Freiheit und Freude loben Gott

Predigt am 24. April 2005 zu Matthäus 21,12-17

12 Und Jesus ging in den Tempel hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß die Tische der Geldwechsler um und die Stände der Taubenhändler 13 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus heißen«; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus. 14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie.
15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«?
17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

Wenn der Sohn Gottes und menschliche Religionsinstitutionen aufeinanderstoßen, dann kracht es gewaltig. Eigentlich sollte ja die menschliche Institution die Begegnung mit Gott ermöglichen; ein Bethaus sollte der Tempel sein. In Wirklichkeit sitzt hier ein erbitterter Widerstand gegen Gott, wenn er kommt, um seine Welt zurückzuholen. Und Jesus ist auch überhaupt nicht zimperlich: er greift zur Gewalt gegen Sachen und attackiert gezielt die Geschäftsgrundlage des Tempels – die Einnahmen aus dem Verkauf von Opfertieren und dem Geldwechsel am Heiligen Ort trugen ganz wesentlich zur Finanzierung des Tempelbetriebs bei.

An diesem Tag in Jerusalem muss ordentlich was losgewesen sein: schreiende Menschen, wild herumflatternde Tauben, Geldwechsler, die hinter ihren Münzen herlaufen, und wahrscheinlich hat mancher zugegriffen und schnell auch ein paar von den Münzen eingesteckt. Als die Kinder »Hosianna dem Sohn Davids!« riefen, da kam das vielleicht besonders aus der Freude über solche Münzen.

An den Kindern, die durch den Tempel toben, merkt man ganz besonders, was da los ist: auf einmal ist ein unkontrollierter Freiraum entstanden, und Kinder haben ja ein Gespür für so etwas und nutzen das gleich aus. Es ist eine Situation wie in Berlin an dem Tag, an dem die Mauer fiel: die Ordnungskräfte sind überrascht und desorientiert, und die Menschen nutzen diesen Raum, wo keiner das Kommando hat und feiern. Das sind ja ganz seltene Situationen, wo plötzlich solch eine unkontrollierte Zone entsteht, und es ist erstaunlich, was alles in den Menschen steckt und in so einem Moment sichtbar wird.

Oder denken wir noch etwas weiter zurück an das Ende des Zweiten Weltkrieges, als die örtlichen Nazi-Größen geflohen waren und die alliierten Truppen noch nicht da waren – auch so eine Situation ohne Kontrolle. Sie wissen wahrscheinlich, der Peiner Bürgermeister und einige andere haben damals die Initiative ergriffen und mit den Amerikanern verhandelt, und das hat der Stadt Kampfhandlungen und Zerstörung erspart. Da merkt man, zu welchen mutigen und verantwortlichen Taten Menschen in der Lage sind, wenn sie auf einmal ohne Vorgaben und Regeln und Kommandos selbst in die Verantwortung kommen.

Von anderen weiß ich, dass damals im Peiner Hafen ein Schiff mit Zucker lag, und viele sind da hingegangen und haben sich ordentlich mit Zucker eingedeckt. Ich habe sogar von einem alten Herrn erzählt bekommen, wie der das gar nicht ausgehalten hat, dass die Leute sich da einfach Zucker holten, und er ist hingegangen und hat noch andere dazu geholt, um das zu unterbinden. Noch wieder von anderen in solchen Situationen hört man, die dann Alkoholvorräte plündern und ein großes Besäufnis veranstalten.

So einen Freiraum schafft Jesus also im Tempel, und diese Unordnung dient Gott besser als die Marktordnung vorher. Vor allem kommen bei dieser Gelegenheit Blinde und Lahme zu ihm: die waren sonst ausgeschlossen und durften nicht in den Tempel hinein, aber jetzt, wo dort alles durcheinander geht, kommen sie hinein zu Jesus und lassen sich von ihm heilen. Jetzt erfüllt der Tempel seine Aufgabe – er vermittelt Menschen den Zugang zu Gott, damit sie heil werden.

Nun ist es natürlich so, dass in solchen Situationen der Kontrolllosigkeit Menschen nicht nur ihre guten Seiten zeigen, sondern möglicherweise auch problematische, manchmal auch hässliche und mörderische Seiten. Sie sind dann einfach viel stärker abhängig von dem Geist, der unter ihnen herrscht. Aber zunächst einmal bekommt es Menschen gut, wenn diese ganze Kontrolle wegfällt, die sonst immer auf uns lastet: dies tut man nicht und das darf man nicht.

In der Gesellschaft hat ja eigentlich jeder Raum irgendjemanden, der ihn kontrolliert. Nur wenn du allein in deiner Wohnung wohnst, hast du einen unkontrollierten Raum, wo du niemanden fragen musst, wie du die Wände streichst und ob du dein Bett machst oder ob du auf dem Fußboden isst und so weiter. Vielleicht ist das ja einer der Gründe, weshalb Menschen manchmal gerne allein leben. Aber außerhalb der eigenen vier Wände gibt es eigentlich überall solche Kontrollpersonen, wie den alten Herrn, von dem ich vorhin erzählte, der zur Not in eigener Initiative hingeht und aufpasst, weil man doch nicht einfach die Anarchie ausbrechen lassen darf.

An diesem Tag in Jerusalem hatten die Kontrollpersonen die Kontrolle verloren. Die Kinder nutzen so etwas sofort, die Erwachsenen denken weiter in die Zukunft und trauen sich das nicht, weil sie wissen: die Ordnung wird zurückkehren, und wer weiß, was dann mit denen geschieht, die heute über die Stränge schlagen. Und tatsächlich ist die Rache der vorübergehend ohnmächtigen Mächtigen oft schrecklich gewesen. Auch an Jesus werden sie sich schrecklich rächen – der endgültige Entschluss, ihn zu töten, ist wohl wegen der Ereignisse an diesem Tage gefasst worden.

Das wissen die Kinder noch nicht. Und weil sie noch nicht so weit denken und nicht so vorsichtig sind, deshalb sprechen sie laut aus, was die Erwachsenen denken: Jesus ist der Sohn Davids. Die Kinder wissen wahrscheinlich gar nicht, dass das ein Titel für den Messias ist und wie es den Priestern graust, als sie das hören.

Und sie gehen zu Jesus und versuchen, ihn dazu zu bringen, dass er die Ordnung wiederherstellt. Sie versuchen es mit ihrer alten Technik: Fragen stellen. Wer fragt, führt. Wer antwortet, unterliegt der Beurteilung. »Hörst du nicht, was die da rufen?« Jesu soll Stellung nehmen. Entweder er bekennt sich zu den Kindern – dann können sie ihm Gotteslästerung anhängen. Oder er distanziert sich – dann werden sie von ihm verlangen, dass er die Ordnung wieder herstellt. Aber Jesu antwortet nur mit einer Gegenfrage: »habt ihr noch nie gelesen – ihr Schriftgelehrte, die ihr doch die halbe Bibel auswendig kennt – habt ihr noch nie Psalm 8 gelesen, wo es heißt, dass Gott von Unmündigen und Kindern gelobt wird?« Wer fragt, führt. Das konnte Jesus auch. Das sollten wir Christen von ihm lernen, dass man nicht vor jedem Fuzzi einknickt und glaubt, man müsste sich rechtfertigen.

Und Jesus sendet damit ja eine unterschwellige Botschaft und sagt: was die Kinder da rufen, das ist das Lob Gottes! Dieses chaotische Kindergeschrei ist ein Lob, an dem Gott mehr Freude hat als an den geordneten Hosiannachören im Tempel.

Nun muss man natürlich dazu sagen, dass nicht jedes Kindergeschrei deswegen gleich schon Lob Gottes ist. Nicht nur Eltern wissen, dass Kinderquengeln oft Unzufriedenheit und schlechte Laune ausdrückt und kein Lob. Aber Jesus macht deutlich, dass in dieser Situation die Kinder am deutlichsten ausdrücken, was in der Luft liegt: mitten in dem durchkontrollierten Tempelbetrieb macht sich die Freiheit der Kinder Gottes breit.

Gotteslob gedeiht nicht unter Kontrolle und in der Gegenwart von Kontrollpersonen. Das ist der Grund, weshalb jeder unbedingt auch immer allein beten soll, damit er seine eigene Sprache findet und nicht darauf Rücksicht nimmt, was Bruder A oder Schwester B dazu sagen könnte. Aber natürlich geht es auch darum, dass wir in der Gemeinschaft eine Freiheit finden, in der sich das Lob Gottes entfalten kann. Die Erinnerung an diesen Tag in Jerusalem, wo Jesus dafür sorgt, dass der Tempel sozusagen instandbesetzt wird, die zeigt uns, was Lob Gottes ist: es ist der Jubel der Befreiten, es ist die Freude der Kinder Gottes, die endlich niemanden mehr im Nacken haben, der ihnen Vorschriften macht, es die Begeisterung der Freunde Jesu, die die Herren dieser Welt hinter sich gelassen haben.

Die Gemeinde ist der Ort, wo mitten in dieser kontrollierten Welt Freiheit aufleuchtet, wo der Druck des Sich-Rechtfertigen-Sollens weicht, wo die Kontrollettis schlicht ausgelacht werden und keinen Fuß in die Tür bekommen. Wo Entrüstung, Vorwürfe und die ganzen anderen Manipulationstechniken durchschaut werden. Wo Gott ohne Rücksicht gelobt wird.

Wir wissen, dass das leider oft auch in christlichen Religionsinstitutionen nicht so ist. Religionen neigen dazu, mit Kontrolle, Manipulation und schlechtem Gewissen zu arbeiten, wie damals in Jerusalem. Schon Paulus hatte seine liebe Not mit den Leuten, die in seine Gemeinden kamen und sagten: »Ihr seid ja gar keine richtigen Christen, ihr müsst … euch beschneiden lassen, das Gesetz halten, usw.« Das ist leider so, dass ein Raum der Freiheit immer auch Menschen anzieht, die dort offen oder versteckt das Kommando übernehmen wollen. Am Ende ist es Jesus selbst, der unsere Freiheit verteidigt, wie damals in Jerusalem. Ohne ihn wären wir immer in Gefahr, zum Schutz vor Kontrolle am Ende doch wieder zur Kontrolle zu greifen.

Der wirkliche Schutz sind solche Geschichten vom Jesuslob der durch den Tempel tobenden Kinder. Es ist der Geschmack der Freiheit, den man nicht vergisst, wenn man ihn einmal gekannt hat. Jedenfalls hoffe ich, dass wir uns gut an ihn erinnern. Der wirkliche Schutz sind die Menschen, die in der Freiheit Jesu verankert sind und sich das nicht nehmen lassen. Nebenbei, in der Politik ist es ja genauso.

Das Lob Gottes im Volk Gottes ist der Jubel der Befreiten. Das war schon so nach der Befreiung aus Ägypten am Schilfmeer. Wo man Bedrückung hinter sich lässt und vorangeht in die Freiheit Gottes, da fangen Leute an zu singen. Ich habe vorhin von diesen strategischen Situationen erzählt, Fall der Mauer und Ende der Naziherrschaft, solche Momente der Befreiung, wo die Menschen anders sind als sonst, weil der Druck von ihnen fällt. In der politischen Geschichte sind das seltene Momente. Die Gemeinde ist dafür da, solche Momente am laufenden Band zu schaffen. Nicht immer in dieser historischen Tragweite, aber von der gleichen Qualität. In der Gemeinde herrscht der Heilige Geist der Freiheit, und der kann gar nicht leben, wenn er keinen Raum zur Entfaltung hat. Die Kinder im Tempel und die Kranken die zu Jesus kamen, die haben diese Freiheit sofort genutzt: die Kinder, weil sie sowieso noch nicht so gut gelernt haben, sich kontrolliert zu benehmen, und die Kranken, weil sie ganz viel zu gewinnen hatten. So soll es auch bei uns sein: wir sollen innerlich verlernen, uns kontrollgerecht zu verhalten, und wir sollen verstehen, wieviel wir in der Freiheit Jesu zu gewinnen haben.