. Wenn wir freundlicher werden möchten, dann sollten wir Zeit verbringen mit Menschen, die andere liebevoll und gnädig behandeln. Wenn wir Gott näher kommen möchten, dann sollten wir uns Menschen suchen, die da schon weiter sind als wir. All das Gute im Leben unserer Freunde wird auf uns abfärben.

Aber das Gegenteil trifft natürlich genauso zu. Schlechte Freunde können uns enorm zum Negativen hin verändern. Das Gefährliche daran ist, daß das ganz allmählich geht. Könnten wir heute schon sehen, wie wir unter dem Einfluß der falschen Person in – sagen wir mal – drei Jahren aussehen, dann würde uns das vielleicht so erschrecken, daß wir schleunigst das Weite suchen und um diesen Menschen ab sofort einen weiten Bogen machen. Aber wir sehen das ja nicht, sondern die Veränderung geht in winzigen Schritten, und gleichzeitig ändern sich auch unsere Maßstäbe. Was wir früher schlimm gefunden hätten, das erscheint uns jetzt harmlos, interessant oder sogar attraktiv.

Nur alte Bekannte nehmen das vielleicht wahr, weil sie uns in größeren Abständen sehen und dann die Veränderungen deutlicher wahrnehmen. Besonders deutlich ist das manchmal, wenn jemand geheiratet hat. Haben Sie schon mal Sätze wie diese gehört oder gedacht: »Was hat dieser Kerl nur aus ihr gemacht! Früher war sie viel fröhlicher und spontaner, jetzt ist sie ängstlich und eingebildet.« oder: »Diese Frau nimmt ihm sein ganzes Format! Er darf an nichts anders mehr denken als an sie und ihre Wünsche.«?

Die Weisen Israels wußten davon, wie die Menschen in unserer Nähe uns beeinflussen. In den Sprüchen steht das so (13,20): »Wer sich zu Klugen gesellt, wird klug; wer sich mit Dummköpfen befreundet, ist am Ende selbst der Dumme.« Weil die Weisen wußten, wie sehr wir von unseren Freunden geprägt werden, deshalb weisen sie darauf hin, daß wir bei der Auswahl unserer Freunde sorgfältig sein sollten; die falschen Freunde können uns in Schwierigkeiten bringen.

Offensichtlich beeinflussen sich Freunde stärker, als wir denken. Normalerweise haben wir ja in unserem Kopf so etwas wie einen Wächter, eine kritische Instanz, die sortiert, welche Gedanken wir aus unserer Umwelt aufnehmen, und welche nur zum einen Ohr reingehen und zum anderen raus. Wenn wir mit vertrauten Menschen zusammen sind, mit Freunden und anderen, dann macht dieser Wächter Pause. Er weiß: jetzt ist keine Gefahr, wir sind ja unter Freunden, da kann ich mal ein bißchen ausspannen. Wir könnten ja auch gar nicht mit Menschen befreundet sein, wenn wir ihre Worte auch immer so skeptisch prüfen würden wie die Worte von Fremden. Und so tauschen wir dann mit den Menschen, die uns nahestehen, Werte und Überzeugungen aus, Moralvorstellungen, Gewohnheiten und Ziele, Elemente des Lebensstils und überhaupt die ganze Art, wie wir die Welt sehen. Das verläuft nicht geplant oder organisiert, sondern so ganz nebenbei, und meistens merken wir es gar nicht. Die Menschen, die wir zu unseren Freunden rechnen, färben ab auf uns – im Guten wie im Bösen.

Paulus zitiert im ersten Korintherbrief ein Sprichwort, das auch in den Sprüchen stehen könnte. »Macht euch nichts vor!« schreibt er da, »’Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten.’« Er wendet sich damit an alle, die meinen, sie wären stark genug, um auch mit einer problematischen Person eng zusammensein zu können, ohne daß das für sie Folgen hat. Er sagt extra: Macht euch nichts vor! Glaube nicht, daß ausgerechnet für dich diese Regel nicht gilt! Wer denkt, er könnte auf die Dauer eng mit einem problematischen Menschen befreundet sein und trotzdem so bleiben, wie er ist, der lügt sich in die Tasche.

Nach Paulus und den Weisen Israels sollen wir manche Menschen nicht zu nahe an uns heranlassen. Das bedeutet nicht, daß wir jeden Kontakt zu ihnen abbrechen müßten, es bedeutet schon gar nicht, daß Gott den Kontakt mit ihnen abbricht. Wir sollten ihnen freundlich begegnen, ihnen Gutes tun, wo es möglich ist, für sie beten und ihnen, wenn es geht, die Liebe Gottes bezeugen. Aber wir sollten ihnen keinen Zugang zu unseren tiefsten Gefühlen und zu unserer geistlichen Entwicklung geben, und wir sollten es auch nicht zu unserem persönlichen Projekt machen, diesen Menschen doch noch zu verändern. Wer einen Menschen unbedingt verändern will, auch wenn der dazu gar nicht bereit ist, der riskiert es, daß er lauter Kompromisse eingeht, die ihn selbst verändern, und am Ende wird er sich diesem Menschen anpassen und nicht umgekehrt.

Neben dieser klaren, deutlichen Warnung reden die Weisen aber geradezu begeistert davon, was enge Freundschaft im Leben eines Menschen bewirken kann. In 18,24 heißt es etwa: »24 Sogenannte Freunde können dich ruinieren; aber ein echter Freund hält fester zu dir als ein Bruder.« Oder (17,17): »Ein Freund steht allezeit zu dir, auch in Notzeiten hilft er dir wie ein Bruder.« Und, ganz wichtig (27,6): »6 Ein Freund bleibt dein Freund, auch wenn er dir weh tut; ein Feind überfällt dich mit übertrieben vielen Küssen.« Zur Freundschaft gehört auch, daß man sich ein offenes Wort sagen kann, ohne daß einer beleidigt reagiert. Feinde werden Kritisches sagen, um zu verletzen, falsche Freunde werden das Risiko eines offenen Wortes nicht eingehen, aber ein Freund kann etwas sagen, was sonst kein anderer sagen kann.

Das zeigt an, in welche Tiefen Freundschaft hineinreichen sollte. Es geht nicht um einen Freundeskreis, mit dem man hin und wieder feiert, es geht auch nicht um Kollegen und Kolleginnen, mit denen man halt gut auskommen muß auf der Arbeit. Es geht um Vertrautheit, bei der man dem Gegenüber Zugang gibt zu den echten, wichtigen Punkten in der Seele. Wo man die Dinge teilt, die einen wirklich bewegen. Denken Sie daran, es geht um eine Tiefe, wie wir sie sonst nur im Gegenüber zu Gott erreichen. Aber auch ein paar Menschen sollen uns annähernd so vertraut werden.

Immer mal wieder erzählen mir Menschen, wie Bekannte sich von ihnen zurückgezogen haben, wenn sie Unglück erlebt haben und Hilfe am dringendsten gebraucht hätten. Das heißt aber, daß dann meistens diese Freundschaft auch oberflächlich war, selbst wenn sie lange bestanden hat. Ja, es kann sogar sein, daß wir selbst oberflächlich werden, wenn wir nur oberflächliche Beziehungen eingehen. Wenn rings um uns nur Menschen sind, deren Gesprächsthemen sich hauptsächlich um das Wetter, die Gesundheit, Fernsehen und Computerprogramme drehen, dann ist es kein Wunder, wenn wir allmählich vergessen, daß wir eine Seele haben, die sich nach authentischer Begegnung sehnt, und die es braucht, daß wir unsere Gedanken und Gespräche auf etwas richten, das wesentlich größer ist als wir selbst und unser Alltag.

Übrigens versteht es sich nicht von selbst, daß Ehepartner auch Freunde füreinander sind. In anderen Kulturen ist das sogar kaum vorgesehen. Da verbringen die Männer Zeit miteinander, reden, spielen, sind Kameraden und Freunde, und genauso haben die Frauen ihre eigene Welt, in der sie miteinander und mit den Kindern leben, und wirkliche Begegnungen über diese Grenze hinweg sind selten, auch unter Ehepartnern. In unserer Kultur ist das anders, da rechnet man damit, daß es zwischen Männern und Frauen zu echten Begegnungen und Freundschaften kommt. Vieles, was wir unter Liebe verbuchen, trägt in Wirklichkeit auch die Züge tiefer, vertrauter Freundschaft. Aber es ist auch bei uns nicht selbstverständlich, daß Ehepartner einander zu Freunden werden, die ihre tiefsten Gedanken miteinander teilen. Und erst recht ist es nicht selbstverständlich, daß sie es auch bleiben. Jede Freundschaft kann auch erkalten, wenn sie nicht an die Ebenen der Seele heranreicht, wo die echten Entscheidungen fallen, wo sich das abspielt, was uns wirklich bewegt.

Gott hat uns so geschaffen, daß wir mit wirklich wichtigen Dingen nicht allein sein sollten. Natürlich gibt es genügend Bereiche unseres Herzens, die nur er kennt, und andere, die wir nur mit ihm besprechen. Jesus ist wirklich der vertrauenswürdige Freund der Seele, wie es keinen anderen gibt. Kein anderer Mensch wird ihn je ersetzen können, und er bleibt uns auf jeden Fall, auch wenn uns alle Menschen, auf die wir vertraut haben, im Stich lassen sollten.

Aber in seiner Freundlichkeit beschenkt er uns immer wieder mit Menschen, bei denen wir etwas wiederfinden von der Freundschaft, die er uns entgegenbringt. Wir erleben, daß Menschen uns zur Seite stehen; daß sie uns nicht ausnutzen, obwohl sie unsere schwachen Punkte durchaus kennen; daß sie uns nicht verletzen, obwohl wir den Schutzpanzer abgelegt haben; daß sie nicht dauernd daran denken, was wir für sie tun könnten, sondern daß sie uns in unserem Interesse ermutigen, herausfordern und begleiten.

Die Weisen Israels wußten, daß wir unsere Lebensreise in Begleitung erleben sollen. Wir brauchen ein persönliches Team, das sich miteinander auf den Weg macht. Das kommt nicht von selber, danach muß man Ausschau halten. Da muß man Schritte drauf zu machen, da muß man Zeit investieren. Aber dann kann daraus eine der wichtigsten Quellen unserer Freude und Lebensenergie werden.