Fraktionen im Gottesvolk und ihre Konflikte

Predigt am 27. Juli 2008 zu Römer 11,25-32

25  Ich möchte euch, liebe Geschwister, über das Geheimnis ´der Absichten Gottes mit Israel` nicht im Unklaren lassen, damit ihr nicht in vermeintlicher Klugheit aus der gegenwärtigen Verhärtung Israels falsche Schlüsse zieht. Es stimmt, dass ein Teil von Israel sich verhärtet hat, aber das wird nur so lange dauern, bis die volle Zahl von Menschen aus den anderen Völkern zum Glauben gekommen ist. 26  Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, wird ganz Israel gerettet werden. Es heißt ja in der Schrift: »Aus Zion wird der Retter kommen, der ´die Nachkommen` Jakobs von all ihrer Gottlosigkeit befreien wird. 27  Denn das ist der Bund, den ich mit ihnen schließen werde, ´sagt der Herr`:Ich werde ihnen ´die Last` ihrer Sünden abnehmen.« 28 Ihre Einstellung zum Evangelium macht sie zu Feinden Gottes, und das kommt euch zugute. Andererseits folgt aus der Wahl, die Gott getroffen hat, dass sie von ihm geliebt sind. Er hat ja ihre Stammväter erwählt, 29  und wenn Gott in seiner Gnade Gaben gibt oder jemand beruft, macht er das nicht rückgängig. 30  In der Vergangenheit wart ihr es, die Gott nicht gehorcht hatten, und durch den Ungehorsam Israels ist es dazu gekommen, dass ihr jetzt sein Erbarmen erfahren habt. 31  Umgekehrt sind sie es, die gegenwärtig Gott ungehorsam sind, und dass ihr dadurch sein Erbarmen kennen gelernt habt, soll dazu führen, dass schließlich auch sie sein Erbarmen erfahren. 32  So hat Gott alle ohne Ausnahme zu Gefangenen ihres Ungehorsams werden lassen, weil er allen sein Erbarmen erweisen will.

In diesem Teil des Römerbriefes geht es um Konflikte zwischen zwei Flügeln des Gottesvolkes, den Juden und den Menschen aus den nichtjüdischen Völkern, die erst durch Jesus und seine Jünger den Gott Israels kennengelernt haben. Konflikte zwischen nahe Verwandten sind manchmal besonders heftig, gerade weil man sich so gut kennt.

Und die meisten würden dazu spontan sagen: das ist gar nicht gut, man sollte sich doch in einer Familie zusammensetzen und sich vertragen, und erst recht in der Familie Gottes sollte das so sein. Und auch Paulus wünscht sich das eigentlich, dass da Einigkeit herrscht, und er schreibt darüber drei Kapitel im Römerbrief. Aber als er am Ende dieser Kapitel ist, da klingt es schon ein bisschen anders, und das haben wir gerade gehört. Paulus tröstet sich damit, dass Gott diese unheimliche Dynamik, die durch solche Konflikte entsteht, für seine Ziele einsetzen kann.

Denn es wäre ja schon in normalen Familien eigentlich gar nicht gut, wenn die Harmonie zu groß ist. Die Kinder müssen es doch anders machen als ihre Eltern, sonst würde man ja die Irrtümer und Fehler auf ewig weitergeben. Klar, Kinder machen es nicht automatisch besser als ihre Eltern, aber ohne Auseinandersetzungen und Spannungen gibt es gar keine Chance, dass sich alte Fehler irgendwann auch mal erledigen. Und weil alle fehlbare Menschen sind, deshalb kracht es dann auch und es tut manchmal weh, und Eltern machen sich Sorgen, was aus dem Nachwuchs werden soll, aber wenn man dann zwanzig Jahre später fragt, was aus den Kindern geworden ist, dann bekommt man stolz die Fotos von den Enkeln gezeigt und die Eltern haben schon fast vergessen, dass sie sich früher in schlaflosen Nächten gefragt haben: mein Gott, was soll aus dem Jungen bloß werden?

Und ganz genauso zeigen Konflikte im Gottesvolk, dass es da doch anscheinend Leute gibt, die mit Leidenschaft und heißem Herzen dabei sind, Menschen, denen etwas wichtig ist, die sich nicht mit dem Status Quo abfinden, weil sie etwas Besseres gefunden haben und deshalb nicht weise und abgeklärt sagen können: ja, alle haben irgendwie recht! Ich kann alle verstehen! Wir wollen uns doch nicht streiten und unsere schöne Einheit riskieren!

Ich habe neulich von einem Religionssoziologen gelesen, der viele verschiedene Kirchen untersucht hat, und der ist zu dem Ergebnis gekommen: wenn Kirchen auf dem absteigenden Ast sind, wenn sie alt und müde geworden sind, dann möchten sie gerne Einheit und Harmonie. Junge, dynamische Bewegungen sind anders: die kümmern sich gar nicht groß um Einheit, sondern machen einfach ihr Ding, das sie als richtig erkannt haben, und damit bewegen sie viel mehr.

Und so kommt Paulus am Ende seines Nachdenkens darauf, dass Gott eben auch durch die Konflikte im Gottesvolk seine Sache in der Welt voranbringen kann. Dass er diese gewaltige Energie für sein Reich nutzen kann.

Da sind einmal die Juden, das alte Gottesvolk. Durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch haben sie mit Gott gelebt, haben auf ihn gehört und haben sich ihm widersetzt und haben zu ihm zurückgefunden und sind immer stärker von der Erwartung geprägt worden: ja, Gott wird diese Welt noch einmal erneuern, es wird noch einmal ganz anders werden. Gott wird kommen und diese Welt voller Ungerechtigkeit und Schmerzen heilen. Und sie hielten an der Erwartung fest, sie wussten: das kann noch nicht alles gewesen sein. Bis dahin verehrten sie Gott im Tempel und in ihren Gebeten und warteten darauf, dass sein Tag endlich käme.

Und dann, nach langer Vorbereitung, als endlich alles bereit war, als die Menschen so weit waren, dass sie verstehen konnten, da kam Jesus, und er heilte tatsächlich die Welt – überall da, wo er hin kam. Das war nicht mehr nur ein Festhalten an der Erwartung und an der Hoffnung, nicht nur eine Sehnsucht nach etwas, was noch einmal kommen sollte, sondern das war schon die Sache selbst: ein neues, gelebtes Leben, die neue Welt wurde schon Wirklichkeit, wenn auch nur überall da, wo Jesus hin kam. Er lebte so, wie Menschen leben sollten. Deswegen hatte er ein lockeres Verhältnis zum Tempel und zu den religiösen Traditionen, weil er diese Zeichen und Hinweise gar nicht mehr brauchte. Er war ja das Original. Bei ihm musste man nicht mehr hoffen oder sich erinnern, sondern bei ihm hatte man schon das neue Leben. Worauf die ganze Geschichte Israels zugelaufen war, das war jetzt Gegenwart.

Aber dann passierte das Unglück: das alte Gottesvolk verschloss vor dieser neuen Lage die Augen. Nicht so sehr die einfachen Menschen, die waren ja fast alle von Jesus begeistert, sondern die Führungsschicht, die um ihren Einfluss fürchtete, die sagte Nein. Und es ist für Menschen immer ganz schwer, sich von ihren Führern abzugrenzen. Die Menschen schimpfen und murren zwar über die Politiker, aber am Ende folgen sie dann doch meist dem Leitungspersonal.

Das Volk Israel hatte sich anscheinend so lange an das Warten gewöhnt, sie hatten sich so lange damit abgefunden, dass sie nur religiösen Ersatz hatten, und als nun das Ende dieser Zeit kam und das neue Leben selbst seinen Auftritt hatte, da schafften sie es nicht, umzuschwenken und diese neue Zeit zu realisieren. Sie verschlossen sich und gingen als ganzes Volk diesen neuen Weg Gottes nicht mehr mit.

Aber da gab es auch die anderen: diejenigen, die das anders sahen und sich an Jesus orientierten. Die gerieten deshalb in die Isolation, manchmal wurden sie sogar angefeindet. Und je mehr sie an den Rand gedrängt wurden, um so öfter schauten sie über den Rand hinaus und entdeckten außerhalb des Gottesvolkes Menschen, die dieser neuen Jesus-Erfahrung offen und interessiert gegenüber standen. Menschen, die nicht von dieser langen Vergangenheit belastet waren, sondern unbefangen und neugierig die alternative Lebensart anschauten, die ihnen da begegnete. Und die Folge war, dass auch viele Menschen aus den nichtjüdischen Völkern Christen wurden und so zum Gottesvolk dazu stießen. Und über viele Jahrhunderte haben Christen und Juden eng beieinander gelebt und es hat viel Austausch zwischen ihnen gegeben. Nun gut, und es hat auch öfter mal gekracht, weil die verschiedenen Flügel sich in vielen Dingen nicht einig waren und sich auch auseinander entwickelt haben.

Aber sollte man sich wünschen, dass diese ganzen anderen nicht hätten dazukommen sollen? Nein, Gott wollte doch die ganze Welt erreichen und nicht nur ein Volk. Und so denkt Paulus darüber nach, wie das Ganze wohl aus Gottes Perspektive aussieht.

Und er kommt zu dem Ergebnis, dass Gott diese ganze Dynamik und auch die Konflikte nutzt, um auf jede Weise sein Reich voranzubringen. Er arbeitet natürlich lieber mit unserer Einsicht zusammen als mit unserer Verblendung, und es ist nicht egal, ob wir uns stur stellen oder auf ihn hören. Aber er kann auch unsere Verhärtung für seinen Weg durch die Welt nutzen. Dass Israel sich damals nicht von Jesus hat überzeugen lassen, das hat dafür gesorgt, dass auch die anderen Völker mit dem Evangelium in Berührung gekommen sind. Und andersherum hofft Paulus, dass auch die Skeptiker schließlich noch überzeugt werden, wenn es genügend Menschen in der Welt gibt, die dieses neue Leben praktizieren, das Jesus gebracht hat.

Es gibt heute so viele Menschen, die sich nicht mehr von religiösen Wahrheiten überzeugen lassen werden, sondern vielleicht nur noch von realem Leben. Da gehört Israel zu, aber auch viele unserer Zeitgenossen. Menschen haben so oft religiöse Wahrheiten präsentiert bekommen, und dann zeigte es sich, dass es hinter den Kulissen ganz anders aussah, da sind die Menschen einfach misstrauisch geworden. Und ganz besonders Israel hat von den Christen, als sie dann zur Macht gekommen waren, so viel erleiden müssen, bis hin zum Holocaust im letzten Jahrhundert, die werden sich nicht von schönen Worten überzeugen lassen, sondern die werden aus gutem Grund sehr misstrauisch sein und genau fragen: hat sich da wirklich was verändert? Oder hat da einfach nur der Anstrich gewechselt?

Und so hat Gott im Lauf der Zeit dafür gesorgt, dass wir heute mindestens in Europa und Amerika an einem Punkt stehen, wo Menschen nur noch aufmerksam werden, wenn sie einem ganz neuen Leben begegnen. Und damit ist nicht gemeint, dass Leute sagen: ich bin ein guter Christ, denn ich richte mich nach den Geboten, ich habe noch keinen umgebracht, ich klaue keine Fahrräder und meinem Ehepartner bin ich auch fast immer treu gewesen. Es hat wohl auch bei uns Zeiten gegeben, da war das nicht selbstverständlich, aber das hat sich inzwischen durch das Christentum geändert. Es gibt Gegenden in der Welt, da ist das immer noch nicht selbstverständlich. Kriege und Bürgerkriege – da sind Menschen oft froh, wenn sie Nachbarn haben, vor denen sie sich nicht fürchten müssen. Aber heute hier bei uns findet es keiner besonders aufregend, wenn Leute ehrlich sind und ihre Nachbarn nicht erschlagen.

Nein, heute hier bei uns werden Menschen höchstens aufmerksam, wenn ein Leben wirklich runderneuert ist, wenn davon was ausstrahlt, wenn sich da eine deutliche Alternative zeigt zu dem, was alle tun. Menschen schauen hin, wenn einer sich den scheinbar unausweichlichen Sachzwängen widersetzt, wenn Menschen nicht kapitulieren vor scheinbar übermächtigen Institutionen. Wenn Heilung geschieht, wo vorher alle gesagt haben: da kann man nichts machen. Und sogar wenn einer Worte findet, die echt sind und Hoffnung geben und etwas von echtem Leben in sich tragen. Das sind Momente, wo die Menschen manchmal etwas merken. Immer noch skeptisch, weil sie schon so oft enttäuscht worden sind, aber immerhin.

Gott hat uns auf verschlungenen Wegen in eine Lage gebracht, die wieder sehr an die Anfangszeit des Christentums erinnert: damals konnten sich die Christen nicht auf gesellschaftliche Stellung oder Einfluss verlassen, sondern sie konnten nur auf die Kraft des neuen Lebens vertrauen, das sie durch Jesus bekamen. Gott hat uns heute in eine Lage gebracht, wo wir das wieder entdecken müssen, wenn Menschen einen Zugang zum Glauben finden sollen.

So führt Gott sein Volk auch auf krummen und manchmal schmerzhaften Wegen. Er würde lieber mit unserer Klarheit und Liebe zusammenarbeiten, aber auch Verhärtung und Blindheit machen ihn nicht ratlos. Auch unsere ganz persönlichen Kämpfe und Konflikte kann er in seinen Weg durch die Welt einbauen. Und so sollten wir im Großem wie im Kleinen nicht so sehr darum bitten, dass uns die harten Situationen erspart bleiben. Sondern wir sollten erbitten, dass es uns alles zum Besten dient und dass am Ende auch das ein Mosaikstein sein möge, mit dem Gott seine neue Welt baut.