Das Wunder der Schöpfung

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 15. Juni 2003 mit Psalm 19,2-8

 

2 Der Himmel verkündet es: Gott ist groß
Das Heer der Sterne bezeugt seine Schöpfermacht.
3 Ein Tag sagt es dem andern
jede Nacht ruft es der nächsten zu.
4 Kein Wort wird gesprochen, kein Laut ist zu hören,
5 und doch geht ihr Ruf weit über die Erde
bis hin zu ihren äußersten Grenzen
Gott hat der Sonne ein Zelt gebaut.
6 Sie kommt daraus hervor wie der Bräutigam aus dem Brautgemach,
wie ein Sieger betritt sie ihre Bahn.
7 Sie geht auf am einen Ende des Himmels
und läuft hinüber bis zum anderen Ende.
Nichts bleibt ihrem feurigen Auge verborgen.
8 Das Gesetz des HERRN ist vollkommen, es gibt Kraft und Leben.
Die Mahnungen des HERRN sind gut, sie verhelfen Unwissenden zur Einsicht.

Die Schöpfung hat eine Stimme. Wenn wir aufmerksam sind, werden wir sie hören. Sie ist nicht laut und aufdringlich, aber beständig und beharrlich. Sie wartet auf einen unbewachten Moment, in dem sie unser Herz erreichen kann. Und ich glaube, dass es schwer ist, sich der Wirkung zu entziehen, die ein klarer Sternenhimmel, das gewaltige Meer oder sanfte, bewaldete Hügel auf uns haben.

Wer sich unbedingt von Gott abschotten will, den kann man nur davor warnen, sich einfach so in die Natur hineinzubegeben; zu groß ist die Chance, dass sich in sein Herz auf einmal etwas Ehrfürchtiges und Überwältigendes einschleicht. Und wer darauf achtet, was eigentlich die Botschaft dieses Eindrucks ist, der wird merken: am besten passt dazu das Staunen über die Größe Gottes, der so ein gewaltiges Heer der Sterne aufbietet. Und all die Entdeckungen der modernen Naturbeobachtung sind eigentlich geeignet, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Wir haben ja erst mit Hilfe von Teleskopen und Berechnungen herausgefunden, welche gewaltigen, unermesslichen Räume sich da oben auftun. Ein moderner Übersetzer der Psalmen hat das in einer interpretierenden Übertragung so ausgedrückt:

»Die Milchstraßen singen Gottes Ruhm.
Arktur ist zwanzigmal größer als die Sonne
und Antares 487mal heller als ihr Schein.
Alpha des Orion entspricht 27 Millionen Sonnen,
und Aldebaran hat einen Durchmesser von 50 Millionen Kilometer;
Alpha der Leier, dreihunderttausend Lichtjahre von uns entfernt
und der Nebel des Bootes, 200 Millionen Lichtjahre weit,
sie alle künden das Werk Seiner Hände.«
(Ernesto Cardenal, Zerschneide den Stacheldraht. Lateinamerikanische Psalmen)

All diese Wunder des Himmels sind eben nicht stumm und tot, sondern der Psalm spricht davon, dass sie eine eigene Sprache haben, die man einerseits nicht laut hören kann, und deren Ruf doch unüberhörbar ist. Diesen scheinbaren Widerspruch beschreibt die Übertragung, die ich eben vorgelesen habe, so:

»Seine Sprache ist wortlos,
und nicht gleich dem Redeschwall der Politiker,
und doch ist Seine Sprache unüberhörbar.«

D.h., von der Schöpfung geht eine Wirkung aus, die nicht vordergründig und propagandistisch ist, der man sich aber gar nicht so einfach entziehen kann. Sie macht nicht laut und lärmend auf sich aufmerksam, aber sie spricht kontinuierlich in unsere Seele hinein.

Was sagt sie? Was ist ihre Botschaft? Die Schöpfung sagt etwas über den Schöpfer, so wie man an einem Haus etwas über den Erbauer ablesen kann.

Die Schöpfung redet

  • von der Größe Gottes. Es ist ja schon erstaunlich, welche riesigen Räume es da oben gibt. Das ist ja wirklich nicht mehr vorstellbar, allein schon ein Lichtjahr, die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Und dass dann manche Entfernungen dort oben nach Tausenden und Millionen von Lichtjahren zählen, das geht über unsere Vorstellungsmöglichkeit hinaus. Genauso die Massen, die da herumfliegen und die gewaltigen Kräfte, die sie auf ihren Bahnen halten. Das ist schon gewaltig, und man bekommt eine Ahnung von etwas oder jemand viel, viel größerem.
  • von der Weisheit Gottes. Denn nicht weniger erstaunlich als die pure Größe sind die Mechanismen, die das Weltall zusammenhalten und überall für Ordnung und Berechenbarkeit sorgen. Die Forscher, die versuchen, diese Ordnung zu verstehen, reden davon, dass bestimmte Konstanten und Messzahlen nur um eine Winzigkeit anders sein müssten, und es sähe hier alles anders aus, und es wäre kein Leben möglich. Deshalb gibt es Wissenschaftler, die ernsthaft überlegen, ob es nicht eigentlich völlig unwahrscheinlich ist, dass ihre Zahlen sich einem Zufall verdanken, und ob sie nicht viel eher auf eine bewusste Planung hindeuten.
  • Noch viel mehr verstärkt sich dieser Eindruck, wenn wir uns die Mechanismen des Lebendigen anschauen. Was da in den letzten hundert Jahren entdeckt worden ist an Wundern z.B. im Aufbau unserer Gene oder im Zusammenspiel der Millionen Zellen eines Lebewesens, oder auch die geniale Konstruktion des Gehirns – man kann wirklich nur staunen. Und trotz allen Forschens ist es bisher keinem Menschen gelungen, so etwas wie Leben auch nur ansatzweise künstlich zu erzeugen. Aber Gott ist der lebendige Gott, und er schafft und liebt das Leben, und wir selbst sind auch Leben und sollen befreundet sein mit dem Leben.
  • Weiterhin redet die Schöpfung von der Macht und Gewalt Gottes. Wir spüren etwas davon in den Windböen eines Gewittersturms, in den Schlägen von Blitz und Donner und in den rauschenden Wassermassen, die vom Himmel stürzen. Wir ahnen sie in den Sternexplosionen, von denen wir manchmal Fotos sehen, und in der Kraft großer Raubtiere. Und es ist ein Hinweis auf eine Kraft, mit der man sich lieber nicht anlegen sollte, ein Hinweis darauf, dass Gott kein zahmer Schoßhund ist und es gar nicht selbstverständlich ist, dass dieser gewaltige und schreckliche Gott sich durch Jesus als ein Gott der Liebe enthüllt.
  • Die Schöpfung redet schließlich von Gottes Liebe zur Schönheit. Das ist ja wirklich nachdenkenswert, warum man bei der Betrachtung der Welt immer wieder auf Schönheit stößt – und zwar sowohl bei der Betrachtung der äußeren Welt, als auch wenn man anfängt, sie mit dem Mikroskop zu untersuchen oder sie in Formeln zu beschreiben. Das wäre ja eigentlich überhaupt nicht notwendig, dass die Konstruktion der Welt ein Echo in unseren Empfindungen hervorruft. Es reicht doch eigentlich, dass ein Wald gutes Holz liefert – warum müssen wir von seinem Anblick denn angerührt sein? Aber es ist so. Gott hat in die Welt Schönheit hineingelegt, und auch sie redet zu uns.

Alle diese – ich nenne es mal: Impulse – also alle diese Impulse, die aus der Schöpfung heraus uns erreichen, die sind nun aber nicht eindeutig und unverwechselbar; in all ihrer Eindringlichkeit bleiben es doch immer nur Hinweise, gegenüber denen man sich auch verschließen kann. Das ist gemeint, wenn es im Psalm über die Schöpfung heißt:

4 Kein Wort wird gesprochen, kein Laut ist zu hören, 5 und doch geht ihr Ruf weit über die Erde bis hin zu ihren äußersten Grenzen.

Auch das Reden Gottes durch die Schöpfung ist wie alles Reden Gottes nicht so, dass uns keine andere Wahl bleibt als darauf zu hören. Gott dröhnt uns nicht zu, er beschwatzt uns nicht pausenlos, er ist nicht laut und aufdringlich. Es ist ein Rufen und Werben, das unser echtes Ich erreichen will. Es ist beständiges ruhiges Mitreden, das seine Wirkung tun wird.

Man muss sich deutlich machen, wie sehr in der Bibel immer die Natur mitredet. Jesus z.B. verbrachte viel Zeit draußen. Er redete nicht in einem Kongresssaal, sondern am See Genezareth, auf einem Berg oder in der Wüste. Er machte mit seinen Jüngern lange Wanderungen von einem Ort zum anderen. Er fuhr mit ihnen im Boot auf dem See Genezareth – und jeder von uns, der schon mal Boot gefahren ist, weiß, dass es ein ganz eigenes Gefühl ist, in einem kleinen Boot auf dem Wasser zu sein.

Wer weiß, ob nicht die Vögel über Jesus kreisten, als er davon sprach, dass Gott sich auch um die Spatzen kümmert. Und ob er nicht auf echte Blumen zeigte, als er von der Schönheit der Lilien auf dem Felde sprach. Seine Taufe fand im Freien statt, unter dem offenen Himmel Gottes. Und viele seiner Gleichnisse waren plausibel, weil die Menschen die Anschauung von Saat und Ernte vor sich hatten.

Deshalb ist es so schade, dass wir heute immer mehr dazwischen schieben zwischen uns und die ursprüngliche Schöpfung. Natürlich ist das viel komfortabler, wenn wir geheizte Häuser haben und im Auto durch die Welt fahren, aber es entgeht uns auch ganz viel. Sie wissen wahrscheinlich, dass ich im Augenblick die Vertretung in Klein Ilsede mache, und ich habe mir am Anfang fest vorgenommen, wenn es irgend geht, den Weg dorthin mit dem Rad zu machen und nicht mit dem Auto. Und das habe ich bis jetzt auch ziemlich konsequent durchgehalten. Es hat ja auch in den letzten Wochen selten geregnet. Und ich merke, wieviel mir das gibt, wenn ich zwischendurch diese paar Minuten in den Feldern und Wiesen habe. Es ist einfach schön da, und ich komme danach erfrischt und mit guten Gedanken dort an. Natürlich würde ich mit dem Auto ein paar Minuten sparen, aber mir würde so viel entgehen.

Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen ich genauso genervt war wie die beiden Mädchen vorhin in der Szene von dem Naturgetue der Erwachsenen. Wir hatten an unserer Schule einen Kunstlehrer, und immer, wenn in der Nähe der Schule ein neues Haus gebaut wurde, dann klagte er darüber, dass uns der ganze Himmel zugebaut wird. Wir haben damals darüber gelacht. Wir fanden das albern. Heute verstehe ich, was er damit gemeint hat. Wo hat man bei uns eigentlich noch einen weiten Blick bis zum Horizont? Wir müssen rausgehen aus den Städten, bevor man den Blick frei schweifen lassen kann. Je größer die Stadt ist, um so kleiner wird das Stück Himmel, das man noch sehen kann. Das Erlebnis, unter einem gewaltigen Himmel zu stehen, ist für viele aus ihrem Alltag verschwunden. Genauso, wie man im Alltag nur noch selten das Erlebnis von wirklicher Stille hat, weil überall künstliche Lärmquellen stören. Und wie überall die Landschaft verschandelt ist durch weggeworfene Reifen, Getränkedosen, Papier und anderen Unrat.

Und trotzdem passiert es auch heute, dass einer überwältigt wird vom Anblick einer Sternschnuppe, vom Gedanken an die Massen von Sternen, die da oben rumhängen, oder vom Rauschen des Windes in den Bäumen. Ich habe die Vorkonfirmandinnen vorhin gebeten, etwas über unseren Abendspaziergang bei der Konfirmandenfreizeit zu schreiben, weil wir das da ganz regelmäßig erleben, dass die Gruppen tief beeindruckt sind von dieser herrlichen Landschaft im Harz. Dieser Eindruck sucht sich seinen Weg zu den Herzen. Man kann das nicht erzwingen, aber es passiert eben ganz verlässlich, dass Menschen angesprochen werden von der Stimme der Schöpfung, wenn sie ihr Herz nicht ganz dagegen abschotten.

Ich finde, jede Kirchengemeinde sollte möglichst einen großen Garten haben, am liebsten einen kleinen Park, und am besten noch einen See dabei, eine Umgebung, wo Menschen neue Kraft tanken können.

Wir haben vorhin in der Epistel gehört, wie Paulus davon redet, dass man an der Schöpfung etwas ablesen kann über den Schöpfer. Und er sagt gleichzeitig: aber sie wollten Gott nicht ehren, sie wollten ihm nicht danken, sie wollten lieber die Geschöpfe vergöttern als den Schöpfer dahinter verehren. Natürlich können wir »die Natur« vergöttern oder das »Netzwerk des Lebens« oder auch unsere Haustiere. Aber damit laden wir den Geschöpfen eine Bedeutung auf, die für sie zu schwer ist. Sie ist ein gewaltiger und reicher Hinweis auf Gott, nicht mehr und nicht weniger. Gott wollte nicht, dass wir Ihn nur theoretisch erkennen, sondern er wollte, dass wir mit all unseren Sinnen einen Eindruck von ihm bekommen, er wollte uns als ganze Menschen erreichen, und so schuf er diese Welt, in der wir so viele Mosaiksteine seines Bildes finden. Und von Jesus Christus aus können wir sie richtig zusammensetzen.