Der wahre König

Predigt am 1. Dezember 2002 (1. Advent) zu Matthäus 21,1-17

1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus 2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! 3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
Jesu Einzug in Jerusalem4 Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9): 5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. 8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
9 Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! 10 Und als er in Jerusalem einzog, geriet die ganze Stadt in Bewegung und fragte: Wer ist der? 11 Die Menge aber sprach: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.

12 Und Jesus ging in den Tempel hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß die Tische der Geldwechsler um und die Stände der Taubenhändler 13 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus heißen«; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus. 14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie.
15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«?

17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

Wenn wir heute über die Herrschaft Jesu in der Welt nachdenken, dann ist das nichts, was wir nachträglich in die Geschichte Jesu hineininterpretieren, sondern Jesus selbst hat dafür gesorgt, dass dieses Thema den Menschen für immer in Erinnerung geblieben ist. Wie hat er das gemacht? Er hat für eine Szene gesorgt, in der für jeden, der Augen hat, es zu sehen, dieses Thema plastisch dargestellt worden ist.

Er hat dabei nichts dem Zufall überlassen. Er stellt eine Szene aus dem Propheten Sacharja nach. Sacharja hat angekündigt, dass Jerusalem einen König bekommen würde, der auf einem Esel einzieht. Das war bei Sacharja wohl ein Gegenbild zum griechischen König Alexander, dem Großen, der damals das ganze Gebiet zwische Ägypten und Indien erobert hatte: im Gegensatz zu ihm sollte nach Jerusalem kein König hoch zu Ross kommen, sondern einer, der auf einem Esel einzieht, dem Reittier der kleinen Leute.

Was Sacharja angekündigt hat, vielleicht ohne selbst zu verstehen, was damit gemeint war, das setzt Jesus in die Wirklichkeit um, in eine gezielte Inszenierung. Er scheint sogar schon länger eine Absprache mit dem Eselsbesitzer zu haben, dass er sich das Tier ausleihen darf, wenn es soweit ist. Ohne Esel läuft nichts! Der ist so wichtig, dass extra zwei Jünger dafür losgehen müssen.

In seiner Inszenierung verbindet Jesus ganz Widersprüchliches: einerseits ist er der einzige Reiter, und er gebärdet sich wie ein König, der hochoffiziell eine Stadt besucht. Andererseits verkörpert der Esel den Verzicht auf militärische Macht und andere Möglichkeiten der Gewalt. Und der Jubel, den er auslöst, ist spontan, der kommt von Herzen, das ist kein bestellter Propaganda-Jubel. Genau dieser Widerspruch ist schon in der Sacharja-Prophetie drin: die imperiale Symbolik wird so umgebogen, dass ein ganz anderer Typ von Herrschaft dabei herauskommt. Im Sacharjazitat heißt es wörtlich, dass der König »sanftmütig« ist. Das ist das gleiche Wort, das Jesus benutzt, wenn er in der Bergpredigt (Matthäus 5,5) sagt:

»Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.«

Das heißt: was sich alle Gewaltherrscher von Alexander bis Hitler gewünscht haben und was sie nicht bekommen haben: die Weltherrschaft, die wird denen geschenkt, die im Geist der Bergpredigt, also im Geist Jesu handeln. Und die Sacharja-Prophetie geht dann tatsächlich so weiter, dass dieser Friedenskönig für eine allgemeine Abrüstung sorgen wird.

Jesus zeigt mit seiner Inszenierung, dass er die Königsfunktion nach dieser alternativen Logik ausübt. Er ist König, weil die Menschen seinen Weg lieben und freiwillig anerkennen. Er ist König, weil er einen Zugang zu den Herzen der Menschen hat, den die anderen nie bekommen würden. Er ist deshalb König, weil er in den Menschen etwas anrührt, das sonst keiner so anrühren kann. Die Menschen hatten vorher vielleicht überhaupt nicht gewusst, dass sie dafür empfänglich sind, aber jetzt merken sie es. Sie merken, dass sie genau zu diesem König passen, dass sie anders werden, wenn sie in Kontakt mit ihm sind, nicht zuerst anders im Verhalten, sondern anders im Fühlen, Sehen und Sein. Und er kann ihnen den Weg zeigen, wie sie von diesem Erlebnis aus ihr Leben gestalten und an dieser Wirklichkeit Gottes dranbleiben. Darum geht es in der Bergpredigt.

Und sie verstehen, dass sie da einer großen Geschichte begegnen, die unsere ganzen kleinen Lebensgeschichten übersteigt, etwas, das größer ist als die täglichen Sorgen um Beruf, Haushalt, Familie, Urlaub und Fernsehprogramm. Sie spüren, wie gut es ist, diese große Perspektive zu haben und sich nicht mehr nur damit aufzureiben, die Tagesprobleme auf alte und gewohnte Art irgendwie zu überstehen.

Und dann gibt Jesus ihnen vor den Toren Jerusalems die Gelegenheit, das alles auszudrücken, und es entsteht eine spontane Prozession: die Leute, mit denen er kommt, jubeln ihm zu, sie bedecken den Weg mit ihren Kleidern und Blättern als rotem Teppich. Jesus hat den Korken aus dem Flaschenhals gezogen, und jetzt sprudelt die Begeisterung heraus. Jedem, der das sieht und der seine Bibel kennt, muss bei dieser Szene Sacharja und seine Prophezeiung einfallen.

Und die Worte, die sie rufen, die sind so voll Hinweisen auf den Messias, den Kommenden: »gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!« Und am deutlichsten: »Hosianna dem Sohn Davids!« »Sohn Davids« war eine der Bezeichnungen des kommenden Retters, den man erwartete.

Um so merkwürdiger ist die Auskunft, die die Einwohner von Jerusalem bekommen, wenn sie fragen, was denn da losgewesen sei: »Das ist der Prophet aus Nazareth« sagen die Leute aus Galiläa. Prophet ist wieder so eine Allerweltsbezeichnung für einen großen Gottesmann, und die das sagen, haben offensichtlich nicht verstanden, was Jesus mit dieser Aktion eigentlich ausdrücken wollte. Dass hier der Eine kommt, der sein Volk endgültig befreien will aus der Bindung an das Dunkle und Böse und ihm die unerschöpflichen Kraftquellen Gottes neu aufschließen wird, und nicht nur seinem Volk, sondern Menschen in der ganzen Welt, dass er unvergleichlich ist, das geht über ihren Horizont hinaus.

Denken Sie noch einmal an die Lesung vorhin zurück, wo es anscheinend nur die zwölf Jünger sind, die zu Jesus sagen: wir bleiben bei dir! Die anderen gehen nach einiger Zeit, weil sie zurückschrecken vor der Radikalität Jesu, aber Petrus sagt für die 12: Wir haben verstanden, dass du Worte des ewigen Lebens hast, Worte, die Gottes authentisches Leben unter uns hervorrufen. Da ist es genau das Gleiche: es gibt einige Menschen, die verstehen, was mit Jesus kommt, und ganz viele merken nur, dass da irgendeine Erschütterung passiert und fragen: was ist das? Aber sie geben sich mit der Antwort zufrieden, dass da ein großer Prophet kommt und fragen nicht weiter nach.

Einige haben sicher auch wie die 12 Jünger tiefer geschaut und gesagt: ich habe verstanden, dass du mit deinen Worten ewiges Leben bringst, dass deine Worte die Gegenwart Gottes herbeirufen, und wer bei dir ist, der lebt in dieser Gegenwart Gottes, und das ist die Kraft, die das alles in Bewegung setzt.

Doch auch die, die nicht groß drüber nachdenken, spüren, dass von diesem Zentrum aus so etwas wie Erdbebenwellen ausgehen. Selbst die Kinder im Tempel, die keine Ahnung von dogmatischen Feinheiten haben und mit ihrem Geschrei einfach nur die Erwachsenen nachmachen, werden von dieser Unruhe angesteckt. Und natürlich erst recht die Priester spüren voll Unbehagen, dass da Ärger im Anmarsch ist und versuchen vergeblich, Jesus unter Kontrolle zu bekommen.

Das heißt, auch wer gar nicht kapiert, was da eigentlich läuft, kann sich trotzdem diesem Ereignis nicht entziehen. Jesus zieht nur mal kurz den Korken aus der Flasche, und schon ist die ganze Stadt in Bewegung, und in Jerusalem kamen zur Festzeit immerhin so ungefähr 100.000 Menschen zusammen. Er bewegt Menschen massenhaft, obwohl sie ihn beinahe völlig missverstehen.

Jesus und die folgende Geschichte des frühen Christentums haben gezeigt, dass Menschen noch über eine ganz anderen Dimension verfügen, eine Seelenschicht – um es mal so zu sagen -, an die politische Herrscher nicht herankommen. Wenn sie es doch probieren und – wie Hitler z.B.oder auch die römischen Kaiser – ihre Herrschaft religiös überhöhen, das bleibt auf die Dauer nicht stabil, weil irgendwann auch der Dümmste merkt, dass das nicht passt.

Diese Seelenschicht, die Jesus tatsächlich und dauerhaft anrührt, die kann in Menschen riesige Energien freisetzen. Menschen können alles einsetzen und alles ertragen, wenn jemand sie an dieser Stelle angesprochen und gewonnen hat. Im Zentrum steht dieses Erlebnis: du hast Worte des ewigen Lebens! Du rufst nur mit deinen Worten die Wirklichkeit Gottes herbei und machst uns neu! Mit dir sieht alles anders aus! Und wir wollen bei dir bleiben, damit wir das nicht verlieren, niemals, nie wieder!

Und von diesem Zentrum aus erschüttert ein geistliches Erdbeben die Welt, und auch die mit den harten Herzen, und die Ahnungslosen: sie spüren es.

Wenn wir hier jemanden taufen, hören wir dazu den Taufbefehl Jesu, und der fängt so an: mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Damit ist genau dies gemeint, dieses geistliche Erdbeben, das Jesus auslöst, weil jetzt einer da ist, der die Menschen nach ihrer eigentlichen Bestimmung leitet. Das erschüttert die Welt. Was in dieser Intimität zwischen Jesus und seinem Vater im Himmel begonnen hat, was dann zwischen Jesus und den 12 weitergegangen ist, das zieht Kreise bis an die Enden der Erde. Und zwar ohne große Propagada. Es reicht, wenn ab und zu mal kurz der Korken aus der Flasche gezogen wird.

Es ist gut zu sehen, dass Jesus sich auch der Möglichkeiten bediente, gezielt und geplant an die Öffentlichkeit zu treten. Mit den damaligen Mitteln und Möglichkeiten hat er genau den Punkt getroffen, um geistliche Wirklichkeit darzustellen und Menschen massenhaft in Bewegung zu setzen. Aber man muss sagen, dass er das nur hin und wieder gemacht hat. Seine Hauptenergie hat er eingesetzt, um Menschen hineinzuführen in den Kontakt mit der Wirklichkeit Gottes. Und als das weit genug gewachsen war, da hat er für einen Augenblick gezeigt, worum es ging. Und es wäre ja auch alles heiße Luft, wenn diese dramatische Darstellung nicht abgedeckt wäre von der entsprechenden geistlichen Wirklichkeit.

Und wenn wir aus dieser Gegenwart Gottes leben, wenn wir ihr den Raum geben, uns umzuwandeln und zu erfüllen, dann werden wir Stück für Stück in die große Geschichte von der Königsherrschaft Jesu in unserer Welt hineingezogen. Dann sind wir Teil der Erschütterung, die die ganze Welt in Bewegung bringt. Advent bedeutet einmal die Zeit, in der man auf den wartete, der kommen sollte, ohne ihn schon genau zu kennen. Advent heißt heute, dass Jesus in die Welt hineinzieht, dass er wie eine Brandung ans Ufer dieser Welt schlägt, und jede Welle läuft höher den Strand hinauf als die vorige. Er wirbt um uns, dass wir dem nicht im Weg stehen, sondern Teil dieser Bewegung werden, dass er auch in unsere eigene Welt einziehen kann und uns mit der Kraft erfüllen, auf die alle Menschen warten.