Gott der Rache

Predigt am 22. Mai 2022 zu Psalm 94,1-23

1 Gott der Vergeltung, HERR, *
du Gott der Vergeltung, erscheine!

2 Erhebe dich, Richter der Erde, *
vergilt den Stolzen ihr Tun!

3 Wie lange noch dürfen die Frevler, HERR, *
wie lange noch dürfen die Frevler frohlocken?

4 Sie geifern und führen freche Reden, *
die Übeltäter brüsten sich alle.

5 HERR, sie zertreten dein Volk, *
sie unterdrücken dein Erbteil.

6 Sie bringen die Witwen und Fremden um *
und morden die Waisen.

7 Sie sagten: Der HERR sieht es nicht, *
der Gott Jakobs merkt es nicht.

8 Begreift doch, ihr Toren im Volk! *
Ihr Unvernünftigen, wann werdet ihr klug?

9 Sollte der nicht hören, der das Ohr gepflanzt hat, *
sollte der nicht sehen, der das Auge geformt hat?

10 Sollte der nicht zurechtweisen, der die Nationen erzieht, *
er, der die Menschen Erkenntnis lehrt?

11 Der HERR kennt die Gedanken der Menschen: *
Sie sind ein Windhauch.

12 Selig der Mann, den du, HERR, erziehst, *
den du mit deiner Weisung belehrst,

13 um ihm Ruhe zu schaffen vor bösen Tagen, *
bis dem Frevler die Grube gegraben ist.

14 Denn der HERR lässt sein Volk nicht im Stich *
und wird sein Erbe nicht verlassen.

15 Nun spricht man wieder Recht nach Gerechtigkeit; *
ihr folgen alle Menschen mit redlichem Herzen.

16 Wer wird sich für mich gegen die Bösen erheben, *
wer tritt gegen die Übeltäter für mich ein?

17 Wäre nicht der HERR meine Hilfe, *
bald würde meine Seele wohnen im Schweigen.

18 Wenn ich sage: Mein Fuß gleitet aus, *
dann stützt mich, HERR, deine Huld.

19 Mehren sich die Sorgen in meinem Innern, *
so erquicken deine Tröstungen meine Seele.

20 Hat sich mit dir der Thron des Verderbens verbündet, *
der Mühsal schafft, gegen das Gesetz?

21 Sie rotten sich zusammen gegen das Leben des Gerechten, *
unschuldiges Blut sprechen sie schuldig.

22 Da wurde mir der HERR zur Schutzburg, *
mein Gott zum Fels meiner Zuflucht.

23 Er vergalt ihnen ihr Unrecht, /
er vernichtet sie wegen ihrer Bosheit, *
vernichten wird sie der HERR, unser Gott.

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Das ist ein Psalm, wie ihn harmlose Gemüter nicht in der Bibel erwarten würden, und der auch nicht in der Kinderbibel steht. Und Sie finden ihn auch nicht im Gesangbuch hinten bei den Psalmen abgedruckt. Ein Gott der Vergeltung, ein Gott der Rache? Geht das in der christlichen Kirche, oder ist das nicht der schlimme jüdische Gott des Alten Testaments, den wir mit Jesus zum Glück hinter uns gelassen haben? So ist es oft gelehrt worden, aber das unterschätzt Gott.

Nur damit Sie schon mal wissen, wo die Predigt hingehen soll: auch Gott, wie er in diesem Psalm beschrieben wird, ist unser Gott, der Vater Jesu Christi. Der steht für Gerechtigkeit. Und wenn man die Rache Gott überlässt, das bedeutet eben auch, dass wir die Vergeltung nicht in unsere Hände nehmen. Das ist eine Humanisierung des Umgangs miteinander. Und es ist gleichzeitig eine Hoffnung für alle, die von Stärkeren unbarmherzig angegriffen werden.

Ein schwaches Rechtssystem

Denn das ist der Hintergrund des Psalms: eine Gesellschaft, in der das Rechtssystem noch nicht gut entwickelt ist, und wo es deshalb wichtig ist, dass man eine angesehene, starke Familie im Rücken hat, die einen im Konfliktfall unterstützt. Wenn man das nicht hatte, dann hatte man beim örtlichen Gericht schlechte Karten. Erst recht, wenn jemand, der es sich leisten konnte, die Richter bestach.

Ganz besonders schlecht dran waren damals die Witwen und Waisen und die Ausländer. Die tauchen in der Bibel immer wieder auf als Gruppen, die besonderen Schutz brauchen, weil sie sich vor Gericht nicht selbst verteidigen können.

Ich habe so eine Geschichte mal von einem Iraner gehört, der das am eigenen Leibe erlebt hat. Sein Vater starb, als er noch ein Kind war. Und dann kam der nächste männliche Verwandte, ein Onkel, der jetzt das zuständige Familienoberhaupt war, und hat das Kind und seine Mutter vor die Tür gesetzt. Der hat das Haus der Familie einfach so in Besitz genommen, und die bisherigen Bewohner, die gerade Mann und Vater verloren hatten, konnten sehen, wo sie blieben. Die haben dann zuerst im Park geschlafen. Es gab niemanden, zu dem sie gehen konnten, um ihr Haus, ihre Heimat zurückzubekommen.

Arroganz der Macht

Solche Dinge sind der Hintergrund, wenn hier Gott angerufen wird gegen die »Frevler« und die »Stolzen«. Das sind Menschen, die glauben, sie könnten sich alles erlauben. Die Arroganz der Macht würde man das heute nennen. Und diese Typen werden in dem Psalm zitiert: Gott sieht das nicht! Gott ist weit weg! Nennt man den nicht den »Gott Jakobs«? Aber Jakob ist schon lange tot, und sein Gott ist auch nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Diese Gerechtigkeitsduselei ist überholt. Wir wissen das heute besser.

Gegen diese Arroganz ruft hier jemand den lebendigen Gott an, den Schöpfer der Welt. Gott hat Augen und Ohren erfunden, und ihr sagt über ihn, er sei blind und taub? Täuscht euch nicht! Gott ist höchst lebendig. Glaubt bloß nicht, dass er zum zahnlosen Greis geworden ist, der sich einfach so zur Seite schieben lässt.

Gottes Gerechtigkeit

Gott steht für Gerechtigkeit. Und er hat das Gefühl für Gerechtigkeit in uns alle eingepflanzt. Man kann das zwar betäuben und ignorieren, aber die Überzeugung, dass es gerecht zugehen sollte in der Welt, die ist zum Glück nicht auszurotten. Menschliches Zusammenleben funktioniert nicht ohne irgendeine Form von Gerechtigkeit. Selbst unter Gangstern gibt es Regeln, an die man sich halten muss.

Und deswegen ist der Wunsch nach Vergeltung, ja nach Rache, zunächst einmal etwas ganz Positives. Er zeigt, dass Menschen Unrecht nicht einfach so hinnehmen. Der Wunsch nach Vergeltung ist nichts Ehrenrühriges, sondern etwas zutiefst Menschliches. Er ist ein Zeichen dafür, dass wir immer noch ein Gefühl dafür haben, wie Gott die Welt gewollt hat. Er wollte keine Welt, in der sich die Stärkeren auf Kosten der Armen eine goldene Nase verdienen. Und es ist gut, dass die meisten es empörend finden, wenn es doch passiert.

Und wir als Christen sollen dann nicht schnell kommen und sagen: so kann man das doch nicht sehen, das darf man doch nicht sagen, wir sollen doch nicht rachgierig sein. So ist die Bibel jedenfalls nicht. Da kommen die Menschen zu Wort, denen Unrecht getan wird. Und da wird Gott wieder und wieder angerufen als der Beistand gegen die Arroganz der Mächtigen.

Unser jüdisch-christliches Erbe

Dass wir bei uns hier in einem Rechtsstaat leben, in dem auch Witwen, Waisen und Ausländer und andere schwache Gruppen Rechte haben, wo man Mieter nicht einfach mal so auf die Straße setzen kann, das liegt auch daran, dass sie in der Bibel eine Stimme bekommen. Unsere christliche Tradition hier im Abendland hat sicher viele dunkle Seiten, aber sie hat auch dafür gesorgt, dass es nicht so krasse Machtungleichgewichte gibt. Wir haben unabhängige Gerichte, die man anrufen kann. Deswegen erleben wir persönlich gar nicht so oft dieses himmel­schreiende Unrecht, von dem die Bibel spricht. Aber deswegen ist uns dieser Wunsch nach Gerechtigkeit, Vergeltung und auch Rache nicht mehr so vertraut.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat uns aber jetzt vielleicht die Augen dafür geöffnet, dass die brutalen und arroganten Machthaber überhaupt nicht ausgestorben sind. Es gibt sie im Großen, aber auch im Kleinen. Es gibt genug Menschen, unter denen viele andere leiden müssen, besonders, wenn die ein bisschen Macht in die Finger kriegen. Nicht jeder davon kommandiert eine Armee (zum Glück!) , aber auch als Nachbar oder Kollegin können solche Menschen andern das Leben schwer machen.

Und wer unter so jemand zu leiden hat, der braucht unsere Unterstützung und unseren Beistand. Gerade die christlichen Gemeinden waren immer ein Raum, wo Menschen Zuflucht und Verständnis gefunden haben, wenn sie angegriffen oder verleumdet wurden. Wenn niemand sonst ihnen beigestanden hat. Eine solche Form der Unterstützung ist das Kirchenasyl, mit dem wir hier in der Gemeinde ja auch viele Erfahrungen gemacht haben. Im alten Israel war der Tempel so ein Ort der Zuflucht für alle unschuldig Beschuldigten. Und wo Menschen solche Unterstützung finden, da wird auch der unselige Kreislauf von Unrecht, Rache und Vergeltung durchbrochen.

Dazu müssen wir nämlich an die Paulusstelle aus dem Römerbrief denken, die wir vorhin in der Lesung gehört haben (Römer 12,19). Paulus sagt: rächt euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes. Und er zitiert das 5. Mosebuch, wo Gott sagt: Die Rache ist mein! Das klingt erst einmal schrecklich grausam, aber Paulus legt es so aus, dass er sagt: Genau, Rache ist nicht eure Sache. Dafür ist Gott zuständig. Wer in eigener Sache Richter sein will, der wird fast immer neues Unheil anrichten. Rache und Vergeltung sorgen dafür, dass sich Unrecht und Gewalt immer weiter fortsetzen. Gegen manche Tyrannen kann man nur das Gericht des Himmels anrufen.

Gottes Vergeltung

Nun gibt es natürlich genug Geschichten davon, wie Übeltäter lange durchkommen und Gottes Vergeltung sie nicht zu erreichen scheint. Auch in der Bibel liest man davon. Wir sollten darüber aber nicht vergessen, dass Gottes Vergeltung in vielen Fällen ganz gut funktioniert. Viele Despoten sind gerade nicht friedlich im Bett gestorben, sondern wurden vorher schon gestürzt, vertrieben, gemeuchelt oder verurteilt. Manche haben sich selbst getötet. Viele andere kleine Despoten mussten erleben, dass sie am Ende keine Freunde mehr hatten, sobald sie zu alt oder zu schwach waren, um ihre Mitmenschen noch zu tyrannisieren. Und all diesen Menschen entgeht vermutlich das Glück, das man in tiefen und vertrauensvollen Beziehungen finden kann. Deshalb gieren sie nach immer neuen Liebesbeweisen, Lobhudeleien und Ergebenheitsbekundungen, aber sie bekommen nie genug davon. Sie sind Fässer ohne Boden.

Die großen und kleinen Unheilstifter sind deshalb fast immer schon durch sich selbst gestraft. Sie müssen ja als erste mit diesem Ekel leben, zu dem sie selbst geworden sind. Vielleicht wissen sie ja nicht mal, dass es Besseres gibt, als andere zu schikanieren oder zu terrorisieren. Aber vielleicht ahnen sie es auch und sind insgeheim neidisch auf ihre Opfer.

Auf jeden Fall sagt Paulus: haltet ihr euch da raus und überlasst Gott die Vergeltung. Ihr würdet das nicht gut hinkriegen. Ihr würdet selbst Schaden dabei nehmen. Wartet ab, wie Gott das regelt. Und so kann man mit der ganzen Bibel sagen: Schaut gut hin, und ihr werdet sehen, wie oft Menschen selbst in die Grube fallen, die sie andern gegraben haben. Ich jedenfalls habe schon manchmal so etwas gesehen und gedacht: oh ja, man sollte sich wirklich davor hüten, Gott herauszufordern. Das ist gefährlich.

Die positive christliche Grundhaltung

Paulus diskutiert dieses Problem der Rache im Zusammenhang einer positiven Einstellung gegenüber allen Menschen. Er sagt eigentlich: wenn du Gott die Vergeltung überlässt, dann bist du selbst frei dafür, allen Menschen freundlich und gut zu begegnen. Du musst nicht unterscheiden, sondern kannst auf alle mit der gleichen positiven Grundhaltung zugehen. Du musst nicht mit zwei Verhaltensmustern arbeiten, eins für die Guten und eins für die Feinde, sondern du sparst dir das ganze Arsenal der Feindlichkeit. Und Gott kann die Bösen viel besser in ihre eigene Grube fallen lassen, weil dann ganz deutlich ist, dass es von ihm kommt und nicht von dir.

Wenn dann eure Gemeinde auch noch bekannt dafür ist, dass man als Opfer von Mobbern oder Betrügern oder andern großen und kleinen Unsympathen bei euch Zuflucht finden kann, dann reduziert ihr damit auch noch das Erbitterungspotential in der Welt. Das ist ja vielleicht sogar das Schlimmste am Wunsch nach Vergeltung, dass er auf die Dauer die Opfer auch noch bitter machen kann. Die Frevler gehen fröhlich durch die Welt, und ihre Opfer vergiften sich selbst mit Rachefantasien.

Deswegen ist die christliche Antwort auf Unrecht zunächst immer Beistand für die Opfer. Sie sollen zu Wort kommen mit dem, was ihnen angetan wurde. Ihr Wunsch nach Rache und Vergeltung ist eine gesunde und menschliche Reaktion darauf. Deshalb wird er in der Bibel ausgesprochen, besonders in den Psalmen. Und auch wir sollten ihn nicht vom Tisch wischen nach dem Muster: Das darf man doch als Christ nicht sagen!

Erst danach kommt der Moment, wo man auch davon reden kann, dass Vergeltung in eigener Sache eine zweischneidige Angelegenheit ist, von der man lieber die Finger lassen sollte. Deswegen gehört auch eine funktionierende Justiz zu Gottes Antwort an die Übeltäter. Wir tun der Gesellschaft einen großen Dienst, wenn wir das immer wieder betonen.

… wenn all das nicht greift

Und erst ganz zum Schluss, wenn all das nicht geholfen hat, dann ist da immer noch der Trost, dass keiner von den kleinen und großen Despoten, die friedlich im Bett gestorben sind und denen Denkmäler gesetzt wurden, dass keiner von denen dem letzten Gericht Gottes entgehen wird. Wie Gott das genau regelt, wissen wir nicht. Aber es ist eben auch sein Job und nicht unserer. Wir müssen zum Glück nur Menschen zu sein, die das Wohl ihrer Mitmenschen im Sinn haben. Das zu lernen und einzuüben, damit haben wir schon genug zu tun. Und das stellt Paulus in den Mittelpunkt:

Römer 12,21: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.