Gottes große Neuanfänge und unsere kleinen Aufbrüche

Predigt am 6. Juni 2021 zu Psalm 85,1-14

1 Für den Chormeister. Ein Psalm der Korachiter.
2 Du hast wieder Gefallen gefunden, HERR, an deinem Land,
du hast Jakobs Unglück gewendet.
3 Du hast deinem Volk die Schuld vergeben,
all seine Sünden zugedeckt. [Sela]
4 Du hast zurückgezogen deinen ganzen Grimm,
du hast dich abgewendet von der Glut deines Zorns.
5 Wende dich uns zu, du Gott unsres Heils,
lass von deinem Unmut gegen uns ab!
6 Willst du uns ewig zürnen,
soll dein Zorn dauern von Geschlecht zu Geschlecht?
7 Willst du uns nicht wieder beleben,
dass dein Volk an dir sich freue?
8 Lass uns schauen, HERR, deine Huld
und schenk uns dein Heil!
9 Ich will hören, was Gott redet:
Frieden verkündet der HERR seinem Volk und seinen Frommen,
sie sollen sich nicht zur Torheit wenden. [Sela]
10 Fürwahr, sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten,
seine Herrlichkeit wohne in unserm Land.
11 Es begegnen einander Huld und Treue;
Gerechtigkeit und Friede küssen sich.
12 Treue sprosst aus der Erde hervor;
Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder.
13 Ja, der HERR gibt Gutes
und unser Land gibt seinen Ertrag.
14 Gerechtigkeit geht vor ihm her
und bahnt den Weg seiner Schritte.

Dieser Psalm ist vermutlich in der Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft entstanden. Israels Könige hatten mit ihrer Kriegspolitik das Ende des Staates Israel herbeigeführt, das Volk war etwa im Jahr 589 v. Chr. nach Babylonien verschleppt worden, aber nach etwa 70 Jahren durften sie wieder zurück in ihr Land. Und sie kamen zurück mit großen Erwartungen. Gott war treu: er hatte ihnen geholfen, als Volk in der Fremde zu überleben, und jetzt erhielten sie auch ihr Land zurück. Das hatte der Prophet, den man heute Deuterojesaja nennt, angekündigt, und es war tatsächlich so gekommen. Gottes Güte und Treue war bestätigt, er hatte ihnen ihre Schuld vergeben, und jetzt konnten sie wieder als sein Volk leben.

Warum bleibt der Aufbruch stecken?
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Und dann kam der große Einbruch: nichts passierte. Keine große Erneuerung, kein neues Königtum, sondern mühsamer Wiederaufbau, viel Klein-Klein, mal ging es voran, mal herrschte Stagnation. Sie waren eine unbedeutende Provinz in einem riesigen Imperium, erst die Perser, dann die Griechen, am Ende die Römer. Zwischendurch hatten sie auch eigene Könige, aber das dauerte nie lange. Überall klemmte es. Wir haben nicht viele Überlieferungen aus diesen Jahrhunderten – man war vor allem mit Überleben beschäftigt und hat nicht so viel aufgeschrieben.

Und irgendwann in dieser Zeit muss dieser Psalm entstanden sein. Da schauen sie zurück und sagen: Gott, du hast uns doch zurückgebracht aus Babylon, warum geht es jetzt nicht weiter? Wir haben doch unsere Lektion gelernt, wir wollen ja nach deinem Willen leben, warum reicht das nicht? Warum ist der Neuanfang auf halbem Weg steckengeblieben? Warum so viel Klein-Klein und so wenig Aufbruch?

Und ich glaube, da können wir uns doch auch gut wiederfinden: auch bei uns hat es so viele Neuanfänge gegeben, in der Kirche und im Land. Aber so richtig vorangegangen ist es trotzdem nicht. Vor 500 Jahren die Reformation, als Luther von der »babylonischen Gefangenschaft der Kirche« geschrieben und gesprochen hat, von der Gefangenschaft in einem religiösen System, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzte und damit auch noch Geschäfte machte. Da hatten wir sozusagen unsere Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft. Und auch damals haben sie gedacht: jetzt können wir wieder so richtig Volk Gottes sein, jetzt ist uns das Evangelium neu geschenkt worden, jetzt geht es wieder richtig los.

Aber schon zu Luthers Lebzeiten blieb das irgendwie stecken. Es kam unter die Räder der Machtpolitiken und wurde zerrieben. Luther selbst wurde am Ende verbittert und hart. Der Aufbruch verlor seinen Glanz, spätestens im 30jährigen Krieg konnte man nicht mehr wirklich sagen, wer die Guten sein sollten und wer die Bösen.

Gottes Glanz soll doch unter uns wohnen!

Dazwischen aber immer wieder auch Aufbrüche, wo Christen versucht haben, auf richtig gute Weise Kirche zu sein. Wer sich in der Kirchengeschichte auskennt, der kann ausführlich aufzählen, wie viele neue Impulse und Bewegungen es in den Jahrhunderten seit der Reformation gegeben hat. Viel Gutes ist entstanden, Menschen sind von Jesus angerührt und auf den Weg gebracht worden, aber der richtig große Wurf war nicht dabei; die großen, heroischen Zeiten liegen irgendwann in der Vergangenheit und wir feiern nur noch die Gedenktage. Da ist viel Gutes und Richtiges dabei, aber so richtig von Hocker reißen tut das keinen.

Und damit sind wir so nahe dran an diesem Psalm: Gott, warum ist alles auf halber Strecke steckengeblieben? Gott, wir wissen doch, wie es eigentlich sein sollte: da sollte es eigentlich eine Korrespondenz zwischen Himmel und Erde geben, von oben Gottes Gerechtigkeit und von unten die dankbare Treue der Menschen Gottes. Gottes Glanz soll unter uns wohnen – da haben sie wahrscheinlich an die großartigen, beeindruckenden Gottesdienste im Tempel gedacht. Die sollen ausstrahlen und dem ganzen Leben Glanz geben. Da muss man gar nicht dauernd Events für die Zeitung produzieren – die Menschen kommen von ganz allein. Gottes Segen soll auf dem Land liegen. Alle sollen ein gutes Leben haben. Gerechtigkeit herrscht und die Menschen gedeihen. Und das führt zum Frieden, zum umfassenden guten Leben. Ja, so sollte es sein, Gott: du in der Mitte, und von da aus wird das Land mit Fülle gesegnet, alle freuen sich und alle Kreaturen können aufatmen. Alles kommt an seinen Platz, und eins passt zum anderen. Das ist deine Gerechtigkeit, Gott.

Und im Rückblick von heute aus wissen wir: in Israel ist das eingetreten, als Jesus kam, und das war gerade, als Israel durch eine seiner dunkelsten Zeiten ging. Und das war auch nicht überall zu merken, sondern eben nur da, wo Jesus hinkam und willkommen geheißen wurde. Aber er war dieses Zentrum, von dem aus Gottes Herrlichkeit ins Land leuchtete. Es war nicht mehr der Tempel – Gottes Herrlichkeit verkörperte sich jetzt in Jesus.

Gott wiederholt sich nicht – er schafft Neues

Und vielleicht ist es das, was wir von diesem Psalm lernen können: die richtigen Aufbrüche, die Gott schafft, sehen immer ganz anders aus, als wir gedacht hatten, wie es sein müsste. Gott wiederholt sich nicht. Er schafft Neues. So grundlegend Neues, dass wir es uns vorher gar nicht vorstellen können, aber wenn es da ist, dann spüren alle: so muss es sein. Na gut, nicht alle, einige klammern sich mit aller Gewalt an das Alte und sagen: war denn alles verkehrt, was wir so lange gemacht haben?

Aber es war nicht unbedingt alles falsch. Jesus wuchs auf in einer frommen Familie, wo die besten Traditionen Israels lebendig waren. Es war nicht umsonst, dass Menschen treu geblieben sind, so gut sie es eben konnten. Einiges war wirklich schlecht, der Tempel war korrupt, die führenden Priester paktierten mit den Feinden Israels, aber unter den Menschen lebte etwas, womit Gott dann weitermachen konnte. Bloß Jesus setzte diese Puzzleteile noch mal ganz neu und anders zusammen. Vor Jesus war niemand auf die Idee gekommen, dass man es auch so wie er machen könnte.

Und das heißt für uns: was wir tun können, das müssen wir dann auch so gut wie möglich tun. Wir sollen glauben und arbeiten und beten und Gott vertrauen. Aber wir müssen unser kümmerliches Kirchespielen nicht hochjubeln wie das Gelbe vom Ei. Bevor da wirklich was Starkes draus werden kann, muss Gott es erst so richtig durcheinander schmeißen und neu zusammensetzen und selbst noch einiges neu dazutun. Und es kann lange dauern, bis es soweit ist. Vor Jesus lagen Jahrhunderte des Wartens.

Erwartungen nicht zurückschrauben

Deshalb müssen wir auch wirklich warten und nicht alle Jahre eine neue Sau durchs Dorf treiben. »Ich will hören, wie Gott redet« heißt es in dem Psalm. »Ich will hören, wie er seinem Volk den umfassenden Frieden verkündet.« Mit weniger geben wir uns nicht zufrieden. Aber wenn endlich Gott selbst ein neues Kapitel in der Geschichte seines Volkes aufschlägt, dann muss man das nicht mehr groß ankündigen und hochjubeln. Das macht er dann schon ganz allein bekannt. Das bleibt nicht verborgen.

Viel wichtiger bleibt es, dass wir unsere Erwartungen nicht zurückschrauben und uns nicht mit kümmerlichem Ersatz zufrieden geben. Nein, wir schauen weiter aus nach dem großen Neuen, was von ihm kommt. Darunter tun wir es nicht. Aber bis dahin wollen wir unsere paar Cent beisteuern, die wir aufbringen können. Vielleicht kann Gott ja gerade unseren Beitrag umwechseln in die neue Münze seines Reiches. Und wenn nicht, dann nehmen wir bloß dankbar entgegen, was er uns an Neuem gibt.

Wir wollen uns keine Illusionen machen, aber was wir tun können, das wollen wir tun. Und nicht aufhören, Ausschau zu halten nach dem Großen und Neuen, das von Gott her in unsere Welt kommen wird. So haben es uns die Verfasser dieses Psalms vorgemacht. Und in diesem Hoffen und Warten sind wir Gott und seinem Heil so nahe, wie es in diesen Zeiten eben möglich ist. Und das ist ja nun auch wiederum nicht wenig. Der 85. Psalm hat es immerhin bis in die Bibel geschafft.