Keine Antwort von Jesus

Predigt am 12. Oktober 2003 zu Matthäus 15,21-28

21 Jesus verließ die Gegend und zog sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. 22 Eine kanaanitische Frau, die dort wohnte, kam zu ihm und rief: »Herr, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Meine Tochter wird von einem bösen Geist sehr geplagt.« 23 Aber Jesus gab ihr keine Antwort.
Schließlich drängten ihn die Jünger: »Sieh zu, dass du sie los wirst; sie schreit ja hinter uns her!« 24 Aber Jesus sagte: »Ich bin nur zum Volk Israel, dieser Herde von verlorenen Schafen, gesandt worden.« 25 Da warf die Frau sich vor Jesus nieder und sagte: »Hilf mir doch, Herr!« 26 Er antwortete: »Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.« 27 »Gewiss, Herr«, sagte sie; »und die Hunde bekommen doch immerhin die Brocken, die vom Tisch ihrer Herren herunterfallen.«
28 Da sagte Jesus zu ihr: »Du hast ein großes Vertrauen, Frau! Was du willst, soll geschehen.« Im selben Augenblick wurde ihre Tochter gesund.

Manche Geschichten in der Bibel passen einfach nicht zu dem Bild, das wir uns von Jesus gemacht haben. Diese Geschichte gehört dazu. Es geht hier nicht nach dem Schema: » da ist ein Problem – und Jesus ist da und bringt die Lösung.« Jesus verhält sich fremd und abweisend. Aber so ist er auch gewesen. Niemand hätte einen Grund gehabt, sich so eine Geschichte auszudenken. Die steht deshalb in der Bibel, weil sie wirklich geschehen ist. Weil Jesus wirklich so war. Wenn also jemand heute mit ihm diese Erfahrung macht, dass er keine Antwort bekommt, dass er sich zurückgewiesen und nicht gehört fühlt, dann heißt das nicht, dass er es nicht mit Jesus zu tun hätte. Nein, er erlebt etwas, was auch damals schon jemand mit Jesus erlebt hat, als er auf den Landstraßen Palästinas und der Nachbarländer ging.

»Meine Tochter wird von einem bösen Geist schrecklich gequält.« Wie viele Mütter mag es auf der Welt geben, die diesen Satz nachsprechen könnten. Ob sie es nun so sagen würden, oder ob sie vielleicht sagen würden: » meine Tochter ist magersüchtig!« – » meine Tochter scheint mir manchmal gar nicht zugänglich und fremd« – »Meine Tochter gleitet in die Drogen ab, und wir können sie nicht halten:« – »meine Tochter ist dauernd krank, und die Ärzte finden einfach nicht heraus, was es ist« Auf einmal ist da etwas Zerstörerisches und Quälendes ins Leben gekommen. Etwas, gegen das man nicht ankommt, was das ganze Klima in der Familie belastet und sich einfach nicht vertreiben lässt. Und man lebt wie unter einem Schatten. Man läuft von Beratung zur Beratung und von Arzt zu Arzt, und das alles frisst sich in die Seele, aber es wird nicht besser.

Aber da gibt es doch einen, der helfen kann. Da ist doch Jesus, der retten kann. Einer, der in jeder Not hilft. Er wird es tun, er wird sich erbarmen. Und diese Frau aus der Gegend von Tyrus und Sidon hat gerade gehört, dass Jesus in der Nähe ist. Auch wenn sie nicht zum Volk Israel gehört, aber auch dort ist Jesus inzwischen ein Begriff. Und so geht sie los und bittet ihn um Hilfe.

Aber nun passiert eben das völlig unerwartete: Jesus antwortet nicht. Sie bekommt von ihm keine Antwort. Kein Ja und kein Nein. Er geht einfach weiter. Und sie muss wohl ziemlichen Terror gemacht haben, denn die Jünger sagen zu Jesus: »jetzt tu ihr den Willen oder schick sie weg – aber sorg dafür, dass dies Geschrei und Jammer endlich aufhört, das ist ja nicht auszuhalten.«

Und so steht diese Frau wie andere Menschen nach ihr vor der Frage: warum hilft Jesus nicht? Dass Jesus helfen kann, das weiß sie. Darüber hat sie genügend gehört. Aber das scheint die andern zu betreffen. Denen wurde geholfen, ohne Zweifel, aber ihrer Tochter nicht.

Und, liebe Freunde, ich weiß nicht wirklich, warum das so ist. Auch hier in dieser Geschichte versteht man es nicht wirklich. Vielleicht reicht es ja zu wissen, dass das tatsächlich sein kann, dass man immer und immer wieder betet, und es passiert nichts, und das heißt noch längst nicht, dass Jesus abwesend ist. Er ist nicht ohnmächtig, er ist nicht von der Zeit überholt, sondern er schweigt. Und er hat seine Gründe dafür.

Aber wir würden natürlich doch gerne wenigstens eine Ahnung haben, warum er sich manchmal so abweisend zeigt. Wenigstens einige Idee, welcher Sinn dahinterstecken könnte. Und das können eigentlich nur Vermutungen sein, Versuche, einige angedeutete Linien in der Geschichte ein bisschen deutlicher auszuziehen.

Zum Einen sieht es mir so aus, als ob Jesus mit seinem Warten die Frau gezwungen hat, weiterzugehen auf dem Weg, den sie eingeschlagen hatte: auf dem Weg des Bittens. Am Anfang scheint sie ja mehr versucht zu haben, Jesus so lange auf die Nerven zu gehen, bis er endlich tut was sie von ihm will. Jedenfalls haben die Jünger das so erlebt. Und das gibt es ja bis heute, so eine Anspruchshaltung, nach dem Motto: mir geht es so schlecht, da habe ich doch wohl ein Recht darauf, dass alle springen und sich um mich kümmern, und Gott muss das eigentlich auch.

Aber im Ernst: das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass Jesus etwas tut, einfach um seine Ruhe zu haben. Dass bei ihm eine Geschichte endet mit diesem schalen Gefühl: Naja, irgendwie war das nicht so ganz das Richtige, aber es ist vorbei, ich bin die Frau los, und jetzt vergessen wir das. Die Geschichten von Jesus enden nie so. Die haben immer einen klaren und starken Schluss, und wenn er etwas tut, dann macht er es nicht, weil er genervt ist. Bei ihm werden die Dinge geklärt, sie werden bis zum Ende durchgehalten und nicht mit irgendeiner Mogelei entschärft.

Und auch in diesem Fall sorgt Jesus mit seinem Schweigen dafür, dass es in der Frau eine Klärung gibt. Vorher ist das so eine Mischung gewesen, eine Mischung aus echter Bitte und dem Versuch, so etwas wie einen Rechtsanspruch durchzusetzen oder jedenfalls der Bitte mit lautem Geschrei nachzuhelfen. Aber man muss sich entscheiden, was man will: bitten oder fordern. Eins geht nur. Bei der Kanaaniterin ist am Ende nur noch die Bitte übriggeblieben. Sie kniet vor ihm nieder und sagt: »hilf mir!«.

Manchmal müssen erst an einem Punkt kommen, wo wir aufhören, Gott mit Argumenten unter Druck zu setzen. Wo wir Ärger und Bitterkeit hinter uns gelassen haben und nur noch sagen: »hilf mir!«.

Aber nun kommt der zweite Grund ins Spiel, weshalb Jesus der Frau nicht hilft. Sein Auftrag ist die Erneuerung des Volkes Israel. Von Israel soll in der Tat das Heil in die ganze Welt gehen, aber das geht nur, wenn das Gottesvolk selbst in einem guten Zustand ist. Und Jesus braucht jede Minute seiner kurzen Zeit hier auf der Erde, um seine Mission zu erfüllen: das Gottesvolk wieder in einen Zustand zu bringen, dass von ihm Segen ausgehen kann. Dazu hat er sich ja mit den Jüngern zurückgezogen, damit er diese engsten Mitarbeiter betreuen und schulen kann. Die sollen später mal Hunderten, Tausenden und indirekt Millionen helfen können und haben es auch wirklich getan. Für sie brauchte Jesus diese Zeit, wo nicht dauernd irgendjemand kam und etwas von ihm wollte. Deswegen sind sie weit weggegangen. Aber wenn er jetzt dieser Frau hilft, dann sind eine Stunde später 20 oder 30 Leute da und wollen auch, dass er sich um sie kümmert. Niemand kann alles gleichzeitig machen, auch Jesus nicht. So kommt es zu dieser harten Antwort: »ich kann doch nicht den Kindern das Brot wegnehmen, um damit die Hunde zu füttern.«

Aber die Frau entdeckt in dieser harten Antwort eine Lücke. Vielleicht hat ja Jesus diese Lücke mit Absicht gelassen. Mindestens ist bei ihm sozusagen emotional eine Lücke. Und die Frau in der Geschichte hat gespürt, dass hinter der abweisenden Antwort noch diese andere Botschaft lag. Unausgesprochen war in dieser Antwort einer Aufforderung verborgen: »gib nicht auf! Bitte weiter! Resigniere nicht! Vertraue weiter auf mein Erbarmen!«

Und die Frau nutzt die Lücke, die in diesem Bild von den Hunden verborgen ist. Gut, die Kinder sind wichtiger als die Hunde, das akzeptiert sie. Aber fällt denn für die Hunde nicht immer noch etwas ab, wenn die Kinder zu Tisch sitzen? Sie akzeptiert dieses demütigende Bild von den Hunden, weil sie die Hoffnung auf die Hilfe einfach nicht aufgeben will.

Und ich glaube, man kann sagen: Jesus erkennt in ihrer Antwort einen Hinweis seines Vaters im Himmel, dass dies ein besonderer Fall ist. Jesus weiß, dass es Prinzipien gibt, und dass es richtig ist, sich daran zu halten. Aber er weiß auch, dass Prinzipien nur Werkzeuge in der Hand Gottes sind. Er gebraucht sie eine Zeit lang, und dann nimmt er ein anderes Werkzeug. Man darf ein Prinzip nicht ohne Grund ignorieren, aber man muss es hinter sich lassen, wenn man ein Signal Gottes bekommt, dass jetzt etwas anderes dran ist. Und so sagt Jesus der Frau, dass er ihren Glauben gesehen und verstanden hat, und sie bekommt die Antwort, um die sie gebeten hat. Ihre Tochter wird geheilt.

Diese Geschichte wirft ein neues Licht auf Situationen, in denen wir keine Antwort von Gott bekommen, obwohl wir beten und bitten und nicht verstehen, warum das so ist. Wir erleben solche Situationen normalerweise aus der Perspektive der Frau: wir sind diejenigen, die auf ihre Bitten keine Antwort bekommen. Hier in dieser Geschichte sehen wir das ganze Bild. Es ist überhaupt nicht so, als ob all diese Bitten einfach an Jesus vorbeigehen und ihn überhaupt nicht erreichen. In Wirklichkeit erreichen sie ihn, und sie lösen auch etwas in ihm aus. Wir können sicher sein, dass sein Erbarmen in ihm lebendig ist, auch wenn noch nichts davon bei uns angekommen ist. Wir können sicher sein, dass unsere Bitten bei ihm angekommen sind und vielleicht schon Gegenstand eines intensiven Gesprächs zwischen Jesus und seinem Vater sind. Vielleicht, bestimmt überlegen die beiden schon, gemeinsam mit dem Heiligen Geist, was sie denn daraus machen werden. Unsere Bitten bewirken etwas in Gott, auch wenn wir davon noch nichts merken.

Und genau so bewirkt diese Zeit des Schweigens etwas bei uns: diese Zeit ohne Antwort bringt uns dazu, Wege zu beschreiten, auf die wir uns freiwillig nie gewagt hätten. Wir denken Gedanken, vor denen wir vorher immer zurückgeschreckt sind, wir stellen uns Wahrheiten, vor denen wir uns immer gedrückt haben. Wenn jemand von uns solche Gedanken gefordert hätte, dann hätten wir ihn empört zurückgewiesen. Aber wenn Gott einfach nur schweigt, dann fangen wir selbst an, sie zu denken. Deswegen schweigt er und argumentiert nicht mit uns.

Und dieses Schweigen Gottes setzt in einem Menschen manchmal ungeahnte Kräfte frei: neue Gedanken, das Zerbrechen alter Selbstverständlichkeiten, und vor allem eine Kraft des Wollens und Wünschens, die bei uns sonst oft unterentwickelt ist. Und am Ende bleibt dann nur noch diese leise Stimme übrig, die eigentlich schon immer da war, aber bis dahin vom lauten Schreien übertönt wurde: »und doch Herr… ich kann einfach nicht aufhören, auf deine Hilfe zu hoffen. Ich kann es einfach nicht aufgeben, dir zuzutrauen, dass du dieses Elend änderst. Ich bringe es einfach nicht fertig, nicht auf dich zu hoffen.«

Wenn Sie sich ein bisschen umschauen, dann sehen Sie, wie schnell Menschen normalerweise aufgeben. Sie versuchen etwas, und wenn es beim ersten Mal nicht klappt, dann geben Sie auf. Manchmal haben sie es noch nicht mal richtig versucht. Menschen geben Lebensträume auf, Menschen geben Beziehungen auf, Menschen geben sich selbst auf, Menschen geben hoffnungsvolle Anfänge auf, weil es nicht geklappt hat. Gut, das kann ja auch ein Hinweis sein, dass da etwas noch nicht zu Ende gedacht war, und dass man es noch einmal anders versuchen muss. Vielleicht muss man auch selbst erst anders werden. Aber auf jeden Fall braucht man Beharrlichkeit und Ausdauer. Talent und Glück helfen immer nur eine Zeitlang, am Ende wird Beharrlichkeit den Sieg davontragen. So ruft Gott und gerade durch sein Schweigen auf neue Wege und lehrt uns Beharrlichkeit und Aushalten.