Endlich von Gott reden – das Selbstverständliche aussprechen

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 19. Januar 2003 zu Römer 1,19-23

Im Gottesdienst ging voran eine Theaterszene, in der zwei Frauen im Fitnesszentrum sehr vorsichtig über Gott ins Gespräch kamen.

19 Was Menschen von Gott wissen können, ist ihnen bekannt. Gott selbst hat ihnen dieses Wissen zugänglich gemacht. 20 Weil Gott die Welt geschaffen hat, können die Menschen sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und göttliche Majestät mit ihrem Verstand an seinen Schöpfungswerken wahrnehmen.
Sie haben also keine Entschuldigung. 21 Obwohl sie Gott kannten, ehrten sie ihn nicht als Gott und dankten ihm nicht. Ihre Gedanken liefen ins Leere, und in ihren unverständigen Herzen wurde es finster. 22 Sie gaben sich für besonders gescheit aus und wurden dabei zu Narren: 23 An die Stelle des ewigen Gottes in seiner Herrlichkeit setzten sie Bilder von sterblichen Menschen und von Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren.

Gott ist der Selbstverständliche. Eigentlich müsste jeder einen selbstverständlichen Zugang dazu haben. Gott spricht zu uns. Er spricht zu uns durch seine Schöpfung. Es ist wie mit einem neuen Haus, an dem wir vorbeigehen, und wenn wir es anschauen, dann sagt es uns etwas über den Besitzer: hat er es lieblos und billig irgendwie zusammengestoppelt und hingestellt? Oder hat er sich Mühe gegeben und Fantasie investiert, um etwas Schönes zu schaffen? Wollte er mit einem Objekt protzen, das vor allem die teueren Baumaterialien herausstellt? Oder hat er Rücksicht darauf genommen, dass seine individuelle Note auch mit der Umgebung und den Nachbarhäusern zusammenpasst?«»

So hat Gott uns vor seine Schöpfung gestellt, nein: mitten hinein, und dann hat er gesagt: »schau dich um, es ist alles für dich! Jede Blume zeigt meine Freude an der Schönheit, das gewaltige Meer zeigt meine Größe und Herrlichkeit, der Horizont erinnert euch daran, dass es noch viel mehr gibt, als das, was ihr heute seht und erlebt. Und die vielen Menschen zeigen meine Freude an Gedanken und Gefühlen, an Musik und Liebe und Beziehungen. Alles das soll euch ein Zeichen sein, an dem ihr mein Wesen ablesen sollt und meine Gedanken verstehen könnt.« Es ist das Selbstverständlichste von der Welt, überall auf die guten Spuren Gottes zu stoßen.

So war es jedenfalls am Anfang. Aber dann trat das ein, was Paulus beschreibt: die menschlichen Gedanken verfinsterten sich und verwirrten sich. Und statt dass sie in den Werken des Schöpfers den Schöpfer selbst erkannten, vergötterten sie die Erscheinungen. Gott ist mächtig und groß, aber wenn Menschen Macht und Größe vergöttern, dann führt das zu Gewalt und Krieg. Gott liebt die Fülle, aber wenn Menschen seine Güter und Gaben von ihm abtrennen, dann vergöttern sie Reichtum und Besitz und das Resultat ist Habgier, Hunger und Armut. Gott liebt Schönheit, aber wenn Menschen nicht mehr verstehen, dass Schönheit in Gott ihre Quelle hat, dann wird daraus ein Schönheitsdiktat, das dazu führt, dass am Ende trotz aller kosmetischen Bemühungen keiner mehr mit seinem Aussehen zufrieden ist. Und am Ende wird dann die Natur ein Feind, die Tiere werden zur Gefahr, ein Fluss wird zum Gegner, der sich rächt, weil man ihn in ein Korsett gezwungen hat, das nicht zu ihm passt. Und die andere Menschen sind keine Bereicherung, sondern werden zur Gefahr, besonders, wenn sie anders sind. Und manchmal sind sie es ja wirklich, das ist das Schlimme.

Jesus ist gekommen, um das wieder zurechtzurücken. Jesus sollte Gottes wirkliches Bild zurück auf die Erde bringen, und tatsächlich hat dieses authentische Bild Gottes eine enorme Kraft entfaltet, hat Menschen angezogen und bewegt. Da war um Jesus herum wieder die heile Schöpfung da, und man konnte Gott wieder ganz selbstverständlich erkennen an den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel.

Aber Gottes Feind bemüht sich, auch dieses Bild wieder zu verwischen und zu entstellen. Und deswegen bringt er Menschen dazu, im Namen Jesus genau das Gegenteil von dem zu tun, wofür Jesus steht. Deswegen musste die Erinnerung an Kreuzzüge, Inquisition und Dreißigjährigen Krieg heute mit in den Gottesdienst, so weh diese Erinnerung auch tut. Aber wir müssen verstehen: nicht überall, wo Jesus draufsteht, ist auch Jesus drin. Und deswegen sind die Menschen heute skeptisch gegenüber dem Christentum, aufgrund von Erfahrungen, die sie wirklich gemacht haben. Dass sie nicht verstehen, wie das alles zusammenhängt, steht auf einem andern Blatt. Aber die Erfahrungen sind da, und sie reden mit, durch Generationen hindurch.

Und das ist es, was uns blockiert, wenn wir von Gott reden wollen. Das liegt nicht daran, dass Gott unsichtbar wäre oder dass die Bibel nicht glaubhaft sei und ähnliches. Wenn man sieht, was Menschen sonst alles glauben an Horoskopen, an kosmischen Energieflüssen, oder in der Politik oder in der Statistik, dann finde ich das Christentum wesentlich vernünftiger. Nein, es ist diese abendländische Erfahrung: nicht überall, wo Jesus draufsteht, ist auch Jesus drin.

Und das bedeutet, dass wir wirklich genau gucken müssen, damit wir den echten Jesus unter die Leute bringen. Denn wer einmal enttäuscht worden ist, der ist in Zukunft sehr misstrauisch. Und wir müssen deshalb genau schauen, ob wir nicht in versteckter Form selbst noch etwas von diesem Erbe der Gewalt- und Staatskirche in uns tragen. Immerhin sind im Mittelalter wichtige Denkvoraussetzungen gelegt worden, da hat es theologische Weichenstellungen gegeben, die bis heute nachwirken.

Kann man sagen, was wir vermeiden müssen? Da schreiben natürlich Leute dicke Bücher drüber. Aber wenn ich es auf einen Punkt bringen soll, dann würde ich sagen: Die Gewaltkirche beginnt immer da, wo Menschen ihre Erfahrungen ausgeredet werden, und ihnen stattdessen ein dogmatisches Gedankengebäude aufgezwungen wird. Auch im Mittelalter machten Menschen selbstverständlich Erfahrungen mit Gott. Aber die passten nicht in das kirchliche Lehrgebäude hinein. Und schon waren sie Ketzer und im Fadenkreuz der Inquisition.

Verstehen Sie, unsere Erfahrungen sollen ja durch die Begegnung mit der Bibel geklärt und auch korrigiert werden, aber das muss durch einen Prozess hindurch geschehen, dass kann nicht von außen aufgezwungen werden. Man kann das deutlich machen am klassischen Punkt, an den Leute denken, wenn von Moral die Rede ist, am Beispiel der Sexualität. Da dekretieren Leute die Regeln, nach denen Sexualität zu funktionieren hat, und die Regeln können sich oft auch auf die Bibel berufen. Aber Liebe ist viel mehr als die Regeln und Verbote, an die Christen immer gleich denken. Und in der Bibel, im Alten Testament, findet sich eben zum Glück auch dieses wunderbare Hohe Lied mit Liebesliedern voller Begeisterung und Schmerz und Freude und voll mit ungezügeltem Begehren, wo die beiden sich darauf freuen, die Nacht gemeinsam in den Weinbergen zu verbringen, und die jüdischen und christlichen Ausleger haben dann immer schnell dazugesagt, dass die natürlich verheiratet waren, aber in der Bibel steht davon nichts.

Natürlich muss es auch in diesem Bereich Regeln geben, weil man sich gerade da gegenseitig so wehtun kann. Aber wer da andere belehren will, der muss erst hindurchgehen durch diese herrlichen und schrecklichen Erfahrungen der Liebe, und dann kann er denen, die das noch vor sich haben, ein paar erprobte Hinweise geben, wie sie die schlimmsten Schäden vermeiden.

Theologie und Regeln sind nicht die Wirklichkeit, und sie berücksichtigen die Wirklichkeit immer nur teilweise. Deswegen ist die Bibel auch kein Lehrbuch der Dogmatik, sondern ein Buch voller lebendiger Geschichten, und jede Generation entdeckt wieder eine neue Seite darin. Das ist das Großartige, dass Gott uns seinen Willen in einem lebendigen Buch gegeben hat, und auch in zweitausend Jahren werden Menschen noch etwas ganz Neues darin entdecken.

Und vorhin in der Eingangsszene, die Linda, die konnte ihrer Trimmkollegin deshalb nahe kommen, weil sie ihr und sich selbst erst einmal die Erfahrungen zugestanden hat, die sie gemacht haben. Wenn die geantwortet hätte: »hör mal, als gute Mutter darf man nicht so über seine Kinder reden, Gott hat uns die doch gegeben, damit wir Freude daran haben, dann kannst du doch nicht sagen, ‚die bringen mich noch mal ins Irrenhaus‘!« Glauben Sie, die hätte mit der Linda das nächste Mal wieder gesprochen? Die hätte sich einen Platz ganz hinten beim Seilspringen gesucht, nur um nicht wieder neben dieser blöden Christin zu sitzen, die einen auch noch fertig macht, wenn es einem sowieso schon so schlecht geht.

Aber weil sie diese Erfahrungen zugelassen hat und nicht dogmatisch wegdefiniert hat, deswegen konnte die andere neugierig werden und fragen: kennst du vielleicht einen Weg, der mir auch helfen kann?

Deswegen liegt da der Schlüssel: dass wir lernen, bei uns und anderen mit Gott an die wirklichen Erfahrungen heranzugehen, und nicht vorher zu dekretieren, was dabei herauskommen muss. Wer sich nicht auf dieses Wagnis einlässt, der wird nicht miterleben, wie Gottes Kraft Situationen, Menschen und Erfahrungen verwandelt. Aber wer bereit ist, sich mit Gottes Hilfe der Wirklichkeit zu stellen, so wie sie ist, bei sich und anderen, der wird das Heil Gottes sehen. Wer bereit ist, den unübersichtlichen Weg zu gehen, bei dem man nicht weiß, was hinter der nächsten Biegung auf einen wartet, wo man keine eindeutigen Landkarten hat, sondern bloß die kurzen Reisebeschreibungen von Leuten, die vor uns diese Straße gegangen sind, der geht den Weg des Lebens.

Die christlichen Ritter, die nach Jerusalem zogen, um dort die angeblichen Feinde der Christenheit niederzumetzeln, die haben nicht den Glauben gehabt, dass Gottes Evangelium auf seine Weise die Welt erobern wird. Hätten sie dieses Vertrauen gehabt, hätten sie Wunder erleben können und Freundschaft schließen können. Franz von Assisi ist damals zu Fuß und ohne Waffen nach Ägypten gekommen und hat sich mit dem Sultan angefreundet und ihm seinen Glauben bezeugt. Nur ging das alles wieder den Bach runter, wenn die Kreuzfahrer wieder die nächste Stadt massakriert hatten. Aber da sind Türen aufgegangen, weil einer sich auf die Erfahrung einließ, dass man auch mit einem Heiden eine respektvolle und freundschaftliche Beziehung haben kann – was nach damaliger Theologie eigentlich völlig ausgeschlossen war.

Gott ist der Lebendige, der mit uns mitgeht und unsere Erfahrungen kennt und Jesus mitten hinein sendet, damit er uns hilft, in all unseren schwierigen Erfahrungen den Weg Gottes mit uns zu finden. Dieser lebendige Gott ist der Selbstverständliche, denn wenn Menschen ihm authentisch begegnen, dann erkennen sie in ihm ganz selbstverständlich die Heimat, in die sie immer wollten. Man muss schon ziemlich befangen sein in dogmatischen Konstruktionen, um den lebendigen Gott abzulehnen, wenn man ihm begegnet.

Wann wird endlich die Zeit sein, dass die Menschen diesem lebendigen Gott in Klarheit begegnen, und zwar dann, wenn sie uns begegnen? Wann werden wir endlich so von Gott reden können, dass der Heilige Geist herabfällt auf die Zuhörer, so wie es Petrus erlebte, als er vor Kornelius und seinen Freunden sprach (Apostelgeschichte 10)? Wann werden wir soweit sein, dass wir das Selbstverständliche aussprechen: das, was auch für uns selber selbstverständlich ist, Worte, in denen der lebendige Gott zu den Menschen kommt? Wann werden wir frei sein von diesen elenden Lügen der Vergangenheit: so dass die in der Gemeinde Jesu keinen Raum mehr haben, so dass die Christen einen Instinkt entwickeln, der allem Toten und Unterdrückerischen null Chance lässt? Wann werden wir endlich von Gott reden können ohne diese Belastungen aus so vielen Jahrhunderten?

Lasst uns die Hoffnung festhalten, dass wir das selbst noch erleben werden. Lasst uns daran beten und arbeiten, weil das das Wichtigste ist für uns, für unsere Gemeinde, für unser Land und die Welt.

Und bis dahin lasst uns fröhlich das tun, was wir jetzt schon schaffen, so wie Linda den Schritt getan hat, den sie tun konntel, und sie wurde froh durch diesen kleinen Schritt. Authentisch von Gott zu reden macht glücklich. Lasst uns jeden kleinen Spielraum nutzen, um die Freiheit auszuweiten, die wir haben, damit es für uns wieder ein Stück selbstverständlicher wird, die Worte des lebendigen Gottes auszusprechen.