Hinabsteigen zur Größe

Predigt am 4. April 2004 zu Philipper 2,5-11

5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: 6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 11 und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Als Überschrift für diesen Abschnitt hat mal jemand (und zwar Bill Hybels; er hat eins seiner Bücher so genannt) den Titel gewählt: »Hinabsteigen zur Größe«. Das beschreibt die innere Logik des Weges Jesu: wer wahrhaft groß sein will, muss die Richtung nach unten einschlagen. So wie Jesus nicht im Himmel geblieben ist, sondern herabgekommen ist, um ein nicht einfaches Leben hier bei uns zu führen. In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie Jesus ursprünglich mit Gott gleich war. Er hat mit Gott die Welt erschaffen, er war allmächtig, er saß auf dem Thron des Himmels, wo die Scharen der Engel ihn anbeteten. Aber er gab das alles auf und wurde als hilfloses Kind in einem unhygienischen Stall geboren.

Dieses Muster des Hinabsteigens setzte sich auch in seinem Erdenleben fort: Er war war allmächtig, aber er hatte kein Haus; als er starb, hinterließ er nur die Kleider, die er auf dem Leib trug; er war die Quelle aller Weisheit, und er wurde verspottet; er war der Schöpfer des Lebens, und er wurde getötet.

Jesus hatte sich entschlossen, die Wirklichkeit zu durchleben, sie ganz auf sich zu nehmen, auch wenn das für ihn Schmerzen bedeutete. Die normale Motivation läuft bei uns andersherum: wer es sich leisten kann, der erspart es sich, die unangenehmen Seiten der Wirklichkeit an sich heranzulassen. Wer genügend Geld hat, der muss zwar auch irgendwann sterben; aber vorher hat er meistens bessere Chancen, sich die Unannehmlichkeiten des Lebens vom Leibe zu halten. Wer genügend Macht hat, der kann anderen die mühsamen Posten zuschieben; wer genügend Ansehen hat, der hat ein wohltuendes Pflaster für die Wunden, die der Seele trotz allem geschlagen werden. Deshalb ist die normale Bewegung bei uns nach oben, hinauf, dahin, wo das Leben komfortabler ist.

Jesus dagegen kehrt die Richtung um: aus der Freude des Himmel kam er hinab zu uns in die Welt voller Gefahren. Er hielt nicht gierig an seinem Status als Gott fest, heißt es. Wörtlich: er hielt es nicht für einen Raub, er nahm es nicht als Beute. Kann es sein, dass es die normale Logik unter Menschen ist, die Welt als Beute zu betrachten? Als einen Ort, aus dem man möglichst viel herausholt – und am Ende doch nichts behält?

Beute machen, ausbeuten, das heißt: die Welt darauf hin ansehen, wo sich eine günstige Gelegenheit ergibt, und dann zugreifen, und wer dann etwas erbeutet hat, der sagt: das ist meins! Das gebe ich nicht mehr her!

Allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht so viele Menschen kenne, die sich schnell nochmal 10 Millionen Prämie für besondere Leistungen überweisen lassen. Ich kenne auch nicht so viel Leute, die Menschen des anderen Geschlechts reihenweise abschleppen und anschließend wieder fallen lassen. Wir wissen, dass es das alles gibt, manchmal offenbart sich so etwas gleich neben einem, und alle sagen: das hätte ich aber von diesem netten Nachbarn nicht gedacht! Aber das sind unter uns eigentlich doch die Ausnahmen. Es ist eher so, dass Gier so in die Gesellschaft einsickert und jeder sich irgendwann auch mal so verhält. Und die Hinweise von Paulus sollen verhindern, dass die Christen sich davon anstecken lassen.

Auch damals in der Gemeinde in Philippi saßen ja nicht die großen Ausbeuter und Sklavenhalter. Die kamen erst gar nicht. Und trotzdem zeigte sich etwas davon in allen möglichen Streitereien in der Gemeinde. Nun muss ja Abwesenheit von Streit noch kein Ruhmesblatt sein. Paulus und Jesus haben beide den Konflikt nicht gescheut, wenn die Wahrheit und das Gedeihen der Gemeinde auf dem Spiel standen. Aber Paulus redet hier von Rechthaberei und dem Wunsch, wichtig genommen zu werden; von Leuten, die die Welt nur aus ihrer engen persönlichen Perspektive sehen können; kurz gesagt, von den alltäglichen Reibereien, die entstehen, wenn Menschen um ihre Empfindlichkeiten und ihre Wichtigkeit rangeln. Und das kann ganz schön Sand ins Getriebe streuen, gerade in einer Gemeinde, wo es eigentlich darum geht, sich zu öffnen für Gott und die andern Menschen. Da ist man ganz besonders darauf angewiesen, dass diese ganzen Mischung aus Vorwürfen und Gekränktsein und Nörgelei und Schweigen und Schimpfen keinen Nährboden findet.

Deshalb sagt Paulus: das muss nicht sein, wenn ihr euch an das Muster haltet, das ihr von Jesus kennt. Jesus hat sein Recht, seine Bequemlichkeit und seine Sicherheit nicht mit Gewalt festgehalten. Stattdessen hat er freiwillig die Lasten und Schmerzen der andern mitgetragen. Am Ende eben auch das Kreuz. Er ist hinabgestiegen.

Und Paulus erinnert die Gemeinde an dieses zentrale Muster im Leben von Jesus. Aber gerade weil es so zentral und wichtig ist, ist es auch verfälscht und missbraucht worden. Gerade das, was eigentlich allen einleuchtet und was man frontal nicht angehen kann, das wird eben verfälscht. Wenn man z.B. daraus ein abstraktes Prinzip macht, etwa Demut oder Erniedrigung, dann wird es meistens falsch. Wir müssen deshalb immer fragen: wie war das bei Jesus? Dann wird deutlicher, was »hinabsteigen zur Größe« nicht heißt:

es bedeutet zum Beispiel nicht, dass wir den Spielraum aufgeben, für den wir hier in der Welt Verantwortung haben. Jeder von uns hat einen Verantwortungsbereich, den er im Auftrag Gottes gestalten soll. Zu wessen Verantwortungsbereich es zum Beispiel gehört, Kinder zu erziehen, der würde es ganz falsch machen, wenn er denkt, er müsse jetzt dauernd nachgeben und dürfe seinen Kindern keine Grenzen mehr setzen. Das klingt jetzt vielleicht selbstverständlich. Tatsächlich ist es aber nicht selten so, dass Eltern einerseits keine klaren Linien ziehen, andererseits aber die Kinder anschreien, wenn sie genervt sind. Wir sollen aber das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen – genauso auch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen – nicht nutzen, um unsere persönlichen Launen auszuleben, sondern um andere Menschen auf einen guten Weg zu bringen.

überhaupt bedeutet »hinabsteigen« nicht, dass man Menschen immer ihren Willen tut. Wir sollen unseren persönlichen Vorteil hintenanstellen, aber nicht das, was richtig, wahr und gerecht ist. Jesus hat die Erwartungen von Menschen enttäuscht, er hat deutliche Worte zu seinen Feinden gesagt. Er hat keinen Gegensatz gesehen zwischen Wahrheit und Liebe.

Deshalb ist es auch keineswegs so, dass Christen in einem Konflikt immer nachgeben müssten. Jesus hat das eigentlich nie getan – er hat aber auch nur notwendige und hilfreiche Konflikte vom Zaun gebrochen und nicht welche aus persönlicher Verletztheit oder aus schlechter Laune.

»Hinabsteigen« bedeutet auch nicht, dass wir Raubbau an unseren Kräften betreiben. Jesus hat gewusst, wann er und seine Jünger eine Pause brauchten. Manchmal haben sie Urlaub im Ausland gemacht, manchmal sind sie Segeln gegangen auf dem See Genezareth, einfach um mal eine Zeit lang ungestört zusammen sein zu können. Niemandem nützt es, wenn wir überarbeitet zusammenbrechen. Aber wenn dann plötzlich und unerwartet eine Situation da ist, wo wir jemandem helfen können, dann sollen wir uns schnell umstellen.

Christliche Demut zeigt sich auch nicht darin, dass wir wider besseres Wissen uns selbst und das, was wir tun, herabsetzen. Manche Menschen glauben, sie müssten ihre Leistung schlecht machen, wenn man sie lobt, und das wäre Demut. Es geht nicht darum, dass wir sagen »ach, in Wirklichkeit hat dieses Lied grauenhaft geklungen« oder »in Wirklichkeit war das ja gar keine besondere Leistung«. Es geht eher darum, ob wir es auch aushalten können, wenn niemand merkt, dass wir etwas tolles hingekriegt haben, oder wenn uns jemand zu Recht oder zu Unrecht kritisiert. Wir leben nicht davon, dass wir gut sind.

Schließlich ist dieses Muster, nach dem Jesus lebte, nichts, was man von andern erzwingen oder fordern kann. Wenn das zum Beispiel Kindern aufgenötigt wird, bevor sie es selbst wollen können, dann ist die Gefahr groß, dass sie am Ende gar nicht mehr wissen, wer sie sind und vielleicht eines Tages alles über Bord werfen. Diese Bereitschaft, sich selbst hinzugeben und die eigene Sache Gott anzuvertrauen, das kann nur eine freiwillige Entscheidung sein, und wer das von andern verlangt, der legt ihnen damit eher Steine in den Weg.

Gerade weil Jesus bereit war, seine eigene Sache zurückzustellen, deshalb konnte Gott ihn am Ende erhöhen. Als Jesus starb, da hatte er seine Sache völlig in die Hände Gottes gelegt. Und damit hatte er gezeigt, dass er der Mann war, dem Gott völlig unbesorgt die Herrschaft über die ganze Welt anvertrauen konnte. Gott wusste, dass Jesus sie nicht missbrauchen würde. Deswegen hat er ihm den Namen über allen Namen gegeben: Jesus ist d e r Herr.

Gott wünscht sich, dass sich die Art von Jesus ausbreitet. Deswegen fordert er uns auf, unsere Sache aus der Hand zu geben, damit er sich darum kümmern kann. Er fordert uns auf: lass das Kreisen um dich selbst – ich werde dich ehren, wenn du andere liebst. Gib deine Hingabe an materielle Dinge auf; ich werde dich versorgen, wenn du mich von ganzem Herzen liebst. Gib deine Passivität und Bequemlichkeit auf – ich werde dir die Kraft geben, die du brauchst, und zur rechten Zeit auch eine Pause. Hör auf, dich darum zu sorgen, dass du genug vom Leben hast – ich werde dich mit Freude überraschen, die du selbst nie gefunden hättest. Lauf nicht länger den »wichtigen« und »richtigen« Leuten nach – es gibt eine Gemeinschaft unter den Menschen, die zu mir gehören, die andere weder kennen noch verstehen.

Der Punkt ist: ein gutes Leben entsteht nicht dadurch, dass wir Schmerzen vermeiden, sondern es kommt durch den Mut, die Furcht und auch den Schmerz zu durchleben. Ist das steil? Ja, das ist es. Wir können das alle immer nur annäherungsweise verstehen. Wir werden es erst dann besser verstehen, wenn wir angefangen haben, es zu tun. Erst dann werden wir merken, dass hinter unserer Angst vor Schmerz und Versagen die Freude wartet. Es ist ähnlich wie bei Jesus: niemand wüsste von der Auferstehung, wenn er nicht bereit gewesen wäre, den Tod auf sich zu nehmen. Gott verlangt ja nicht von uns, dass wir uns so wie Jesus ins schreckliche Dunkel fallen lassen. Aber diese kleinen Tode, hinabzusteigen und dann zu entdecken, dass es in Wirklichkeit gar nicht so schlimm ist, zu entdecken, wie gut seine Führung ist, das alles legt er uns nahe, weil er auch in unser Leben die Kraft der Auferstehung bringen will.