Jesus: Gott berührt die Erde

Predigt am 11. August 2002 mit Matthäus 15,13-15

Auf Ihrem Liedblatt haben Sie ein Bild von Rembrandt, das sogenannte »Hundertguldenblatt«, aber eigentlich müsste es anders heißen: »Der segnende Christus« vielleicht, oder »Jesus, wie er heilt und segnet« oder »Jesus, das Licht der Welt«.

Jesus ist ganz deutlich der Mittelpunkt des Bildes. Von ihm gehen Lichtstrahlen aus, und viele Menschen drängen zu ihm hin. Links vor ihm ist eine Frau, die Schritte auf ihn zu macht. Sie trägt ein Baby auf dem Arm. Hinter ihr geht ein kleines Kind, das zieht eine andere Frau am Rockzipfel auch zu Jesus hin, und wenn Sie genau hinsehen, dann erkennen Sie auch auf deren Arm ein Baby. Hier sind verschiedene Episoden aus dem Leben Jesu zusammengefasst.

Das ist die Geschichte von der Segnung der Kinder:

13 Damals wollten einige Leute ihre Kinder zu Jesus bringen, damit er ihnen die Hände auflege und für sie bete; aber die Jünger fuhren sie an und wollten sie wegschicken. 14 Da sagte Jesus: »Lasst doch die Kinder! Hindert sie nicht, zu mir zu kommen; denn für Menschen wie sie steht Gottes neue Welt offen.« 15 Dann legte er den Kindern segnend die Hände auf.

Es geht um Berührung! Jesus war jemand, der immer wieder Menschen berührt hat und sie in seine Nähe ließ. Deswegen spielen auf diesem Bild Hände so eine große Rolle. Jesus streckt seine rechte Hand nach der Frau mit dem kind aus und heißt sie willkommen, und mit der gleichen Geste wehrt er Petrus ab, der ihm zu sagen scheint: musst du dich denn auch darum noch kümmern? Petrus, das ist der Mann, dessen Kopf über der rechten Hand von Jesus zu sehen ist.

Die linke Hand von Jesus weist nach oben, zu Gott. Die linke Hand ist die, die dem Herzen am nächsten ist. Mit den Händen Jesu zeigt Rembrandt, worum es da geht: Jesus nimmt seine Kraft von oben, von Gott und er gibt den Segen weiter an die Menschen. Jesus ist in seiner Haltung weit geöffnet. Fast alle anderen Menschen auf dem Bild haben eine geschlossene Körperhaltung, manche sind sogar richtig in sich zusammengekrümmt. Jesus ist weit offen.

Jesus war einer der zugänglichsten Menschen überhaupt. Sonst ist es so, dass Menschen, die bekannt sind, eher unzugänglich werden. Du kommst immer schwerer an sie heran. Neulich habe ich einer Person, die ziemlich bekannt ist, eine Email geschrieben wegen einer Sache, die mir sehr wichtig war. Und ich dachte: wer weiß, auf welchem Computer das jetzt landet und vergammelt. Aber 20 Minuten später hatte ich eine persönliche Antwort. Das nenne ich Zugänglichkeit!

Jesus war einer, der die Leute an sich heran ließ und sie berührte. Und sie kamen. Schon unter Menschen ist es so, dass Berührung gut tut. Ich habe von einer Untersuchung gehört, dass Menschen, die regelmäßig liebevoll berührt werden, eine höhere Lebenserwartung haben als Menschen, denen´das fehlt. Wir leben vom Energiefluss unter Menschen, und es ist schlimm, davon abgeschnitten zu sein. Aber wir leben erst recht vom Energiefluss Gottes, von seiner liebevollen Zuwendung zu seinen Geschöpfen, und Jesus bringt uns diese Berührung von Gott. Er besaß eine tiefe Andersartigkeit, und die zog die Menschen an.

Das wird besonders deutlich im Vergleich zu den Menschen, die links von Jesus an einem Tisch sitzen. Das sind – bis auf eine Ausnahme – die einzigen Menschen auf dem Bild, die sich von Jesus abwenden. Die meisten zeigen ihm die kalte Schulter. Sie schauen nicht zu Jesus, sondern schauen sich gegenseitig an. So als ob sie sich gegenseitig davon abhalten wollten, überhaupt zu sehen, was da bei Jesus passiert. So wie man das ja oft erlebt, dass Menschen Jesus nicht wirklich in den Blick bekommen, weil sie zu einer Gruppe gehören, wo man sich gegenseitig darin bestärkt, dass man das nicht nötig hat.

Rembrandt hat in dieser Ecke des Bildes die Pharisäer dargestellt, die ja ganz im Gegensatz zu Jesus bewusst einen Abstand zu den Menschen aufbauten, weil sie mit all der Sünde und dem Schmutz nicht in Berührung kommen wollten. Das gibt es ja, dass Menschen immer unzugänglicher werden, je religiöser sie werden. Sie fürchten, dass sie sonst angesteckt werden könnten von der Krankheit und dem Schmutz in der Welt.

Gerade, wenn wir etwas von Heiligkeit wissen und von der Notwendigkeit, anders zu leben, dann kann es sein, dass wir defensiv bleiben und unser Heil in der Distanzierung suchen. Die Pharisäer lebten eine oberflächliche Andersartigkeit, die die Menschen vertrieb und ihnen ein verzerrtes Bild von Gott vermittelte. Jesus lebte eine tief gegründete Andersartigkeit, die die Menschen anzog, weil sie spürten, dass das ansteckend war. Sonst fürchten wir uns vor ansteckenden Krankheiten, aber bei Jesus finden wir ansteckende Gesundheit.

Es gibt eine Geschichte von Franz von Assisi, es ist beinahe seine eigentliche Bekehrungsgeschichte, da reitet er durch die Stadt und begegnet Aussätzigen. Und er war eigentlich ein junger Mann auf der Sonnenseite des Lebens, mit Geld und Freunden, und diese ekligen, verkrüppelten Gestalten hat er immer gemieden. Aber er hat schon etwas gekostet von der Liebe Gottes, und er spürt, dass diese Liebe ihn dort hinzieht. Und dann muss Franz sich entscheiden: gehe ich zu diesen Aussätzigen hin, oder lenke ich mein Pferd zur Seite und reite schnell weiter?

Und er steigt vom Pferd und geht zu einem Aussätzigen hin und nimmt den stinkenden, schmutzigen Mann in seine Arme. Und diesem Moment, erzählt er, erfüllte eine unbeschreibliche Süße sein Herz, die er nie wieder verlieren möchte. Er hat das Herz Gottes gespürt, Gottes Liebe zu den Verlorenen und Ausgestoßenen. In dem Moment, wo er seinen Ekel und die Distanz überwand, war er erfüllt von der Süße der Liebe Gottes.

Und nun sehen wir auf der rechten Seite unseres Bildes dieses ganze Elend der Menschheit versammelt. Eine Prozession von Menschen drängt da herein: gebeugte und gedrückte Menschen. Einer wird sogar auf einer Schubkarre gebracht, ein Gelähmter vielleicht. Und beinahe bei allen sieht man Gesten, mit denen sie Jesus auf dieses Elend aufmerksam machen wollen. Man hört sie förmlich rufen: »Schau doch her, erbarme dich, so kann das doch nicht weitergehen!«.

Liebe Freunde, es gibt auch in unserem reichen Land so viel Elend, das es einem nur die Tränen in die Augen treiben kann. Elend, das man deutlich sieht und riecht, und Elend, das man nur sieht, wenn man den Menschen in die Augen schaut. Und manchmal reicht es auch, nur davon zu lesen. Und man kann sich davon abwenden, weil man ja sowieso nichts dagegen tun kann, aber man kann auch den Schmerz Gottes teilen.

Wie es bei Matthäus (15,30-31) heißt:

30 Eine große Menschenmenge kam zu ihm mit Gelähmten, Verkrüppelten, Blinden, Stummen und vielen anderen Kranken. Die Leute legten sie vor seinen Füßen nieder, und er heilte sie. 31 Alle staunten, als sie sahen, dass die Stummen sprachen, die Verkrüppelten wiederhergestellt wurden, die Gelähmten umherliefen und die Blinden sehen konnten. Laut priesen sie den Gott Israels.

Wenn solche Geschichten von Jesus erzählt werden, dann heißt es ganz häufig, dass er sich der Menschen »erbarmte«. Und das Wort, das dafür benutzt wird, hat etwas zu tun mit dem Inneren des Körpers. Es ging Jesus durch und durch, wenn er die Menschen sah, wie sie mit Krankheit geschlagen waren. Er wandte nicht den Blick ab und versuchte, schnell wieder zu vergessen, was er da gesehen hatte. Nein, es ging ihm durch und durch. Er konnte es nicht mit ansehen, und deshalb wandte er sich ihnen zu und heilte sie.

Es geht Gott durch und durch, wenn er sieht, wie Menschen leiden müssen. Er weiß, was Schmerzen bedeuten, er weiß, wie es ist, wenn man keine Kraft hat und feststellen muss, dass man nicht mehr der Alte ist und so vieles nicht mehr schafft, er kennt die Gedanken und Sorgen in schlaflosen Nächten, er weiß, wie man sich allein im Krankenhaus fühlen kann.

Es geht Gott durch und durch, und deshalb hat er Jesus geschickt, damit er uns wieder zurückholt in die Nähe Gottes. Auf der Grafik von Rembrandt ist das symbolisiert durch das Licht. Wie von einem großen Scheinwerfer von oben beleuchtet liegt die ganze Szene im Licht, und die Menschen kommen, damit auch auf sie dieses Licht fällt. Gott hat mit Jesus in unserer Welt ein Licht angezündet, das endlich und zuletzt alle Finsternis vertreiben wird. Aber es reicht nicht, von diesem Licht nur angestrahlt zu werden. Das sieht man an den Pharisäern, die ja auch im hellen Licht sitzen. Man sieht es auch an dem reich gekleideten Mann links vorne. Er schaut zu Jesus hin und zu dem, was da passiert, aber er hält die Arme fest auf dem Rücken an seinem Stock. Er ist skeptisch. Er hält lieber Abstand.

So sehen wir hier verschiedene Menschen in der Begegnung mit dem segnenden Jesus: die ablehnenden Pharisäer. Den Skeptiker, der sich alles erst einmal aus der Ferne ansehen möchte. Die Mütter mit ihren Kindern, die voll Vertrauen zu ihm kommen. Und die, die so elend sind, dass sie nur noch schreien oder weinen möchten. Und für alle öffnet Jesu seine Arme.

Es geht um segnende Berührung. Fast alle wichtigen Gesten des Glaubens haben mit Berührung zu tun: Das Wasser der Taufe. Brot und Wein beim Abendmahl. Das Öl, mit dem Menschen gesalbt werden, als ein Zeichen des Heiligen Geistes und der Nähe Gottes, die sich uns anschmiegt. Das Handauflegen beim Segnen. In ganz vielen Gesten rückt uns Gott auf den Leib.

Natürlich nicht gegen unseren Willen. Er respektiert den Abstand, von dem wir denken, dass wir ihn brauchen. Aber wenn wir ihn einladen, dann ist er bereit zu uns zu kommen, uns zu berühren und uns mit seiner Lebendigkeit zu beschenken.