Zuflucht angesichts unserer Vergänglichkeit

Predigt am 1. August 2021 zu Psalm 90,1-17

1 Ein Bittgebet des Mose, des Mannes Gottes.

O Herr, du warst uns Zuflucht
von Geschlecht zu Geschlecht.

2 Ehe denn die Berge wurden/
und die Erde und die Welt geschaffen wurden,*
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3 Zum Staub zurückkehren lässt du den Menschen,*
du sprichst: Ihr Menschenkinder, kehrt zurück!

4 Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist,*
wie eine Wache in der Nacht.

5 Du schwemmst sie weg, ein Schlaf sind sie,*
sie gleichen dem Gras, das am Morgen wächst:

6 Am Morgen blüht es auf und wächst empor,*
am Abend wird es welk und verdorrt.

7 Ja, unter deinem Zorn schwinden wir hin,*
durch deine Zornesglut werden wir starr vor Schrecken.

8 Unsere Sünden hast du vor dich hingestellt,*
unsere verborgene Schuld in das Licht deines Angesichts.

9 Ja, unter deinem Grimm gehen all unsere Tage dahin,*
wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer.

10 Die Zeit unseres Lebens währt siebzig Jahre,*
wenn es hochkommt, achtzig.

Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis,*
schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin.

11 Wer erkennt die Macht deines Zorns*
und fürchtet deinen Grimm?

12 Unsere Tage zu zählen, lehre uns!*
Dann gewinnen wir ein weises Herz.

13 Kehre doch um, HERR! – Wie lange noch?*
Um deiner Knechte willen lass es dich reuen!

14 Sättige uns am Morgen mit deiner Huld!*
Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage.

15 Erfreue uns so viele Tage, wie du uns gebeugt hast,*
so viele Jahre, wie wir Unheil sahn.

16 Dein Wirken werde sichtbar an deinen Knechten*
und deine Pracht an ihren Kindern.

17 Güte und Schönheit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns!/
Lass gedeihen das Werk unserer Hände,*
ja, das Werk unserer Hände lass gedeihn!

Das ist einer von den bekanntesten Psalmen – einige Verse daraus sind vielen vertraut, wahrscheinlich, weil sie oft bei Trauerfeiern zitiert werden. »Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hochkommt, 80« ist so ein Vers. Oder auch: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!« Und das bringt ja auch so eine trübe, wehmütige Stimmung, die so richtig zu Beerdigungen passt.

Ein realistischer Psalm
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Dabei ist dieser Psalm, wenn man ihn ganz liest, gar nicht so trübsinnig – das werden wir noch sehen. Aber da wird in der Tat sehr deutlich über die Begrenztheit und Vergänglichkeit des Menschen gesprochen. Auch wenn viele Menschen heute älter als 70 oder 80 werden – das ist zwar schön, aber es ändert nicht grundsätzlich etwas an der Gesamtsituation, wenn man stattdessen vielleicht 90 oder 100 wird.

Der Psalm möchte uns davor bewahren, dass wir unsere Hoffnung auf die falschen Dinge setzen. Er sagt: schau realistisch auf dein Leben! Die 70, 80 oder 90 Jahre sehen zuerst unendlich lang aus. Als junger Mensch hast du das Gefühl, dass du noch unendlich viel Zeit vor dir hast. Aber je älter du wirst, um so schneller läuft die Zeit. Eines Tages schaust du zurück und denkst: Moment – eben war ich doch noch ein junger Erwachsener, und jetzt kommt schon die Rente in Sicht? Ich hab doch noch gar nicht richtig gelebt, ich habe doch das Gefühl, ich übe erst noch zu leben! War das schon alles? Es sollte doch was Großes und Bedeutungsvolles werden, und jetzt besteht der größte Teil meines Lebens aus dem ganzen täglichen Kram, aus vielen belanglosen Gesprächen, aus Zähneputzen und Müll raustragen und Windeln wechseln und langweiligen Besprechungen und Kartoffelschälen und Papierkram.

Von Unheil bedrohtes Leben

Und dazu kommt noch all das Viele, was schief geht oder wo man durch richtige Zerstörungen durch muss. Es gibt ja gar nicht mehr so viele Menschen unter uns, die noch erlebt haben, wie ein Krieg ist oder die richtige Katastrophen miterlebt haben. Aber da sind wir eine Ausnahme – es gibt nur ganz wenige Generationen, denen die Erfahrung großer gesellschaftlicher Erschütterungen oder anderer Zerstörungen erspart bleibt.

Daran denkt der Psalm, wenn es heißt, dass wir unsere Tage unter Gottes Zorn leben müssen: Gott schaut auf die menschlichen Irrwege, er sieht, wie sich die Fehlentscheidungen aufhäufen wie Geröll an einem Berghang, und irgendwann kracht dann eine Lawine zu Tal und zerstört alles, was ihr in den Weg kommt: eine Lawine aus Halbherzigkeiten und Mauscheleien, aus Gier und Bosheit, aus Kurzsichtigkeit, Dummheit und Nicht-Wissen-Wollen. Gerade jetzt bereitet sich ja wieder ein gewaltiger Erdrutsch vor, die ersten Starkregen haben die armen Leute in den engen Flusstälern getroffen, aber das ist erst der Anfang. Die Zeit der Ruhe und des Friedens geht zu Ende, auch hier bei uns in Europa, im wohlorganisierten Deutschland.

Nur Realisten finden den Weg

Der Psalm macht den Kontrast auf: auf der einen Seite unser Leben, das zuerst beinahe unendlich scheint und dann auf immer weniger zusammenschnurrt. Unser Leben, das so kurz, verletzlich und bedroht ist, auch wenn wir das in den guten Zeiten gern ignorieren. Und auf der anderen Seite der ewige Gott, der schon vor aller Schöpfung da war, der schon Zeuge war, wie Gesteinsbrocken auf einem glühenden Lavameer schwammen und wie nach und nach daraus die Gebirge und das feste Land wurden. Der ewige Gott, vor dem 1000 Jahre nur ein Hauch, ein Wimpernschlag sind.

Und der Psalm sagt: nur wenn ihr euch dieser Realität stellt, nur dann könnt ihr sinnvoll überlegen, wie ihr euer Leben führen wollt. Wie wollt ihr einen realistischen Weg finden, wenn ihr schon die Ausgangslage nicht realistisch anschaut? Klug ist, wer sich nichts vormacht, wer der Realität ins Auge schaut, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht schön ist.

So ein realistischer Blick wird hier im Psalm eingeübt. Da der ewige Gott – und hier der kleine, begrenzte Mensch, dessen Leben immer von Gefahren und Sinnlosigkeit bedroht bleibt. Nur wer das ganz klar sieht, der hat auch Zugang zu einem Weg, der aus diesem Dilemma herausführt: zum Glück ist ausgerechnet dieser ewige, heilige Gott die Zuflucht, die uns sterblichen Menschen gegeben ist.

Ereignisse, die alles ändern

Denn mitten in diesem kurzen Leben kann es eben doch die Tage geben, über denen der Glanz der Güte Gottes liegt. Das ist nichts, was uns garantiert ist oder was wir einklagen könnten, aber das ist eine Perspektive, um die wir bitten können. Und das ist wirklich nicht unrealistisch. Der ewige Gott liebt das Werk seiner Hände: seine Schöpfung und seine begrenzten, kurzsichtigen Menschen. Und er beugt sich zu ihnen herab und erfüllt unser Leben hier und da mit seiner Zuwendung und Nähe.

Darum zu bitten, das ist nicht unrealistisch. Diese Zuwendung geschieht ja, immer wieder, mitten in prekären Zeiten und Umständen genauso wie bei denen, die alles haben und doch nicht zufrieden sind. Es ist richtig, Gott darum zu bitten, dass er unsere Tage mit seiner Freundlichkeit erfüllt und unseren Hunger nach Gutem mit seinem Segen stillt. Es macht Sinn, darauf zu setzen, dass sich auf unseren Wegen etwas von der Größe und Schönheit des ewigen Gottes zeigt. Aber erleben werden wir das nur, wenn wir es uns wünschen, wenn wir darum bitten und Ausschau danach halten.

Klug werden wir, wenn wir unsere Herzen nicht im täglichen Klein-Klein zerstreuen, sondern sie auf die kostbaren Momente konzentrieren, in denen Gott unsere kleine Welt weit und groß und golden macht. Ja, über unserem mickerigen Leben kann der Glanz seiner Herrlichkeit aufgehen, und das sollten wir nicht verpassen, weil wir doch eben jetzt so viel zu tun haben und das Smartphone sich gerade schon wieder meldet.

Was wir hoffen können

Lass gedeihen das Werk unserer Hände – das können wir wirklich erhoffen, darum können wir bitten: dass etwas von der Schöpferkraft Gottes auch in unseren Werken aufscheint. Dass die Welt auch unter unseren Händen aufblüht und gedeiht, so wie sie aufblüht durch Gottes Präsenz mitten unter seinen Geschöpfen. Daran können wir wirklich Anteil haben, und es ist klug und realistisch, damit zu rechnen.

Unser wahres Glück und unser Glanz stammt nicht aus unserem überschaubaren Leben mit all seinen Gefährdungen und Engpässen. Wer es da sucht, dem kann man nur sagen: werde doch mal realistisch und mach dir klar, wie zerbrechlich und kurz das alles ist. Aber was vom ewigen Gott aus in unser Leben kommt, das ist stark und gut und nicht der Vergänglichkeit unterworfen. Wenn dieser Glanz über unserem Leben liegt, dann war es nicht vergeblich. Die Verfasser dieses Psalms haben das schon gespürt, obwohl sie noch nichts wussten von Jesus Christus und der Auferstehungskraft, mit der Gott ihn in ein neues, unzerstörbares Leben gerufen hat. Aber sie haben damit gerechnet, dass Gottes Zuwendung unzerstörbar ist. Und dass unser Leben gültig bleibt, wo es von Gott berührt ist.

Und so sollen wir uns, wenn der Ruhetag heute vorbei ist, wieder dem Werk unserer Hände zuwenden in der Zuversicht, dass auf ihm der Segen Gottes liegen kann, und in der Erwartung, dass Er uns Gedeihen schenken will. Er ist die Zuflucht in unserer Vergänglichkeit.