Konzentration – was dem Glück am nächsten kommt

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 26. Oktober 2003 zu Matthäus 14,22-33

22 Gleich darauf drängte Jesus die Jünger, ins Boot zu steigen und ans andere Seeufer vorauszufahren. Er selbst wollte erst noch die Menschenmenge verabschieden. 23 Als er damit fertig war, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Als es dunkel wurde, war er immer noch dort.
24 Das Boot mit den Jüngern war inzwischen weit draußen auf dem See. Der Wind trieb ihnen die Wellen entgegen und machte ihnen schwer zu schaffen. 25 Im letzten Viertel der Nacht kam Jesus auf dem Wasser zu ihnen. 26 Als die Jünger ihn auf dem Wasser gehen sahen, erschraken sie und sagten: »Ein Gespenst!« und schrien vor Angst. 27 Sofort sprach Jesus sie an: »Fasst Mut! Ich bin’s, fürchtet euch nicht!«
28 Da sagte Petrus: »Herr, wenn du es bist, dann befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!« 29 »Komm!« sagte Jesus. Petrus stieg aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus. 30 Als er dann aber die hohen Wellen sah, bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Hilf mir, Herr!« 31 Sofort streckte Jesus seine Hand aus, fasste Petrus und sagte: »Du hast zu wenig Vertrauen! Warum hast du gezweifelt?« 32 Dann stiegen beide ins Boot, und der Wind legte sich.
33 Die Jünger im Boot warfen sich vor Jesus nieder und riefen: »Du bist wirklich Gottes Sohn!«

Was ist Konzentration? Konzentration ist ein festes Sich-Verbinden mit einer Person, einer Aufgabe, einem Ding oder auch einem Gedanken. Eigentlich kann man sich auf alles konzentrieren. Es gibt gute und schlechte Dinge, wichtige und unwichtige, auf die man sich konzentrieren kann. Aber es bleibt immer wieder dieser Akt des Sich-Ausrichtens, des Sich-Verbindens mit etwas anderem. Der Mensch ist ein offenes System, d.h., er kann sich mit der Außenwelt verbinden, und zwar sogar in seinem Zentrum. Ein Mensch ist keine Insel, die mit Mauern umgeben ist und irgendwo vielleicht noch eine kleine Anlegestelle hat, sondern man muss sich einen Menschen vorstellen wie eine Hafenstadt z.B. Hamburg, wo der Hafen mitten in der Stadt liegt, und die Schiffe und Waren und die Menschen aus vielen Ländern kommen mitten hinein in die Stadt.

Wir merken das besonders in Augenblicken, wo wir uns auf nichts Besonderes konzentrieren und uns langweilen, wie dann auf einmal die Musik aus der Nachbarwohnung sich in unserem Kopf breit macht, oder irgendein Wehwehchen, das wir schon fast vergessen hatten, oder eine Sorge, an die wir gar nicht denken würden, wenn wir etwas Wichtiges zu tun hätten.

Aber unser Kopf ist so dafür eingerichtet, sich auf etwas zu konzentrieren, dass er auch mit Uhrenticken vorlieb nimmt, wenn er nichts Besseres hat. Das eintönige Tick-Tack der Uhr kommt in uns rein, in unsere Mitte hinein, und wir können uns nicht dadurch wehren, dass wir uns dagegen abschotten – im Gegenteil, dadurch konzentrieren wir uns nur noch mehr darauf. Wir können uns nur dadurch wehren, dass wir uns auf etwas anderes konzentrieren, das uns viel mehr beschäftigt, und auf einmal haben wir vergessen, dass da eine Uhr tickt.

D.h., Konzentration wählt aus. Wir können uns nicht auf einen Haufen Dinge gleichzeitig konzentrieren. Aus der uferlosen Vielfalt der Welt wählen wir etwas aus und konzentrieren uns darauf. Vorhin in der Szene am Anfang, da kämpfte der Junge darum, dass seine Familie sich doch auf ihn konzentrieren möge. Und weil sie es eigentlich nicht wirklich und mit Entschiedenheit wollten, deshalb schafften es die ganzen Ablenkungen, seinen Bericht immer wieder zu zerstückeln und schließlich ganz zu verhindern.

Wenn wir nicht eine Entscheidung fällen, was unsere Aufmerksamkeit bekommen soll, dann drängt sich irgendetwas oder irgendwer von außen ganz ungefragt in uns hinein und nimmt Besitz von uns, und das bedeutet: Besitz von unserer Aufmerksamkeit.

Petrus musste das drastisch erleben, als er über das Wasser auf Jesus zuging. Solange er sich auf Jesus konzentrierte, ging alles gut, aber als er einen Augenblick lang nicht darauf achtete, worauf er sich konzentrierte, da drängten sich die Wellen mit Gewalt in sein Bewusstsein und ergriffen Besitz von seiner Aufmerksamkeit. Alles Gefährliche hat es besonders leicht, in unser Bewusstsein zu gelangen und da die Alarmglocke zu läuten. Das ist ja eigentlich auch sinvoll, aber in diesem Fall war es kontraproduktiv, denn dadurch verschob sich die Konzentration von Petrus, er verlor den Kontakt mit Jesus und wurde nass.

Diese Geschichte vom von Petrus, der über das Wasser läuft, ist ja vor allem deshalb so interessant, weil hier einer von den Jüngern das tut, was wir sonst vielleicht gerade eben noch Jesus zutrauen würden. Es ist schon schwer genug zu glauben, dass Jesus so einfach die Schwerkraft aushebeln kann, aber dass es dann Petrus auch noch macht, das ist noch schwerer zu verstehen. Ich will heute auch nicht darüber sprechen, ob es denn solche Wunder geben kann, ich möchte auf etwas anderes hinweisen: diese Möglichkeit, auf dem Wasser zu laufen, die kommt zu Petrus, indem er sich auf Jesus konzentriert. Indem ich mich auf etwas konzentriere, bleibt das für mich nicht äußerlich, sondern es kommt in mich hinein.

Das ist die Logik, die hinter allen geistlichen Übungen steht, hinter Gebet und Bibelbetrachtung und ähnlichem: wenn ich mich auf Gott konzentriere, dann kommt etwas von ihm in mich hinein. Wenn ich mich auf seine Liebe konzentriere, werde ich liebevoller. Wenn ich mich auf seine Kraft konzentriere, werde ich stark in ihm. Im NT findet man immer wieder die Formulierung, dass wir »in Christus« sind und er in uns. Damit ist dann diese Verbindung gemeint, diese Beziehung zu Jesus, die dafür sorgt, dass etwas von seiner Art in mich hineinkommt.

In der Bibel ist diese Beziehung der Hintergrund, den man an ganz vielen Stellen immer mitdenken muss. Diese Beziehung ist die Voraussetzung für vieles andere. Wenn wir z.B. die Gebote der Bergpredigt lesen, dann sagen wir: wie kann das gehen, seine Feinde zu lieben und sich nicht um die Zukunft zu sorgen und was da noch alles steht? Aber wenn man diesen Hintergrund der Beziehung zu Jesus mit dazudenkt, dann gibt es einen Sinn: wenn wir uns auf ihn konzentrieren, dann kann er uns befähigen, in seinem Sinn zu leben.

Es ist ja auch sonst so, dass mich die Menschen prägen, mit denen ich Kontakt haben. Deshalb soll man sich seine Freunde gut aussuchen. Die Frage ist: Welchen Einfluss werden die wohl auf mich haben? Werden die mich voranbringen – oder werden sie meine Schattenseiten stärken? Man merkt an dieser Frage, dass wir eine begrenzte Kontrolle darüber haben, womit wir uns verbinden und worauf wir uns konzentrieren. Wir entscheiden in den meisten Fällen, wen wir so nahe an uns heranlassen wollen, wem wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Aber wenn wir diese Entscheidung getroffen haben, dann beeinflusst sie wiederum uns.

Gott hat uns so geschaffen, dass wir in unserem Kern offen für andere und offen für Dinge sind, die außerhalb von uns liegen. Er hat uns so geschaffen, weil er selbst dadurch mit unserem Kern in Verbindung treten kann. Er hat bei uns alles dafür vorbereitet, dass wir zu ihm finden und uns auf ihn konzentrieren können. Es ist nicht falsch, sich auf Menschen und seine Arbeit zu konzentrieren, aber das beste Gegenüber, auf das wir uns konzentrieren können, ist Gott.

Deshalb hat er überhaupt diesen ganzen Bereich der Konzentration auf etwas anderes mit so viel positiven Rückmeldungen ausgestattet. Wir fühlen uns wohl, wenn wir uns selbst vergessen, bloß wir merken es in diesem Moment meistens gar nicht, weil wir dann ja nicht an uns denken. Es geht uns gut, wenn wir eine Arbeit haben, die uns ganz ausfüllt. Wir fühlen uns wohl, wenn wir mit jemandem so intensiv und kurzweilig reden, dass wir gar nicht merken, wie die Zeit vergeht. Und ganz besonders alles, was zur Liebe gehört, wenn wir mit einem Menschen zusammen sind, den wir lieben und an dem wir uns freuen, wenn die ganzen Energien freigesetzt werden, die für die Liebe zwischen Männern und Frauen vorgesehen sind, das führt uns von uns selbst weg, das lässt uns, wenn es gut geht, Raum und Zeit vergessen.

Wissenschaftler, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, haben es »Flow« getauft, das kommt vom englischen Wort für fließen, und damit ist gemeint, dass wir in einem Fluss von Konzentration drin sind und ohne störende Gedanken, ohne dauernd daran zu denken, was danach kommt, einfach voll dabei sind bei dem, was wir tun. Dass wir in diesem Augenblick einfach voll wir selbst sind. Und sie haben herausgefunden, was wir alle im Grunde wissen: das sind die Augenblicke, wo wir wirklich glücklich sind. Sich selbst vergessen und sich auf etwas anders konzentrieren, das es wert ist, das ist der entscheidende Baustein zum Glück.

Das bedeutet, Glück entsteht nur dann, wenn wir uns selbst vergessen und uns und unsere Aufmerksamkeit an etwas oder jemand anderen verschenken: an einen Menschen, an Gott, an eine Aufgabe, an Schönheit, die uns begegnet, an ein Problem, über das wir nachdenken, an ein Spiel, das wir spielen, an eine Geschichte, die wir lesen, an ein Kunstwerk, das wir betrachten. Es gibt Dinge, die unsere Aufmerksamkeit wert sind und andere, die sie nicht verdienen und uns mit einem schalen Geschmack zurücklassen. Aber Hingabe gehört auf jeden Fall zum Glück dazu. Und Konzentration ist in ihrem Kern Hingabe an etwas anderes. Wer immer sich selbst ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt, wer sich selbst festhält und sich nicht verschenken kann, der wird dieses Glück nur selten erleben. So hat Gott es eingerichtet, und überall in der Bibel finden wir es, dass man bereit sein muss, sein Leben zu verlieren, wenn man es gewinnen will.

Man hat mal einen Versuch gemacht, wo Menschen den ganzen Tag über aufschreiben sollten, wie gut sie sich fühlen, jede Stunde oder halbe Stunde einen kurzen Vermerk. Und was stellte sich dabei heraus? Die Menschen verklären ihre Freizeit, obwohl sie während der Arbeit viel häufiger ankreuzten, dass sie sich gut fühlten. In der Freizeit kam es viel eher vor, dass sie lustlos herumhingen und sich langweilten.

Das Problem ist natürlich, dass nicht jede Arbeit und jede Aufgabe uns diese Befriedigung verschafft. Die eine Arbeit ist zu schwer, und dann fallen wir aus der Konzentration heraus und erleben Frustration. Oder eine Aufgabe ist so leicht, dass wir unterfordert sind und uns langweilen. Und wir können uns bei unserer Arbeit nur begrenzt aussuchen, was wir gerne machen würden. Aber trotzdem blieb den Menschen unterm Strich bei ihrer Arbeit immer noch mehr Befriedigung als in ihrer Freizeit. Man sieht daran einmal, wie oft wir das Glück an der falschen Stelle suchen, und andererseits, dass es freundlicherweise dann trotzdem zu uns kommt.

Dass wir es spontan viel besser finden, wenn wir keine Belastung haben, das hängt wohl damit zusammen, dass es am Anfang oft mühsam ist, sich in die Konzentration hineinzubringen. Am Anfang muss man sich zur Aufmerksamkeit zwingen, man muss die abschweifenden Gedanken irgendwie zur Ruhe bringen. Aber irgendwann hat man die Schwelle überschritten, hinter der die Konzentration zum Selbstläufer wird. Und je öfter wir so zur Konzentration finden, je öfter wir den Anfangswiderstand überwinden, um so leichter geht es in Zukunft.

Ganz genauso ist es, wenn wir uns auf Gott konzentrieren. Auch da kann das ein Weg sein, ein langer Weg des Lernens, und am Anfang ist es manchmal mühsam, und wir müssen warten. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass die Jünger nach der Himmelfahrt Jesu erst 10 Tage warten mussten, Zeit, in der sie zusammen waren und beteten, bis sie den Heiligen Geist empfingen. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass wir in unseren Gebeten immer wieder Zeiten erleben, wo uns diese Ausrichtung auf Gott nicht gelingt. Es ist für uns nicht leicht, uns selbst loszulassen, uns auf etwas anders und jemand anderen einzulassen, weil wir immer Angst haben, wir würden etwas verlieren, wenn wir uns verschenken. Manchem ist auch so oft etwas geraubt worden, dass er nichts mehr loslassen mag.

Und trotzdem: Hingabe, Konzentration, das Sichverschenken an jemand anderes der es verdient, das ist der Weg, auf dem man immer wieder das große und das kleine Glück findet. Immer wieder sollen wir das lernen, und im Grunde sind das alles Übungen für die große Aufgabe: uns an Gott zu verschenken, der es wirklich verdient und bei dem wir das unübertreffliche Glück finden.