Was betrübst du dich, meine Seele?

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 5. Juni 2005 mit Psalm 42

Der Predigt ging im Gottesdienst die Theaterszene „Allein im Fahrstuhl“ voraus.

42,1 Eine Unterweisung der Söhne Korach, vorzusingen.

2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. 3 Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?
4 Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
5 Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst: wie ich einherzog in großer Schar, mit ihnen zu wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken in der Schar derer, die da feiern.

6 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

7 Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich aus dem Land am Jordan und Hermon, vom Berge Misar. 8 Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.
9 Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens. 10 Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muß ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget? 11 Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?

12 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Unsere Seele zeigt uns, was mit uns los ist. Unter anderem dazu ist sie da. Ob unsere Seele betrübt oder fröhlich ist, das sagt uns, was mit uns los ist. Deswegen sollen wir auf sie hören.
Logo des Besonderen Gottesdienstes am 5. Juni 2005
Manchmal muss erst ein Fahrstuhl steckenbleiben, bis wir das tun. Oder wir müssen irgendwo lange warten, und es gibt nichts zu lesen und keine Musik zu hören. Oder wir können nicht schlafen und haben nachts eine endlose, ergebnislose Diskussion mit unserer Seele, bis wir doch endlich einschlafen. Und wenn die Seele sich gar nicht anders Gehör verschaffen kann, dann kann es auch sein, dass wir krank werden.

Aber so weit soll es ja gar nicht erst kommen. Deshalb reden wir rechtzeitig mit ihr. Hoffentlich. Denn man kann tatsächlich den ganzen Tag über weit weg sein von sich selbst, immer irgendwo da draußen, und der Brennpunkt der Aufmerksamkeit liegt bei den Menschen, mit denen wir zu tun haben oder bei den Aufgaben, die noch auf uns warten oder bei den Arbeiten, die wir gerade tun. So scheint es ja in der Szene vorhin gewesen zu sein: der Tag ist so vollgestopft, man kommt sowieso kaum über die Runden, wo soll da Zeit und Aufmerksamkeit für die Seele herkommen? Es kann tatsächlich so sein, dass wir nicht mehr wahrnehmen, was uns unsere Seele über uns selbst sagen will. Wir sind irgendwo anders, aber nicht mehr bei uns selbst.

Dabei könnte es doch eigentlich eine wunderbare Freundschaft werden. Gott hat uns eine Seele gegeben als ein mächtiges Instrument, das unser Leben mit seiner Musik begleitet. Aus nüchternen Fakten macht unsere Seele ein Erlebnis; aus einer Beziehung macht unsere Seele Liebe und Leidenschaft, die uns beinahe in den Himmel katapultieren; aus dem Anblick einer großen Wasserfläche, über der die Sonne untergeht, macht die Seele das Erlebnis eines unvergesslichen Sonnenuntergangs am Meer. Wenn es in einem Psalm heißt »Lobe den Herrn, meine Seele«, dann heißt das, dass wir zu so einer Haltung der Freude und Dankbarkeit gar nicht fähig sind ohne unsere Seele.

Das ist ja das Merkwürdige, dass in der Bibel die Seele manchmal angeredet wird, so als ob sie jemand anderes wäre. Einerseits sind wir unsere Seele, aber andererseits unterscheidet sie sich auch von uns, wie jemand anderes, und wir können mit ihr sprechen und sie fragen, wie es ihr geht oder sie auffordern, etwas zu tun, z.B. Gott zu loben. Man kann auch davon reden, dass die Seele nach Gott dürstet, so als ob es jemand anderes wäre.

Das heißt, wir können unser Inneres nur begrenzt kontrollieren. Das hat sein Eigenleben und seinen eigenen Sinn, den wir nicht beliebig manipulieren können. Es kann uns sogar in die Quere kommen und unsere besten Absichten immer wieder gezielt torpedieren. Vor allem aber will es nicht übergangen werden, sondern gehört werden und freundlich behandelt werden.

Übrigens ist die Benennung der einzelnen Teile unseres Innenlebens ziemlich flexibel. Die sind nicht so klar voneinander abgegrenzt wie die Organe unseres Körpers. Was die Lunge ist und was der Magen, das kann man sehen, wenn man nachschaut. Aber was unsere Seele ist und was unser Herz und was unser Geist und was unser Sinn – das kann man nicht so genau definieren, auch in der Bibel sind die Übergänge fließend. Was von der Seele gesagt wird, das könnte manchmal auch vom Herzen gesagt werden. Und diese Flexibilität in den Begriffen, die passt ja genau zu dem, was wir heute über das Gehirn wissen, dass das nämlich ein Organ mit enormer Flexibilität ist, das sich selbst reparieren und umbauen kann, wo die einzelnen Bereiche nicht starr zugeordnet sind, sondern sie können nötigenfalls wachsen oder schrumpfen, ein Bereich kann die Aufgaben eines anderen mit übernehmen, und überhaupt hängt alles mit allem zusammen.

In der Bibel wird vom Herzen meist dann geredet, wenn es um unseren Willen und unseren klaren Verstand geht, um Entscheidungen und Grundüberzeugungen. Das ist ein bisschen anders als in unserer heutigen Sichtweise, wo wir beim Herzen meist an Gefühle denken. Aber eigentlich ist das auch in unserer Sprache so, dass es beim Herzen um Entscheidungen und Willenserklärungen geht. Wenn wir etwa sagen: »dir gehört mein ganzes Herz«, dann ist das eigentlich nicht so sehr die Beschreibung eines Gefühls, sondern mehr eine Entscheidung darüber, dass ich jemandem einen großen Einfluss auf mich einräume.

Das, was wir Gefühle nennen, das wird in der Bibel eher unter dem Titel »Seele« beschrieben. Die ist das Instrument, mit dem wir Gott loben, aber vor allem zeigt sie an, was uns fehlt. Wie ein durstiger Hirsch, der nach Wasser schreit, so wird hier die Seele beschrieben.

Im Psalm ist das ein Bild dafür, wie die Seele nach Gott und seiner Nähe schreit. Das gehört zu den Grundbedürfnissen der Seele, das braucht sie. Aber ich muss das erkennen, ich muss auf meine Seele hören, um herauszufinden, was sie wirklich braucht. Vielleicht ist sie ja auch schon mit ein bisschen Vergnügen und einem kitschigen Liebesroman zufrieden? Oder reicht es ihr, wenn alle Leute sagen, dass ich ein toller Kerl bin? Klar tut das der Seele gut, aber wenn wir sie wirklich kennen, dann merken wir, dass sie im Grunde nach etwas anderem sucht.

Deswegen ist das so wichtig, dass wir lernen, gut auf unsere Seele zu hören. Die kann sich nicht so vernünftig ausdrücken wie andere Teile unseres Innenlebens. Die gibt eher grundsätzliche Signale wie »ich bin unterversorgt« oder »es geht mir gut«, »ich freue mich«. Vielleicht kann man das mit einem Kind vergleichen, das kann auch nicht genau sagen, was es möchte, vielleicht weiß es das ja selbst nicht so genau, und Eltern müssen dann einfach nach dem Versuch- und Irrtum-Verfahren herausfinden, was ihm fehlt, und wenn das Kind schließlich nicht mehr schreit, dann merken sie: ah ja, das war’s! Eltern, die gut auf ihr Kind achten, die wissen bald ziemlich genau, was es braucht.

So muss man sich das auch mit der Seele vorstellen: wenn wir ihr Aufmerksamkeit schenken, dann verstehen wir immer besser, was sie uns sagen will. Vielleicht müssen wir Tagebuch führen, damit wir langfristig erkennen, was unserer Seele gut tut. Oder wir kommen mit unserer Seele vor Gott und geben ihr da den Raum, den sie braucht. Und dann können wir auch gezielt dafür sorgen, dass es ihr gut geht. Denn wenn es der Seele gut geht, dann geht es auch uns gut. Wir erleben ja mit der Seele.

Hier in dem Psalm sagt einer: meine Seele dürstet nach Gott, sie braucht ihn so dringend, wie ein Hirsch frisches Wasser. Der hat gelernt, seine Seele zu verstehen. Ganz oft äußert sie sich ja einfach so, dass wir nur merken: da fehlt etwas, da ist Hunger und Durst. Und manchmal tun wir dann das scheinbar Naheliegende und versuchen das zu füllen mit Essen und Trinken. Ja, irgendwie gibt sie dann auch erstmal Ruhe, und nur wenn wir genau hinhören, dann merken wir, dass sie eigentlich etwas anderes braucht. Ja, wir können unsere Seele so trainieren, dass sie gar nicht mehr wirklich weiß, was sie möchte. So wie man ein Kind vor den Fernseher setzen kann, und es gewöhnt sich dran und merkt gar nicht mehr, dass es menschlich unterversorgt ist.

Oder wenn wir an die Frau Kaufmann in der Szene am Anfang denken, dass die sich so mit Terminen zuknallt, das liegt ja auch nicht bloß an all den anderen, die was von ihr wollen. Irgendwie läuft sie ja auch dem hinterher, wovon sie glaubt, dass es sie zufrieden und erfüllt macht. Die ganzen Dinge, die uns in Bewegung halten, seien wir ehrlich, das sind nicht nur Zwänge, die wir nicht vermeiden können, sondern da laufen wir auch all den Dingen hinterher, von denen wir hoffen, dass sie uns erfüllen und unserer Seele gut tun werden, jedenfalls irgendwann einmal, hoffentlich.

Das Verrückte ist nur, dass wir dann gar nicht mehr dazu kommen, unsere Seele zu fragen, was sie denn wirklich will. Es gibt ja diese Karikatur des Ehemannes, der dauernd Überstunden macht, nie zu Hause ist und aus allen Wolken fällt, wenn seine Familie ihm sagt, dass er selbst ihnen eigentlich viel lieber wäre als all das Geld und die Geschenke, die er mitbringt. So behandeln Menschen oft ihre Seele: sie hören ihr nicht zu, geben ihr das Falsche und fallen aus allen Wolken, wenn sie irgendwann zusammenbricht.

In diesem Psalm hören wir, wie einer im geduldigen Aufmerken auf seine Seele verstanden hat, dass sie in all ihrem Verlangen Gott sucht. All die anderen Dinge sind auch gut, aber ganz zufrieden wird die Seele erst, wenn sie Gott gefunden hat. Deswegen erinnert er sich jetzt an die ganzen Male, wo er im Tempel war, wo er mit vielen anderen zu Gott gekommen ist und vor ihm gefeiert hat. Da ist es der Seele richtig gut gegangen. Und er weiß: weniger darf es nicht sein. Ich kann meiner Seele keinen billigen Trost anbieten, ich muss ihr zureden, dass sie abwartet, bis es wieder so weit ist. Der kennt seine Seele so gut, dass er sie nie umtrainieren würde auf irgendeinen Ersatz, nicht auf Essen und Trinken oder Drogen, aber auch nicht auf Geschäftigkeit, die dazu führt, dass man den ganzen Tag über das Defizit in der Seele nicht spürt. Und trotzdem dabei unzufrieden bleibt und nicht weiß wieso.

Wenn wir auf unsere Seele hören und auf sie achten, dann merken wir, dass sie Gott braucht, dass sie zuerst und vor allem ihn sucht. Vielleicht erinnern wir uns an solche Augenblicke, wo wir bei Gott waren, und unsere Seele das hatte, was sie braucht. Bei uns sind das nicht mehr so die großen Tempelfeste wie im Alten Testament – jetzt, nach Jesus, im Neuen Bund, ist das eher die kleine Gruppe der Jüngerinnen und Jünger, die keinen Tempel mehr brauchen, um Gott zu begegnen. Gott kann überall zu uns reden, weil er in unserem Herzen wohnt durch den Heiligen Geist Jesu. Und einige wenige Menschen können schon einen Schutzraum bilden, in dem wir zu diesem nahen Gott kommen können. Das ist besser als im Alten Bund.

Aber das Bedürfnis unserer Seele ist im Alten und im Neuen Bund dasselbe: Gottes Angesicht zu schauen, so heißt es in der Bibel, seine freundliche Zuwendung zu uns zu erleben, gegen alle anderen Botschaften seine Güte zu spüren. Das braucht unsere Seele, und wenn wir auf sie achten wie Eltern auf ein hilfsbedürftiges Kind, dann werden wir erkennen: es geht ihr immer dann restlos gut, wenn sie dem lebendigen Gott begegnet, der Quelle des Lebens, der uns geschaffen hat, und der unsere Sehnsucht nach vollem Leben stillt.