Gottes Treue zu Juden und Christen

Predigt am 4. August 2002 mit Lukas 19,41-44, 1. Mose 12,1-3 und Römer 11,25-32

41 Als Jesus sich der Stadt Jerusalem näherte und sie vor sich liegen sah, weinte er 42 und sagte: »Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht. 43 Darum kommt jetzt über dich eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall rings um dich aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten einschließen. 44 Sie werden dich und deine Bewohner völlig vernichten und keinen Stein auf dem andern lassen. Denn du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte.«

Jesus weint über Jerusalem, weil die maßgeblichen Entscheidungsträger und in ihrem Schlepptau das Volk den Weg nicht sehen wollen, den er geöffnet hat. Jesus sieht die Zerstörung voraus, die dadurch kommen wird. Das ist eine ganz verhängnisvolle Entscheidung gewesen, dass die jüdischen Eliten damals den Weg Jesu abgelehnt haben und auch das Volk da mit hineingezogen haben. Das hat politisch bedeutet, dass sie sich mangels Alternative 40 Jahre später in das Abenteuer eines Aufstandes gegen die Weltmacht Rom gestürzt haben, und das Ende war ein schreckliches Blutbad, das die römischen Truppen dann in Jerusalem angerichtet haben.

Zeitlich ungefähr in der Mitte zwischen Jesus und der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 diktiert Paulus einen Brief nach Rom. Und darin setzt er sich drei Kapitel (Kap. 9-11) lang mit der Frage auseinander: warum verschließt sich ausgerechnet Israel, das Volk Gottes, für Jesus? Und er sagt: das liegt mir auf dem Herzen – mein Volk, von Gott berufen, damals in Abraham hat er sie gerufen, dass sie sein Volk sein sollten, und wenn sein Sohn kommt, dann erkennen sie ihn nicht, dann verweigern sie sich. Ich würde alles geben, um das zu ändern.

Zur Erinnerung: ganz am Anfang der Bibel wird von Abraham erzählt, im ersten Buch Mose (Kap. 12), gleich nach der Geschichte vom Turm zu Babel, da wird erzählt, wie Gott Abraham beruft:

Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. 2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Da wird einer regelrecht entwurzelt, aus seiner Heimat weggenommen und in ein fremdes Land verpflanzt. Gott nimmt ihn raus aus der Sünden- und Verhängnisgeschichte der Welt, damit er mit ihm eine ganz neue Geschichte anfangen kann. Er verspricht Abraham Segen für sich und seine Nachkommen, und durch ihn soll dieser Segen zu allen Völkern kommen.

D.h., nach der Katastrophe des Turms von Babel entschließt sich Gott zu einem neuen Weg. Er sagt: ich werde jetzt mit einem Volk neu anfangen, und dieses Volk werde ich gleich von Anfang an prägen, damit es ein gutes Erbe weitergeben kann. Und Gott hatte sich das vermutlich so gedacht, dass er an diesem Modell Israel den andern Völkern zeigen kann, wie ein gesegnetes Leben auf den Wegen Gottes aussehen kann. Als Israel zu einem großen Volk geworden war, da sagte er ihnen, was auf sie warten würde, wenn sie so leben würden, wie er es ihnen gesagt hatte (5. Mose 28): Sie würden jedes Jahr hervorragende Ernten einbringen, ihre Lagerhäuser würden überquellen, ihre Kinder würden gedeihen, und in einem Krieg würden die Feinde regelmäßig ihr Heil in der Flucht suchen.

Und das würde schließlich dazu führen, dass die anderen Völker nachdenklich werden. Sie würden kommen und fragen: »wie macht ihr das eigentlich? Immer wenn wir in den Krieg ziehen, werden wir geschlagen. Wir haben immer nur Ärger mit unseren Kindern. Unsere Wirtschaft ist ständig in der Krise, und unsere Leute sterben an schrecklichen Krankheiten. Warum ist das bei euch anders?« Und dann würde Israel antworten: »Ja, wir sind eigentlich ein ganz normales Volk, noch nicht einmal ein besonders großes. Aber seht, wir haben einen großen und guten Gott, der für uns sorgt und uns segnet. Er hat uns hervorragende Lebensregeln gegeben. Solange wir auf ihn hören, werden wir die Probleme der anderen Völker nicht haben.« Und dann würden die anderen Nationen sagen: »Gibt es irgendeinen Weg, wie euer Gott auch unser Gott werden kann? Können wir uns irgendwie euch anschließen? Können wir die Regeln lernen, die euch euer Gott gegeben hat, damit es uns auch so gut geht?«

Das war Gottes Absicht mit Israel. Israel war gedacht als Muster, als Modell, an dem sich andere Völker orientieren könnten. Gott wollte eine sichtbare Alternative hier auf der Erde. Aber es funktionierte nicht.

Es lag nicht an Gott. Nein, das Volk wurde stolz und eingebildet und glaubte, sie seien etwas Besseres. Sie nahmen die Segnungen dankend entgegen, aber sie versagten, wenn es darum ging, Gottes Willen zu tun. Sie verehrten fremde Götter. Gott sandte immer wieder Propheten, um sie an ihre Aufgabe zu erinnern, aber sie blieben ablehnend. Sie kümmerten sich nicht um Gottes Willen und blockierten damit den Segen, den er geben wollte. Jeder von uns hätte irgendwann gesagt: dann eben nicht, dann suche ich mir eben ein anderes Volk. Aber Gott machte es anders: er erhöhte den Einsatz. Er schickte nicht mehr Propheten, sondern seinen Sohn. »Ich werde ihnen nicht mehr nur Botschaften durch fehlbare Menschen schicken«, dachte er, »ich werde ihnen an einem Menschen zeigen, wie es aussieht wenn jemand ganz auf mich hört.« Und er schickte ihnen Jesus.

Wieder das Prinzip des Modells. Jesus, das Modell eines Menschen, wie Gott ihn sich wünscht. Und Jesus versagte nicht, er lebte genau so, wie Gott es wollte, er starb sogar auf dieselbe Art, wie er gelebt hatte. Aber dann geschah das Unglaubliche: sie lehnten diese Modell ab. Unter ihnen lebte der wahre Mensch, und sie wollten ihn nicht.

Aber Gott gab nicht auf. Wieder erhöhte er den Einsatz. Die Ablehnung Jesu in Israel sorgte dafür, dass die Jünger es sich nicht dort in Jerusalem bequem machten, sondern sie wurden unter die Völker verstreut und brachten das Evangelium zu Völkern, die bis dahin noch nichts vom Gott Israels wussten. Überall auf der Welt blühten Gemeinschaften auf, die im Geist Jesu lebten.

Zu denen, die das Evangelium zu den Völkern brachten, gehörte Paulus. Und er steht ratlos davor und fragt sich: wie kann das nur geschehen, dass das Gottesvolk Gott nicht versteht, aber die bisherigen Heiden finden zu Jesus? Und was ihm als Antwort darauf deutlich wird, das schreibt er an die Gemeinde in Rom:

25 Meine Brüder und Schwestern, ich muss euch jetzt mit Gottes geheimnisvollem Plan bekannt machen. Wenn ihr euch auf eure eigene Klugheit verlasst, könnt ihr leicht zu falschen Schlüssen kommen.
Gott hat verfügt, dass ein Großteil des jüdischen Volkes sich gegen die Einladung zum Glauben verhärtet. Aber das gilt nur so lange, bis alle, die er aus den anderen Völkern erwählt hat, den Weg zum Heil gefunden haben. 26 Wenn das geschehen ist, dann wird das ganze Volk Israel gerettet werden, wie es in den Heiligen Schriften vorhergesagt ist: »Vom Zionsberg wird der Retter kommen und alle Auflehnung gegen Gott von den Nachkommen Jakobs nehmen. 27 Dann werde ich ihnen ihre Verfehlungen vergeben, sagt Gott; und so erfüllt sich der Bund, den ich mit ihnen geschlossen habe.«
28 Im Blick auf die Gute Nachricht gilt: Sie sind Gottes Feinde geworden, damit die Botschaft zu euch kommen konnte. Im Blick auf ihre Erwählung gilt: Sie bleiben die von Gott Geliebten, weil sie die Nachkommen der erwählten Väter sind. 29 Denn Gott nimmt seine Gnadengeschenke nicht zurück, und eine einmal ausgesprochene Berufung widerruft er nicht.
30 Ihr aus den anderen Völkern habt Gott früher nicht gehorcht; aber weil sie ungehorsam waren, hat Gott jetzt euch sein Erbarmen geschenkt. 31 Genau entsprechend gehorchen sie Gott jetzt nicht, weil er euch sein Erbarmen schenken wollte; und so werden künftig auch sie Erbarmen finden.
32 Gott hat alle ohne Ausnahme dem Ungehorsam ausgeliefert, weil er sich über alle erbarmen will.

Paulus hat lange überlegt. Er sieht drei Fakten, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen:

  • Israel als ganzes Volk hat Jesus abgelehnt.
  • Viele Menschen aus den anderen Völkern, die Gott bisher nicht kannten, haben durch das Evangelium von Jesus zu Gott gefunden. Und die Gemeinden, die da entstanden sind, die erfüllen jetzt diese Funktion eines Modells, an dem sich andere orientieren.
  • Gott hat immer wieder versprochen, dass er dafür sorgt, dass am Ende auch Israel seine Auflehnung und Ablehnung aufgibt.

Aber durch den Heiligen Geist erkennt Paulus den Zusammenhang dieser Fakten: Gott benutzt gerade die Ablehnung Jesu durch Israel, um das Evangelium in die ganze Welt zu bringen. Und wenn das geschehen ist, dann wird der Effekt gerade andersrum laufen. Dann werden die Gemeinden ein Modell für Israel sein. Dann wird Israel die Jesusleute in den Völkern sehen, und sie werden sehen, wie diese Gemeinden dafür sorgen, dass ihre Völker gesegnet werden, und sie werden fragen: »wie kommt es, dass der Segen Gottes so deutlich über euch liegt?« Und die Antwort wird sein: »Das müsstet ihr doch am besten wissen – es liegt an Jesus von Nazareth, der zu euch gehört.« Und dann, so hofft Paulus, wird Israel seine Entscheidung gegen Jesus noch einmal überdenken und zu Gott zurückkehren.

Denn das ist für Paulus unvorstellbar, dass Gott den einmal geschlossenen Bund mit Israel aufgibt und die Berufung Israels zurückzieht. Das macht Gott nie. Stattdessen erhöht Gott den Einsatz, er enthüllt immer neue Dimensionen.

Und nun ist die Geschichte weitergegangen. Die Gemeinden der Jesusleute verbreiteten sich in der ganzen Welt, sie erreichten die Herzen der Menschen, und auch mit Gewalt und Tod konnten die römischen Kaiser ihre Ausbreitung nicht verhindern. Als sie sich gar nicht mehr dagegen wehren konnten, machten sie es anders: sie erkannten das Christentum an, machten die Gemeinden zur Staatskirche und bekamen sie so unter Kontrolle. Und da wurde aus den Gemeinden Jesu die von oben kontrollierte Religionsinstitution, und die Menschen kamen nicht mehr aus Glauben dazu, sondern weil es alle taten und weil es für die Karriere gut war. Am Ende war die Kirche Jesu so unterwandert und umgedreht, dass die abendländische Christenheit zu Kreuzzügen aufbrach und in Jerusalem ein schreckliches Blutbad anrichtete, unter Moslems und Juden. Die Gewalt und die Werte der Welt hatten die Kirche missioniert, nicht umgekehrt. Viel weiter weg von dem, was Jesus wollte, kann man gar nicht sein. Und diese von den politischen Machthabern kontrollierte Kirche konnte natürlich nicht auf Juden anziehend wirken, im Gegenteil, mit jedem neuen Judenmord stärkte sie die Ablehnung Jesu durch Israel. Am Ende dieses Weges stand die Vernichtung eines Drittels des jüdischen Volkes durch das nationalsozialistische Deutschland.

Und was bedeutet diese lange und verwickelte Geschichte für uns heute? Wir leben in einer Zeit, in der die Gemeinde befreit worden ist von den Fesseln der Staatskirche und sich langsam auch von den falschen Werten befreit, die sie in dieser Zeit unterwandert haben. Der Heilige Geist gewinnt wieder mehr Raum in der Kirche Jesu. Gott arbeitet nur manchmal damit, dass er Menschen straft und erschreckt und verurteilt, am liebsten arbeitet er mit positiven Modellen.

Und es ist unser Vorrecht, dass wir da dabeisein und das wieder entdecken können: eine Gemeinde, die nicht von fremden Werten und Personen kontrolliert wird, sondern eine Gemeinde, die ein Platz ist, wo man Gott finden kann und wo der heilige Geist Menschen beeinflusst und ihnen zeigt, wie sie gesegnet leben können.

Und es könnte sein, dass auch diesmal Gott auf das menschliche Versagen so antwortet, dass er den Einsatz erhöht: weil wir so lange den Einfluss der Welt und der Macht in der Kirche hatten, deshalb kennen wir jetzt auch die Welt und die Macht viel besser. Da gibt es ganz viele Verbindungswege, die sind nur oft in der falschen Richtung benutzt worden. Aber wenn jetzt der Heilige Geist wieder mehr Raum hat in der Christenheit, dann kann sich die Richtung auch wieder umkehren. Dann kann Gott durch diese ganzen Verbindungswege auch noch ganz anders die Menschen und Institutionen erreichen.

Und vielleicht ist das ja der Weg, wie es schließlich doch noch zu einer positiven Begegnung von Israel mit Jesus Christus kommen kann. Die Juden sind nach allem, was sie mit Christen erlebt haben, extrem skeptisch gegenüber christlichen Worten. Sie werden nur noch auf durch und durch authentisches christliches Leben reagieren. Und davon sind wir noch weit entfernt. Trotzdem brauchen sie gerade in der politischen Sackgasse, in die sich Israel zur Zeit hineinmanövriert, nötiger als je zuvor die Botschaft Jesu. Aber solange wir etwa die Bergpredigt Jesu selbst kaum leben, wird Israel sie jedenfalls von uns nicht annehmen. Authentisch in der Kraft des Geistes Jesu zu leben, das wiederzuentdecken, das ist unsere Aufgabe in dieser Zeit des Übergangs. Wie lange das noch dauert, das kann niemand sagen.

Aber auch wenn wir viele Zusammenhänge im Moment nur andeutungsweise erkennen, eins steht fest: Gott nimmt seine Gnadengeschenke nicht zurück, und eine einmal ausgesprochene Berufung widerruft er nicht. Nicht bei den Juden und nicht bei den Christen. Es ist das Erstaunliche, dass Gott sich von all den Fehlschlägen und Enttäuschungen durch Juden und Heiden nicht von seinem Ziel abbringen lässt. Jedes Mal, wenn Menschen versagen, erhöht er den Einsatz. Jedes Mal nimmt er Sünde und Irrwege von Menschen zum Anlass, die Reichweite seines Handelns hier auf der Erde auszudehnen und auch die Tiefe, die Intensität zu erhöhen. Er benutzt die Irrwege Israels und der Christenheit, um beide an einen Punkt zu bringen, wo sie nichts anderes mehr haben, auf das sie sich verlassen können, als den Geist Jesu. Wie oft er dazu wohl noch den Einsatz erhöhen muss? Das brauchen wir nicht zu wissen. Es reicht, wenn wir in unserer Generation und an unserem Platz in der Welt unserer Berufung treu sind.

Gott übersieht das Ganze und wird es schließlich zu einem guten Ende führen. Er kann hundert Mal enttäuscht werden, aber am Ende wird er sein Ziel erreichen.