Gott schuf die Zeit – aber wo ist sie geblieben?

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 18. Mai 2003 zu Prediger 3,1-11

Am Anfang des Gottesdienstes war eine Theaterszene zu sehen, das ein unter Zeitstress stehendes Ehepaar zeigte.

1 Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine von Gott bestimmte Zeit:
2 geboren werden und sterben, einpflanzen und ausreißen, 3 töten und Leben retten, niederreißen und aufbauen, 4 weinen und lachen, wehklagen und tanzen, 5 Steine werfen und Steine aufsammeln, sich umarmen und sich aus der Umarmung lösen, 6 finden und verlieren, aufbewahren und wegwerfen, 7 zerreißen und zusammennähen, schweigen und reden. 8 Das Lieben hat seine Zeit und auch das Hassen, der Krieg und der Frieden.
9 Was hat ein Mensch von seiner Mühe und Arbeit? 10 Ich habe die fruchtlose Beschäftigung gesehen, die Gott den Menschen auferlegt hat.
11 Gott hat für alles eine Zeit vorherbestimmt, zu der er es tut; und alles, was er tut, ist vollkommen. Dem Menschen hat er eine Ahnung von dem riesigen Ausmaß der Zeiträume gegeben, aber von dem, was Gott in dieser unvorstellbar langen Zeit tut, kann der einzelne Mensch nur einen winzigen Ausschnitt wahrnehmen.

Was mich an unserem Thema besonders beeindruckt, das ist der Unterschied zwischen der Hektik, die manchmal in unserem Leben herrscht, und der Souveränität Gottes, der mit großer Sicherheit und Ruhe die Welt mit ihren unzähligen Einzelheiten erschaffen hat und erhält. Da ist auf der einen Seite dieses Ehepaar, das noch nicht einmal beim Essen zur Ruhe kommt. Die stecken voll in der Zeitfalle drin, und sie haben überhaupt keinen Abstand davon, sie machen sich gegenseitig Stress und beschuldigen sich und bringen sich so immer tiefer hinein.

Ich glaube, dass sie damit repräsentativ sind für weite Bereiche unserer gesellschaftlichen Gegenwart. Natürlich gibt es auch jede Menge Menschen, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit tun sollen, die sich langweilen und sich irgendwie die Zeit vertreiben. Aber wer im besten Alter, gesund und leistungsfähig ist, dessen Zentralproblem besteht meistens darin, dass er »keine Zeit hat« wie man so sagt. Als wir neulich im Gottesdienste-Vorbereitungskreis über das Thema dieses Gottesdienstes sprachen, da kamen wir darauf, dass Geld heute eigentlich gar nicht mehr das Problem Nummer eins ist. Jemandem, der in Not ist, zum Beispiel mit Geld zu helfen, das kann man sich schon vorstellen. Aber etwas von seiner Zeit zur Verfügung zu stellen, das ist schon eine ganz andere Sache. Damit sind viele von uns wesentlich zurückhaltender. Denn die ist oft das viel knappere Gut.

Im Gegensatz zu unserer kurzatmigen Hektik steht die Souveränität Gottes, der die Zeiten geschaffen hat und sie von Anfang bis Ende überblickt. Aber weil wir nicht alle Dinge überschauen können, deshalb hat Gott die Zeit geschaffen, damit wir die Dinge eins nach dem anderen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken können. Deswegen ist in der Bibel »Zeit« nicht verstanden als eine neutrale Ansammlung von Minuten und Stunden, wie unsere Uhren sie messen. Zeit ist immer konkrete, gefüllte Zeit. Deswegen redet der Prediger Salomon von den verschiedenen Zeiten, von der Zeit des Aufbauens und der Zeit des Abreißens, von der Zeit des Klagens und der Zeit des Tanzens, von der Zeit des Liebens und der Zeit des Hassens.

Die Zeiten sind anscheinend nicht gleich. Wir haben nicht die freie Auswahl, was wir tun wollen. Die Zeiten sind vorgeprägt. Von dem Dichter Bertolt Brecht stammt ein berühmtes Gedicht, das heißt »An die Nachgeborenen«. Brecht lebte in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Und er beklagt sich und sagt: wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Wir sind in eine ganz besonders schwere Zeit hinein geboren worden. Wenn ihr später einmal zurückschaut auf uns, und dann auch seht, was wir alles falsch gemacht haben, dann bedenkt, unter welchen Umständen wir leben mussten, und denkt mit Nachsicht an uns!

Wir müssen uns nicht streiten, welche Generation es nun am Allerschlechtesten hatte. Wichtig ist nur: Wir kommen in Zeiten hinein, die wir uns nicht aussuchen können. Und wir können auch nicht kurzerhand beschließen, dass es eine andere Zeit ist. Sondern wir müssen in der Zeit leben, in die wir hineingestellt sind. Wir können es gut oder böse machen, besser oder schlechter, aber wir kommen nicht heraus aus unserer Zeit.

Und das gilt nicht nur für die großen Epochen der Weltgeschichte, sondern das gilt im Prinzip genauso für alle Tage unseres Lebens, ja, im Grunde für jeden Augenblick. Und unser ganzer Zeitstress kommt daher, dass wir zu oft gegen die Ordnungen der Zeit leben, dass wir versuchen die Zeiten umzudefinieren. Das kostet enorme Kraft, und wir erreichen wenig. Deswegen beendet der Prediger Salomo seiner Aufzählung der Zeiten mit dem Satz: »Man mühe sich ab, wie man will, man hat doch keinen Gewinn davon.« Racker dich nur ab, du kannst die Ordnung der Zeiten nicht aufheben.

Hier begegnen wir einem Muster, das uns bei den Jahreszeiten viel geläufiger ist. Auch da gibt es ja die Zeit des Wachsens und Blühens, die Zeit der Ernte, die Zeit des Verwelkens und die Zeit, in der das Leben ruht. Oder die Woche mit dem Ruhetag und den Werktagen. Gott gab der Natur und dem Leben Rhythmus und Takt. Es war seine gute Idee, dass nicht alles chaotisch und willkürlich durcheinander geht, sondern überall arbeitet er mit rhythmischen Wiederholungen. So behalten wir den Überblick in der riesigen Fülle der Wirklichkeit.

Das ist eine wirklich grundlegende Beschaffenheit der Welt: gleich am Anfang, als Gott mitten im Chaos mit der Schöpfung begann, da schuf er den Rhythmus von Tag und Nacht. Im Chaos kann keiner leben, deshalb schafft Gott die grundlegenden Rhythmen der Zeit. Und jeder von uns weiß, wie viel Kraft es kostet, wenn wir etwa gegen den Rhythmus von Tag und Nacht anleben wollen oder müssen.

Die Ordnung der Zeiten ist nicht immer so offensichtlich wie es die Ordnung von Tag und Nacht ist. Aber in jedem Fall geht es darum, dass wir erkennen, welche Zeit ist, und dann das Richtige tun: nicht zu früh, und nicht zu spät. Es hat keinen Sinn, im Winter Samen auszustreuen, und es ist vertane Zeit, schon im Herbst den Schlitten herauszuholen.

Bei den Jahreszeiten ist das noch einigermaßen einleuchtend, auch wenn wir uns natürlich solche Verrücktheiten erlauben wie Erdbeeren im Winter. Viel schwieriger ist es aber, zu wissen, wann es Zeit ist, auf einen Menschen zuzugehen und ihm eine wichtige Frage zu stellen; wann es Zeit ist, mit aller Kraft gegen eine Krankheit anzukämpfen, und wann es Zeit ist, sich aus dieser Welt zu verabschieden; wann es Zeit ist zu kämpfen, und wann es Zeit ist, sich zu fügen; wann es Zeit ist, mit aller Kraft zu arbeiten, und wann es Zeit ist, die Arbeit aus der Hand zu legen, zurückzuschauen und zu ruhen.

Im Johannesevangelium (7,3-6) gibt es eine kurze Episode, wo die Brüder Jesu ihn auffordern, nach Jerusalem zu gehen, um dort öffentlich bekannt zu werden. Johannes schreibt aber gleich dazu, dass sie das aus Unglauben tun – sie glauben sowieso nicht an seine Mission. Jesus gibt Ihnen eine bemerkenswerte Antwort: »Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Aber für euch passt jede Zeit.«

Das heißt, Jesus kann ganz geduldig warten, bis genau der richtige Moment gekommen ist. Seine Brüder dagegen versuchen ihn zu drängen, denn sie haben keine Ahnung von Gottes Timing. Hätte er auf sie gehört, dann wäre es schief gegangen. Aber sie waren ja an der Sache sowieso nicht interessiert.

Jesus war ein Meister darin, die Zeiten zu erkennen. Jesus hatte unglaublich viel zu tun, manchmal drängten sich den ganzen Tag über Menschen bei ihm, die ihn sprechen wollten. Er hatte beinahe kein Privatleben. Aber er war nie in Eile. Jesus bedeutet eigentlich, das eine enorme Intensivierung und Beschleunigung in die Welt kommt. Der Weltprozess treibt immer schneller auf seine endgültige Zuspitzung zu. Jesus hat seine Jünger beauftragt, mit aller Energie an eine riesige Aufgabe zu gehen, nämlich allen Menschen das Evangelium zu bringen. Schon die ersten Jünger sandte er aus, um im ganzen Land zu predigen und zu heilen. Im Grunde brachte er einen enormen Stress in ihr Leben. Aber als sie dann zurückkamen und immer noch so viele Leute da waren, dass sie noch nicht mal mehr zum Essen kamen, da sagte er zu ihnen: jetzt ist Pause! und sie nahmen sich ein Boot und machten eine Segeltour mit Picknick am See Genezareth.

Was heißt das alles für uns?

Wenn wir in Stress geraten, dann liegt das normalerweise daran, dass wir entweder zu viel auf einmal wollen, das Falsche wollen, oder eine richtige Sache zu früh wollen. Und es geht dann immer darum, dass wir zuerst einmal einen Schritt zurücktreten, uns innerlich aus der Situation ausklinken und danach fragen, was denn Gottes Wille in dieser Zeit ist. Wir müssen zuerst einmal alle Hektik aus unserem Herzen verbannen. Eile ist eine Art, wie man Dinge erledigen kann; Hektik ist eine Herzenseinstellung. Manchmal müssen wir uns sehr beeilen, aber wir dürfen nie in Hektik verfallen. Wir können darauf vertrauen, dass Gott uns genügend Zeit für alles Nötige gegeben hat, nicht für das Unnötige, aber auch eine Zeitreserve für das Schöne und Erfreuliche. Deshalb: wenn wir merken, dass wir in eine ungute Hektik geraten, ist das ein Zeichen dafür, dass wir aus dem Willen Gottes herausgefallen sind. (Nur in Klammern: solche Diagnosen sollte man natürlich nur bei sich selbst stellen und nicht bei andern, jedenfalls nicht ungebeten. Wir haben da alle mit uns selbst genug zu tun.)

Und wenn wir merken, dass da etwas mit uns und unserer Zeiteinteilung nicht stimmt, dann sollten wir uns ungefähr diese drei Fragen stellen:

1. All dass viele, was da auf mich einstürmt: will ich das eigentlich, oder will das jemand anders? Schiebt da vielleicht jemand anders mir seine Probleme zu? Habe ich jemandem erlaubt, sich auf meine Kosten Entlastung zu schaffen? Und ist das legitim, oder ist es seine Verpflichtung, dieses Problem zu lösen?

Wenn jemand anders eigentlich die Verantwortung für die Lösung dieses Problems hat, dann ist es nicht Gottes Wille, dass ich es ihm abnehme. Und es ist nicht gut und nicht gesund, wenn ich es trotzdem tun. Darauf liegt kein Segen.

2. All das viele, was ich dann immer noch machen möchte, muss dann durch einen zweiten Filter: dient es meinen langfristigen Lebensziele? Will ich das wirklich? Wäre es nicht besser, die alten Tapeten noch ein paar Jahre dran zu lassen und auf den Wintergarten zu verzichten, dafür aber lieber jetzt schon mit alten und neuen Freunden zusammenzusitzen? Was ist wichtiger, was werde ich einmal am Ende meines Lebens bereuen: die alten Tapeten, das weniger verdiente Geld, oder die abgerissenen Kontakte zu Menschen? Wie viele Menschen ärgern sich schließlich, dass sie ihre Zeit vertun vor dem Fernseher, am Computer, mit dem Lesen von Zeitschriften, deren Inhalt sie hinterher sofort wieder vergessen haben, mit all diesen Zeitfressern? Wir müssen unser langfristige Lebensziele kennen, und wir müssen sicher sein, dass Gott dazu »Ja« gesagt hat. Dann können wir viele Dinge streichen, damit wir das tun, was wirklich zählt.

Übrigens kann das für manche auch durchaus bedeuten, dass sie ihrem inneren Schweinehund einen Tritt geben müssen, damit sie runterkommen vom Sofa und endlich das anpacken, wozu sie berufen sind! Es geht nicht darum, dass wir mehr oder weniger tun, sondern das Richtige! Und das kann auch mal bedeuten: setz dich endlich in Bewegung!

3. Schließlich sollten wir die Probe machen und überlegen, was passieren würde, wenn wir etwas nicht tun. Was werden die Folgen sein? Wie hoch ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen? Es gibt viele Dinge, da ist unsere erste Reaktion: das muss ich doch machen, das kann ich doch gar nicht vermeiden. Aber wenn wir uns einfach mal vorstellen, wir würden es sein lassen, und ernsthaft überlegen, was die Folgen wären, dann merkt man ganz oft, dass eigentlich nichts Schreckliches passiert. Wir tun so viel Überflüssiges. Und wir setzen damit vielleicht sogar noch andere Menschen unter Druck und machen ihnen auch noch Stress. Stress fällt ja nicht vom Himmel, er wird normalerweise von Menschen in die Welt gebracht. Lasst uns möglichst nicht zu diesen Leuten gehören! Uns allen wäre geholfen, wenn wir öfter mal eine Sache nicht tun würden, und dafür das Richtige ganz und mit voller Energie.

Je besser wir lernen, die Zeiten zu erkennen und im Willen Gottes zu sein, umso mehr werden wir bewirken, und umso weniger Stress werden wir haben.