Schreien und Weinen (Eltern und Kinder I)

Predigt am 13. August 2000 mit Psalm 42,2

2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.

Da redet einer von dem, was für Babies eine alltägliche Aufgabe ist: Schreien. Auch Erwachsene tun das manchmal (wir haben vorhin die Geschichte von Bartimäus gehört, der nach Jesus schreit), aber wer Kinder hat, erlebt, wie stark das Schreien gerade zu Kindern gehört. Auch verhältnismäßig ruhige Babies schreien unzählige Male, bis sie gross sind.

Was ist das erste, das ein gesundes Kind nach der Geburt tut? Es atmet tief ein und schreit. Es lüftet seine Lungen, und es macht auf sich aufmerksam. Es drückt all das Unbekannte und Unangenehme, das es bei der Geburt erlebt hat, aus, indem es schreit. Und alle freuen sich, weil das so ein deutliches Lebenszeichen ist.

Und gleichzeitig ist das Schreien die Verantwortung, die schon ein neugeborenes Kind übernehmen kann. Es kann nicht zum Kühlschrank gehen und sich was zu essen holen, wenn es Hunger hat, es kann mit Schmerzen nicht zum Arzt gehen, aber es kann die anderen darauf aufmerksam machen, wenn irgendwas nichts stimmt. Die anderen haben dann die Verantwortung, rauszufinden, ob es Hunger ist oder Schmerzen oder eine nasse Windel, das Baby hat die Verantwortung, so laut zu schreien, bis jemand merkt, dass Handlungsbedarf besteht.

Für viele Eltern gehört das sicherlich zu den weniger angenehmen Erfahrungen, all die Male, wo das Baby schreit, und man weiß nicht, was los ist. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Schwester aus dem Krankenhaus nach Hause kam (ich war damals schon 11), und was machte sie? Sie schrie natürlich. Und keiner wusste warum. Man tippt dann ja auf Hunger. Also machten wir ihr das erste Fläschchen zu Hause – das ist ja sowieso schon stressig, wenn man bei lautem Gebrüll erst noch die Gebrauchsanweisung studieren muss und dann genau nach Vorschrift alles vor dem ersten Gebrauch mit kochendem Wasser sterilisieren muss. Als das endlich geschafft war, schob ihr meine Mutter das Fläschchen in den Mund, aber sie schrie davon nur noch mehr. Ich erspare Ihnen die Schilderung unserer weiteren Versuche, herauszubekommen, was dieses schreiende Bündel wollte. Am Ende kamen wir darauf, dass man in den Gummisauger der Flasche erst noch ein Loch stechen musste, bevor das arme Kind trinken konnte.

Ich kann mich noch heute an diese knappe Stunde erinnern, wo wir dachten: das Kind wird verhungern oder anderswie elend zu Grunde gehen. Aber eigentlich haben wir alle richtig funktioniert: meine Schwester hatte ihre Verantwortung wahrgenommen, uns auf ihr Problem aufmerksam zu machen, und wir hatten unseren Teil getan: solange herumzuprobieren, bis wir die Lösung hatten.

Das alles macht ja nur Sinn, wenn schon das Kind irgendwie weiß, dass es doch Hilfe, Verlässlichkeit und bestätigtes Vertrauen geben muss. Ein Kind schreit nach Erfahrungen, die sein Vertrauen in die Welt stärken. Es schreit nach einer verlässlichen Ordnung in der Welt, und genauso rufen und fragen Erwachsene, die schlimme Erfahrungen gemacht haben, nach Wiederherstellung einer Basis für ihr Vertrauen in die Welt. Wir wissen das von Menschen, die eine Katastrophe haarscharf überlebt haben, vielleicht ein Eisenbahnunglück, dass solche Erfahrungen das Grundvertrauen in die Welt massiv erschüttern, und dann muss das erst mühsam wieder aufgebaut werden. Ein Baby muss dieses Grundvertrauen überhaupt erst lernen. Aber das kann ein Baby auch, und das läuft über sein Geschrei und die Erfahrung, dass es gehört wird. Das Baby wartet nicht darauf, dass ihm irgendjemand das Grundvertrauen antrainiert, nein, dieses winzige Bündel ist selbst aktiv und sorgt dafür, dass es zu Erfahrungen kommt, die sein Grundvertrauen bestätigen. Wir als Eltern oder verantwortliche Erwachsene müssen natürlich auch unseren Teil tun, aber das Baby selbst hat eine aktive und unersetzbare Aufgabe: seine Bedürfnisse anzumelden.

Wenn ein Mensch 20 Jahre älter ist und auf seine Wünsche immer noch mit Geschrei aufmerksam macht, dann stimmt etwas nicht, aber ein Baby nimmt genau damit seine Verantwortung wahr.

Und es lernt dabei nicht nur etwas über Essen, Trinken und Windeln, sonders auch etwas über die Welt und über Gott. Klar, im Alter von drei Wochen kann man das noch nicht so unterscheiden, aber ein Kind schreit nicht nur nach der nächsten Mahlzeit, sondern es ruft nach jemandem, der ihm ein verlässliches Grundgefühl geben kann, es ruft nach Erfahrungen, die über die nächste Mahlzeit hinweg gelten. Es fragt auf seine Weise danach, wer denn das ist, der für die Welt verantwortlich ist, und wie er sie eingerichtet hat.

Kinder schreien ja von Anfang an nicht nur nach Essen und ähnlichen materiellen Dingen. Schon bei ganz kleinen Kindern ist das Trinken mit einer Person verbunden. Egal, ob ein Baby gestillt wird oder aus der Flasche trinkt – es erlebt dabei auch immer, dass ein Mensch mit ihm spricht und es anschaut, es erlebt Körperkontakt, es erlebt nie pures Essen, sondern alles ist immer mit einer Person verbunden.

Wahrscheinlich kennen viele von uns die Geschichte von dem Kaiser, der rauskriegen wollte, was die ursprüngliche Sprache der Menschen sei und deshalb in einem Versuch 100 Kinder von Pflegerinnen aufziehen ließ, denen er verboten hatte, auch nur ein Wort mit den Kindern zu sprechen. Und das Ergebnis: alle starben. Sie konnten nicht leben ohne die freundlichen Worte der Betreuerinnen. Erst in der Begegnung mit einem Du entwickelt sich unser Ich, und dass wir lernen, Beziehungen aufzunehmen, ist für unser Überleben genauso wichtig wie die Kalorien und Vitamine.

Ja, es ist sogar das Besondere am Menschen, dass seine materiellen Bedürfnisse von Anfang an in den Beziehungsaufbau hineinverwoben sind. Anders funktioniert es bei uns nicht. Wir leben immer als Personen, die ein Gegenüber haben. Wenn wir darauf reduziert werden, materiell ausreichend gesichert zu sein, oder wenn wir uns selbst so sehen, dann werden wir chronisch unterversorgt, so als ob uns lebenswichtige Vitamine fehlen.

Das heißt, von Anfang an trägt die Welt für uns persönliche Züge. Und das bleibt ein Leben lang so. Noch als Erwachsene, wenn wir fluchen, »dass dieser blöde Motor schon wieder verreckt ist«, dann macht das ja nur Sinn, weil wir die Welt immer mit einer persönlichen Komponente sehen. Sonst wäre fluchen purer Unsinn.

Auf der anderen Seite haben auch die guten Erfahrungen immer eine persönliche Seite. Wie oft werden auch ganz unreligiöse Menschen spontan von Dank erfüllt – z.B. wenn ein Kind gesund auf die Welt gekommen ist. Auch das macht nur Sinn, wenn da irgendwo ein Gegenüber ist.

Wenn es in diesem Psalmvers heißt: »Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir«, da ist gemeint, dass es zu unseren tiefsten Bedürfnissen gehört, in eine persönliche Beziehung zu Gott eingebettet zu sein. Und das ist so wichtig wie für einen durstigen Hirsch das Wasser. Ich habe persönlich keine Erfahrung mit Hirschen, ich stelle mir vor, dass die durch das viele Rumlaufen eben viel Wasser brauchen. Ich mache es mir eher an dem Geschrei eines Babies klar: so intensiv, wie das nach seiner Mahlzeit schreit, so ruft unsere Seele nach Gott, aber manchmal überhören wir sie einfach. Stattdessen versuchen wir, sie irgendwie vollzustopfen, damit sie Ruhe gibt. Aber sie meldet sich dann trotzdem auf anderen Wegen.

Wir laufen ja alle immer wieder unzufrieden durch die Welt, und der eine geht dann noch nachts an den Kühlschrank und guckt, was da vielleicht noch leckeres zu finden ist, und ein anderer schnappt sich das Portemonnaie und kauft sich irgendwas nettes, ein anderer freut sich auf den Urlaub, der es nun endlich bringen soll, und noch ein anderer setzt sich vor den Fernseher in der Hoffnung, da Freude und Schönes zu erleben. Und auch die ganze Latte der Süchte gehört in diesen Bereich, wo einer merkt, dass ihm was fehlt, und dann schaut, was da wohl helfen könnte.

Da im Psalm sagt einer: in Wirklichkeit ist dieses ganze Rufen und Schreien Suche nach dir, Gott. Wer dir begegnet, der ist wieder wie ein zufriedenes, fröhliches Kind. Eigentlich merke ich ich, dass du alles bist, was meine Seele braucht.

Das Wort, das da im Deutschen mit Seele wiedergegeben wird, das hat ganz stark die Bedeutung von Verlangen, von Bedürftigkeit, es hat was mit einer durstigen Kehle zu tun. Unsere Seele ist bedürftig, das gehört zu den Grundtatsachen, die ein Leben lang gelten. Ein Leben lang begleitet uns das hilfsbedürftige kleine Kind, das wir mal waren. Aber der Durst eines Babies und sein Verlangen nach Gott, die liegen noch ganz eng beieinander. Bei uns Erwachsenen tritt das dann stärker auseinander, uns ist meistens nicht klar, dass das mal zusammengehört hat, aber wir versuchen auch immer noch oft genug unseren Durst nach Erfüllung durch Gott mit Essen und anderen Dingen zu stillen.

Das passiert besonders dann, wenn wir als Kinder nicht ausreichend gelernt haben, auch unsere Seele zu ernähren. Wenn diese ganze Dimension der Tiefe, der Beziehungen nicht eingeübt und gestärkt worden ist. Und ganze Wirtschaftszweige leben davon, mit ihren Produkten unseren Durst zu stillen, der sich eigentlich auf ein glückliches Gegenüber zu Gott und den Menschen richtet.

Wir können unseren Kindern Entscheidendes auf den Lebensweg geben, wenn wir ihnen helfen, früh Bekanntschaft mit der Güte Gottes zu machen. Dafür müssen wir meistens erstmal Gott vertreten, wir müssen für sie Gottes Güte widerspiegeln, damit sie anfangen zu begreifen, worum es geht. Und dann irgendwann können sie unterscheiden zwischen Eltern und Gott. Kinder müssen lernen, wie schön es ist, mit Güte in Berührung zu kommen. Dann werden sie auch als Erwachsene leichter verstehen, was einem wirklich das Herz fröhlich macht, so dass man kein Gefühl der Leere mehr hat. Und sie werden es leichter merken, wenn eine Sache zuerst toll aussieht, einen aber am Ende leer und unbefriedigt zurücklässt.

Es ist so wichtig, dass Menschen früh lernen, ihre Verantwortung für ihr Wohlergehen wahrzunehmen und damit gute Erfahrungen zu machen. Es ist wichtig, dass Menschen als Babies mit Geschrei deutlich machen, was sie brauchen. Dann werden sie auch als Erwachsene ihre Verantwortung für ihr Leben wahrnehmen und nach Gott suchen, bis sie ihn finden.

Das Geschrei unserer Kinder geht uns natürlich auf die Nerven, weil es uns mit ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht konfrontiert – und wer will schon gerne in Ohnmachtserfahrungen hineingezogen werden? Aber davon mal abgesehen: Ist das nicht auch toll, wie wir Menschen schon vom ersten Moment unseres Lebens an lernen, dass wir Verantwortung haben? Irgendwann nehmen wir diese Verantwortung nicht mehr mit Schreien wahr, sondern indem wir Häppchen mit der Hand nehmen und in den Mund stecken; etwas später können wir schon mit dem Löffel essen, und viele Jahre danach haben wir gelernt, dass wir arbeiten müssen, wenn wir essen wollen. Am Anfang ist es nur unsere Aufgabe, auf ein Problem aufmerksam zu machen, aber je älter wir werden, um so mehr gehört auch die Lösung zu unserer Verantwortung.

Ich weiß nicht, ob das eine echte Hilfe ist, wenn man nachts um drei ein schreiendes Kind durch die Wohnung schleppt, aber vielleicht tröstet es ja ein bisschen, wenn man sich klarmacht, dass da ein Mensch unter Schmerzen etwas äußerst Wichtiges lernt: zu wollen, und auszudrücken, was er will, und damit seine elementare Verantwortung wahrzunehmen. Es ist bis an unser Lebensende unsere Verantwortung, auf Gott zu hören und seine Güte zu suchen. Nicht jemand anders muss das für uns tun, es ist unser Interesse, ihn zu finden, und wir sollen diese Aufgabe so intensiv in die Hand nehmen wie ein hungriges Baby oder ein durstiger Hirsch.