Das neue Leben im Visier des Bösen

Predigt am 13. April 2001 (Karfreitag) zu Matthäus 27,33-56

33 So kamen sie an die Stelle, die Golgota heißt, das bedeutet »Schädelplatz«. 34 Dort gaben sie Jesus Wein mit einem Zusatz, der bitter war wie Galle; aber als er davon gekostet hatte, wollte er ihn nicht trinken.

35 Sie nagelten ihn ans Kreuz und losten dann untereinander seine Kleider aus. 36 Danach setzten sie sich hin und bewachten ihn. 37 Über seinem Kopf hatten sie ein Schild angebracht, auf dem der Grund für seine Hinrichtung geschrieben stand: »Dies ist Jesus, der König der Juden!« 38 Mit Jesus zusammen wurden zwei Verbrecher gekreuzigt, einer rechts und einer links von ihm.

39 Die Leute, die vorbeikamen, schüttelten den Kopf und verhöhnten Jesus: 40 »Du wolltest den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen! Wenn du Gottes Sohn bist, dann befrei dich doch und komm herunter vom Kreuz!« 41 Genauso machten sich die führenden Priester und die Gesetzeslehrer und Ratsältesten über Jesus lustig. 42 »Anderen hat er geholfen«, spotteten sie, »aber sich selbst kann er nicht helfen! Wenn er der König von Israel ist, soll er vom Kreuz herunterkommen, dann werden wir ihm glauben. 43 Er hat doch auf Gott vertraut; der soll ihm jetzt helfen, wenn ihm etwas an ihm liegt. Er hat ja behauptet: ‚Ich bin Gottes Sohn.’« 44 Genauso beschimpften ihn auch die beiden Verbrecher, die zusammen mit ihm gekreuzigt worden waren.

45 Um zwölf Uhr mittags verfinsterte sich der Himmel über dem ganzen Land. Das dauerte bis um drei Uhr. 46 Gegen drei Uhr schrie Jesus: »Eli, eli, lema sabachtani?« – das heißt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« 47 Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: »Der ruft nach Elija!« 48 Einer lief schnell nach einem Schwamm, tauchte ihn in Essig, steckte ihn auf eine Stange und wollte Jesus trinken lassen. 49 Aber die anderen riefen: »Lass das! Wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihm hilft.« 50 Doch Jesus schrie noch einmal laut auf und starb.

51 Da zerriss der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel von oben bis unten. Die Erde bebte, Felsen spalteten sich, 52 und Gräber brachen auf. Viele Tote aus dem Volk Gottes wurden auferweckt 53 und verließen ihre Gräber. Später, als Jesus vom Tod auferweckt worden war, kamen sie in die Heilige Stadt und wurden dort von vielen Leuten gesehen.

54 Als der römische Hauptmann und die Soldaten, die Jesus bewachten, das Erdbeben und alles andere miterlebten, erschraken sie sehr und sagten: »Er war wirklich Gottes Sohn!«
55 Es waren auch viele Frauen da, die alles aus der Ferne beobachteten. Sie waren Jesus seit der Zeit seines Wirkens in Galiläa gefolgt und hatten für ihn gesorgt; 56 darunter waren Maria aus Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus und Josef, sowie die Mutter der beiden Söhne von Zebedäus.

Man kann diese Geschichte so lesen, dass man sie versteht als ein Zeugnis der Barbarei, unter der die Menschheit seit Jahrtausenden stöhnt, und die sich auch durch alle Fortschritte der Zivilisation nicht hat von unserem Globus vertreiben lassen. Und das ist nicht falsch. Die Zahl der grausam Gefolterten hat seit damals nicht deutlich abgenommen; immerhin haben wir bei uns seit einem guten halben Jahrhundert das Glück, dass wir uns vor solch einem Schicksal nicht mehr fürchten müssen. Weltweit gesehen ist das ein unwahrscheinliches Privileg.

So kann man diese Geschichte lesen als einen Aufruf dazu, die Perspektive der Opfer einzunehmen und von denen her die Welt zu sehen, die gequält, beleidigt und geopfert werden. Auch das ist nicht falsch. Diese Geschichte ist ja ganz deutlich geschrieben aus der Perspektive des Opfers Jesus und all derer, die zu ihm gehören. Sie ist eine Einübung in eine Sichtweise, die sich nicht von dem Blick auf die angeblichen Staatsnotwendigkeiten täuschen lässt, sondern auf die Leiden und Schmerzen schaut, die Menschen einander zufügen. Und es ist für uns alle wichtig, dass wir uns in dieser Sichtweise üben.

Trotzdem möchte ich die Geschichte von der Kreuzigung Jesu heute noch anders lesen und auslegen, weil ich glaube, dass diese Möglichkeiten nicht den Kern der Geschichte treffen. Sie erzählt ja nicht nur, wie ein Mensch in die Hände der Menschen fällt und von ihnen grausam zugerichtet wird. Wichtiger noch ist, dass Jesus ein ganz besonderer Mensch war, der auch bis dahin schon grundlegend anders gelebt hat als die anderen Menschen. Und nun ist doch die Frage: wird er auch anders sterben als die anderen? Er ist ja schon bis dahin oft angefeindet und verleumdet worden und hat in bewundernswerter und einmaliger Weise darauf reagiert. Jesus hat gezeigt, wie ein Leben nach dem Willen Gottes unter den Bedingungen dieser gefallenen Welt aussieht. Wie wird nun also ein Sterben nach dem Willen Gottes aussehen?

Wenn man über diese Frage nachdenkt, muss eins völlig klar sein: dass Menschen so sterben müssen wie Jesus, das entspricht nicht dem Willen Gottes, genausowenig, wie es in Gottes Sinn ist, wenn Menschen verleumdet und angefeindet werden. Das muss man so deutlich sagen, damit es keine Missverständnisse gibt. Aber wenn es nun schon einmal hier auf der Erde so viel Böses gibt: wie soll ein Mensch dann nach Gottes Willen darauf reagieren? Wie soll ein Mensch sterben, der so ins Fadenkreuz des Bösen gerät wie Jesus?

1. Kein falscher Trost

Sie geben Jesus Wein zu trinken — das ist das Angebot eines betäubenden Trankes, bevor sich die Nägel in die empfindlichen Stellen des Handgelenks bohren werden und das Kreuz aufgerichtet wird. Vielleicht wollen sich die Henker so auch die Arbeit leichter machen. Und gleichzeitig hat irgendjemand etwas Bitteres hineingetan, und hat so die Erleichterung mit Qual verbunden, damit es dem Opfer nur nicht zu gut geht. Aber Jesus trinkt nicht. Er will nicht betäubt und betrunken in diese schlimmste Prüfung gehen. Er weiß: er braucht einen klaren Kopf, auch wenn ihn das die Schmerzen möglicherweise viel deutlicher erleiden lässt. Gerade wenn uns Schweres bevorsteht, brauchen wir Klarheit. Rausch ist der Versuch, die Wirklichkeit nicht klar sehen zu müssen. Aber dann ist gleichzeitig der Blick auf Gott verzerrt, und das wäre für Jesus das Allergefährlichste: wenn er jetzt auch noch die Orientierung auf Gott verlieren würde.

In dieser Situation der Hinrichtung ist Jesus fast nur noch Opfer. Aber an dieser winzigen Stelle, wo er noch Entscheidungsspielraum hat, da nutzt er ihn sofort, um so sterben zu können, wie er gelebt hat: immer auf Gott hin orientiert und gleichzeitig der vollen Wirklichkeit zugewandt.

Und wir sehen an dieser Extremsituation: Jeder, und mag es ihm noch so elend gehen, hat mindestens einen winzigen Entscheidungsspielraum. In allen Situationen ist es wichtig, was wir tun, was wir denken, was wir wollen. Es steht zwar nicht in unserer Macht, die Welt nach unserem Willen zu gestalten, aber andererseits sollte keiner so tun, als sei er nur passives Opfer, und die einzigen, die noch etwas ändern könnten, seien die anderen.

2. In manches kann man sich nur ergeben

Die Feinde haben ja schon immer mit Worten versucht, Jesus anzugreifen und in ihm und seinen Anhängern Zweifel zu säen. Und jedes Mal blamierten sie sich, Jesus antwortete ihnen so, dass sie dumm dastanden und nicht er. Jetzt ist das anders. Sie verspotten ihn, sie weiden sich am Anblick seiner Qual und Ohnmacht, sie lachen über ihn, und er sagt kein Wort dazu. Was sollte er schon sagen? Soll er ihnen sagen, dass sie sich selbst in ihrer Menschlichkeit zerstören, wenn sie jedes Mitleid in sich ersticken? Soll er sie verfluchen? Aber sein Auftrag war es zu segnen! Sie sollen ihn doch nicht noch im letzten Moment von seinem von seinem Auftrag abbringen! Soll er ihnen mit Gottes Strafe drohen? Andere haben in solchen Situationen gesagt: ihr könnt mich töten, aber meine Sache wird weitergehen! Aber das klingt doch eher hilflos. Die anderen Gekreuzigten schaffen sich ein bisschen Erleichterung, indem sie ihn auch beschimpfen. Nein, es gibt nichts was in diesem Moment sinnvoll gesagt werden könnte. Und also schweigt Jesus. Er überlässt die Antwort Gott.

Es gibt Zeiten, wo man dem Bösen ins Angesicht widerstehen muss, es gibt Zeiten, wo man ihn angreifen und jagen muss, und so hat Jesus lange genug gelebt. Es gibt aber auch Zeiten, in denen man sich nur in sein Schicksal ergeben kann. Wo es nichts hilft, zu kämpfen, sondern wo man nur abwarten kann, was Gott tun wird. So eine Zeit erlebt Jesus, und da ist das einzige, was er tun kann:

3. An Gott festhalten gegen den Augenschein

Jesus stirbt mit der Frage: »mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Was bedeutet diese Frage?

Jesus hat bis dahin ein Leben voll Gotteserfahrung gelebt. Er kannte den Willen seines Vaters im Himmel, er tat Gottes Willen, er sprach mit ihm und hörte ihn, er wurde von Gott bestätigt und ermutigt. Und nun ist das alles wie weggewischt. Für uns ist es normal, ohne Gott zu leben, aber für Jesus war Gott das, was für einen Fisch das Wasser ist. Und nun lebt er nicht mehr unter dem deutlich spürbaren Segen und in der klaren Gegenwart Gottes, sondern das alles wird ihm von einer dunklen Hand genommen. Seine Welt besteht nur noch aus Qual, Durst und Feindschaft. Dieser Verlust der Nähe Gottes muss für ihn das Schlimmste gewesen sein. Im Gefühl der Gegenwart Gottes kann man alles ertragen, aber wenn Gott sich zurückzieht und der Himmel verschlossen ist, wie soll man das ertragen?

Und so fragt Jesus Gott mit den Worten des 22. Psalms: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er versteht es nicht, er kann sich keinen Reim darauf machen, aber er hält an Gott fest, er sagt sich nicht von ihm los, sondern er vertraut darauf, dass er sich nicht in seinem Vater im Himmel getäuscht hat, den er eigentlich so anders kennt.

Es gibt nichts in der Welt, was die Macht des Bösen so sehr in Frage stellt, wie wenn ein Mensch, der die Absicht hat, Gott zu dienen, hinausblickt in ein Weltall, aus dem auch der letzte Schatten von Gottes Gegenwart gewichen zu sein scheint, wenn er nur noch fragt, warum er verlassen sei, und trotzdem an Gott festhält.

Was passiert, wenn ein Mensch so stirbt? Auch dazu 3 Punkte:

1. Das Böse kommt an das Ende seiner Kraft

Dieses Dunkel der Bosheit, das den sterbenden Jesus umgibt, das hat ja ein Ziel: ihn davon zu überzeugen, dass er gescheitert ist, dass sein Weg ein Irrweg war. Immer wieder versucht der Feind Gottes, Jesus auf seinem Weg zu irritieren, zu verwirren und zu entmutigen. Das hat begonnen bei seiner Begegnung mit dem Versucher am Anfang seines Weges, und der Tag von Golgatha ist der letzte und stärkste Versuch, Jesus und Gott auseinanderzubringen. Aber als Jesus seinen Weg mit Gott zu Ende geht, als er mit einem schrecklichen Schrei sein Leben abgibt, da ist die Hölle endgültig gescheitert. Sie hat alle ihre Möglichkeiten ausgespielt — vergebens. In einem Moment war Jesus noch im Feuer der Qual — und im nächsten zurück im Vaterhaus, und er bekam die Antwort und verstand, weshalb Gott ihn dies alles durchleiden ließ.

Tod, wo ist dein Stachel — Hölle, wo ist dein Sieg?

Und zum Zeichen dafür bebt die Erde, die Gräber tun sich auf und die scheinbar so klare Ordnung von Tod und Leben gerät durcheinander – weil die Machtverhältnisse in der Welt sich grundlegend geändert haben.

2. An dem gottverlassenen Jesus lesen Menschen etwas von Gott ab

In Wirklichkeit war Jesus nie wirklich von Gott verlassen. Gott war bei ihm, aber Jesus konnte es nicht mehr spüren. So wie auch wir nie wirklich von Gott verlassen sind, und im Rückblick werden wir es einmal verstehen, wie Gott uns auch in den Zeiten getragen hat, wo wir uns ganz von ihm verlassen fühlten.

Und wenn es Jesus nicht mehr merken konnte, einer wenigstens hat es gemerkt: der oberste Henker, der Kommandant des Hinrichtungtrupps. Und ich nehme hier dazu, was Markus in seinem Evangelium über seine Reaktion schreibt. Dieser Mann war ja ein beruflicher Serienmörder. Die Römer kannten sich aus im Töten, auch im Kreuzigen. Der römische Centurio hat in seiner Laufbahn ohne Zweifel genügend Menschen sterben gesehen, um vergleichen zu können. Und die beiden neben Jesus, die ihn noch mit ihrer letzten Kraft beschimpften, die waren nichts Besonderes, sowas kannte er natürlich.

Aber Jesus starb anders als alle anderen, denen der Römer den Tod bereitet hatte. Er war Profi genug, um das zu sehen. Und mit der Klarheit des Professionellen spricht er aus, was das bedeutet: der war tatsächlich Gottes Sohn. Keiner sonst hätte so sterben können. Und so wie Jesus bisher schon mit seinem Leben Menschen überzeugt und gewonnen hat, so gewinnt er noch einmal mit seinen letzten Lebensminuten einen Menschen. Da, wo einer aus Gott lebt, und sei es unter den schlimmsten Umständen, da entfaltet sich die Kraft Gottes und ergreift Menschen.

3. Gott wird antworten

Jesus hat die Antwort Gott überlassen. Und Gott antwortet. Er lässt Jesus vom Tod auferstehen und bricht damit die Herrschaft des Todes. Schon immer war Gott stärker als das Dunkel und als der Tod – aber damit das sichtbar werden kann, musste erst einer wie Jesus kommen und vom Anfang bis zum Ende sein Leben aus Gott heraus leben. Jesus hat alles gewagt – und hat recht behalten mit seinem Vertrauen auf Gott. Nie wieder muss nun jemand so ins Ungewisse hinein wie er. Wir wissen, dass uns hinter dem Vorhang des Todes Gott erwartet, wenn wir in Jesu Namen hindurchgehen. Nicht, dass wir so wären wie Jesus, aber um des Namens Jesu willen wird Gott uns Anteil geben am Leben Jesu.

Wenn unser Wille zum Gehen in Jesu Namen da ist, freut sich Gott auch über unser Stolpern.