Jesus weiß nicht mehr weiter

Predigt am 21. November 2001 (Buß- und Bettag) zu Matthäus 11,20-24

11,20 Jesus fing an, die Städte anzuklagen, in denen er die meisten Wunder getan hatte; denn sie waren nicht umgekehrt: 11,21 »Wehe dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind – die Menschen dort hätten sich längst in Sacktuch gehüllt und Asche auf den Kopf gestreut und wären zu Gott umgekehrt. 11,22 Doch ich sage euch: Es wird Tyrus und Sidon erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als euch. 11,23 Und du, Kapernaum, meinst du etwa, du wirst zum Himmel erhoben werden? Bis ins Totenreich musst du hinunter! Denn wenn in Sodom die Taten geschehen wären, die in dir geschehen sind, es stünde noch heutigen Tages. 11,24 Doch ich sage euch: Sodom wird es am Tage des Gerichts erträglicher ergehen als dir.«

»Jesus fing an, die Städte anzuklagen, in denen er die meisten Wunder getan hatte, denn sie waren nicht umgekehrt.« Das ist ein erschreckender Tatbestand. Mitten unter den Menschen ist Jesus präsent, es geschehen Zeichen und Wunder, Menschen werden gesund, die Herrschaft Gottes auf der Erde ist mit Händen zu greifen – und die Menschen kehren nicht um, sie verlassen nicht ihre alten Wege, sie finden die Wunder schon beeindruckend, aber sie ändern sich nicht. Das schlimme ist, dass Jesus jetzt einfach die Argumente ausgehen. Mehr hat er nicht. Er hat keinen Plan B — er hat alles gegeben. Gott hat seine letzte Karte ausgespielt, er ist in Menschengestalt gekommen, damit sie verstehen, wie er ist, damit sie seine Liebe sehen und verstehen können, hautnah, aus nächster Nähe — und er hat sie damit nicht abbringen können von ihren falschen Wegen.

In dieser Szene sehen wir Jesus, wie er ratlos vor Menschen steht, die sich gegen alle Vernunft und Logik gegen seine Liebe verschließen. Und wenn er dann sagt: wehe euch, was wird das für euch bedeuten am Tage des Gerichts! das ist nicht ein selbstgefälliges »Macht nur so weiter, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt«, sondern da steht einer fassungslos davor und sieht, wie Menschen in ihr Verderben rennen, und er kann nichts dagegen tun. Jesus kann nichts tun.

Das könnte man alles verstehen, wenn wir es wären, die dort hingegangen wären. Wenn wir zu den Leuten gesprochen hätten und uns im Wundertun versucht hätten. Wir verkörpern die Liebe Gottes immer nur andeutungsweise und bruchstückhaft, und wenn sie trotz allem dann durch uns Menschen erreicht, dann ist das ein Wunder Gottes. Und wenn uns mal so etwas wie ein Wunder gelingt, dann ist das meistens nicht so eindeutig, sondern oft durchaus fragwürdig. Und wenn Menschen sich dann auf unsere Fragwürdigkeiten konzentrieren und den göttlichen Funken nicht sehen können oder wollen, der da trotzdem drin ist, dann ist das zwar schade und unklug, aber man kann es verstehen.

Aber in Kapernaum und den anderen Städten war Jesus leiblich und eindeutig präsent, und Menschen spürten, dass da Gott war, und sie spürten, dass da ein Mensch endlich so war, wie Menschen sein sollen. Jesus war die Gegenwart Gottes auf der Erde. Wenn er sagte: das Reich Gottes ist nahe, dann sprach er von sich selbst, und er meinte damit: das Reich Gottes ist für euch so nah, wie ich für euch nah bin. Es ist eine greifbare Alternative.

Und deswegen kamen die Menschen zu ihm. Es gibt auf dieser Erde nichts Schöneres, als wenn Gott auf einmal ganz nah ist – wenn wir ihn als Freund und Vater erleben. Wenn wir nach Glück suchen, dann suchen wir im Grunde diese Gemeinschaft mit Gott. Wenn wir Freude suchen, dann suchen wir Gott, auch wenn uns selbst das nicht klar ist. Wenn wir Liebe suchen, dann meinen wir hinter allen Menschen Gott, den Ursprung der Liebe. Und all das fanden die Menschen bei Jesus. Er brachte eine Kraft mit, die die dunklen Schatten vertrieb, die auf den Menschen liegen. Und die Menschen um ihn herum wurden frei von den Bedrückungen, die ihnen das Leben mühsam und freudlos machen.

Und da geschahen so deutliche Wunder, dass auch seine Feinde nicht gewagt hätten, das zu bezweifeln. Und trotzdem: sind sie nicht umgekehrt in Bethsaida und Chorazin und auch in anderen Orten. Sie haben ihn nicht aufgenommen in ihr Leben.

Und Jesus weiß nicht mehr weiter. Was soll ich denn noch tun? Was soll Gott noch tun? Es ist alles getan. Mehr geht nicht. Aber ihr seid nicht umgekehrt.

Von Anfang an hat Jesus mit vielen Menschen die Erfahrung gemacht, dass sie gerne kamen und eine Weile in seiner Nähe blieben und das wirklich genossen haben. Und viele sind gesund geworden, und das war ja auch für die andern immer eine große Freude und ein großes Staunen. Aber dann ging es nicht weiter, sie wurden keine Jünger, sie waren nicht bereit zur Umkehr, es zog sie mit aller Macht zurück in ihr altes Leben und Denken.

Immer wieder sind da Mengen von Menschen, die Jesus bewundern, die merken, dass er eine ganz andere Vollmacht hat als die Schriftgelehrten, Mengen von Menschen, die gerne bei ihm sind. Aber sie sind nicht bereit, alles auf diese Karte zu setzen.

Jesus sagt ja nicht nur: hier ist das Reich Gottes! Er sagt auch: lasst los, was euch davon trennen will! kehrt um! Steigt aus aus eurem alten bedrückten Leben. Kappt die Bindungen, die euch bei euren Sorgen und Ängsten und falschen Wegen halten. Lasst das Misstrauen, dass in eurer Seele sitzt! Ihr könnt nicht beides haben: Anteil am Reich Gottes und gleichzeitig euer altes, gewohntes Denken. Das sind zwei Dinge, die passen einfach nicht zusammen. Auf der einen Seite Jesus, der Befreier und der Glauben an ihn, das Wichtigste auf der Welt – und auf der andern Seite soll alles weitergehen wie vorher.

Aber die beiden Teile der Botschaft Jesu gehören untrennbar zusammen:

  • Das Reich Gottes ist nahe! und:
  • kehrt um, verlasst euer altes Leben und seine Logik!

Das Neue bleibt nur bei denen, die bereit sind, sich vom Alten abzuwenden. Die Kräfte des Himmelreiches bleiben auf die Dauer nur dort, wo Menschen bereit sind, dafür anderes zu aufzugeben. Das ist kein Verlustgeschäft, weil wir ja am Ende etwas viel besseres dafür bekommen. Aber wir können nicht von Jesus neues Leben erwarten, wenn wir gleichzeitig wollen, dass es im Großen und Ganzen beim Alten bleibt. Auferstehung und Kreuz gehören zusammen. Es muss etwas sterben, damit das neue Leben auf die Dauer bestehen bleiben kann.

Daran entscheidet sich, ob wir dauerhaft zu Jesus gehören werden oder nicht. Es ist in der Sache eigentlich einfach, aber alles in uns sträubt sich dagegen. Unser spontaner Wunsch ist: Jesus, wasch mir den Pelz, aber mach mich bitte nur ein ganz bisschen nass!

Nichts schwächt so sehr unsere Vollmacht wie dieser Wunsch, es möge doch bei uns alles beim alten bleiben dürfen. Dieser Wunsch, wir möchten doch mit all unseren Fehlern und all unserer Verkorkstheit ohne Umkehr ins Reich Gottes hineingelangen dürfen, es möge doch am Eingang nicht diese Schranke sein, dies Wort: kehrt um!

Aber Jesus ist so gnädig, uns all das Alte und Krankmachende nicht zu lassen, da nicht ein Auge zuzudrücken, uns nicht zu erlauben, es mit dem Neuen zu vermengen. Sondern er sagt: Lass es los! Halt nicht fest, was dich von mir trennt, halt nicht fest, was dich auf die Dauer vielleicht kaputtmachen wird. Soll es denn wirklich nur bei einer gewissen Bewunderung und Begeisterung bleiben, oder bist du bereit, das Alte hinter dir zu lassen und mit mir mitzugehen?

In der Zeit Jesu war das ganz wörtlich zu verstehen, dass Menschen sich auf den Weg machten und mit Jesus mitgingen, um Tag für Tag bei ihm zu sein. In der Zeit der ersten Christen war die Taufe das Symbol eines deutlichen Bruchs mit der Welt. Es war lebensgefährlich, sich taufen zu lassen, es war ein deutliches Heraustreten aus der großen Gruppe aller anderer Menschen.

Heute bei uns ist das nicht mehr so ein deutliches Zeichen der Unterscheidung. Vielleicht wird es das ja in der Zukunft wieder, ich denke, ein wenig davon merkt man manchmal schon. Aber wir müssen deswegen mehr Stützen einbauen, die uns immer wieder daran erinnern, dass zum neuen Leben auch ein Abschied gehört. Wir brauchen Gelegenheiten, wo wir uns gegenseitig daran erinnern und uns gegenseitig helfen, das loszulassen, was uns bedrückt und das Leben mühsam macht. Das können wir wahrscheinlich heute fast nur mit anderen zusammen. Und wir sind noch beim Suchen, wie das aussehen kann. Aber es ist nötig.

Und Jesus fragt uns: willst du das? Oder bleibt es doch nur bei einer gewissen Bewunderung und Begeisterung, die in deinem Leben am Ende nicht wirksam wird?

Und dann kommt es bei Jesus zu diesen scharfen Worten, die wir vorhin gehört haben, und die gar nicht zu dem Bild vom lieben, sanften Jesus passen, der keiner Fliege was zu leide tut. Worte über Städte, wo die Leute miterlebt haben, wie Jesus enorme Wunder getan hat, und sie haben keine Konsequenzen gezogen, sie sind nicht umgekehrt. Worte über Menschen, die ihn gehört haben, die mehr mit ihm erlebt haben und mehr von ihm gesehen haben als wir alle hier, und die doch wieder zurückgegangen sind in ihren Alltag und in ihre alten Bindungen, und es ist geblieben wie vorher.

Und Jesus vergleicht sie mit Städten wie Tyrus und Sidon und Sodom, und die waren damals sozusagen sprichwörtlich der Sündenpfuhl ihrer Zeit, so wie Chicago zur Zeit von Al Capone, und Jesus sagt: wenn ich unter den Gangstern von Tyrus diese Wunder getan hätte, die wären in Sack und Asche gegangen, die wären ins Kloster gegangen, keinen Moment länger hätten die weitergemacht. Aber ihr? Was soll ich, was soll Gott denn noch tun? Wie soll denn euer Herz noch erreicht werden, wenn all diese Wunder euch nicht bewegt haben?

Die Worte Jesu kommen aus dieser Ratlosigkeit. Jesus weiß, dass es nichts besseres gibt für die Menschen in Bethsaida und in Kapernaum und für uns, als mit ihm zu gehen. Aber wenn Menschen unbedingt im Alten und Vertrauten drinbleiben wollen, dann ist nichts zu machen. Dann kann auch Jesus nur sagen: Wehe euch, ihr macht euch nicht klar, was ihr euch da einbrockt. Die Weherufe Jesu sind Rufe der Trauer um Menschen, die unbegreiflicherweise den Schritt, auf den es ankommt, verweigern. Jesus bewundern, aber nicht umkehren in Gottes Reich, das führt ins Gericht. Dann ist man schlimmer dran, als wenn man gar nichts von Jesus wüsste.

An dieser Stelle, man muss es so sagen, scheitert Gott an den Menschen. Ich weiß nicht, wie das sein kann. Gott kommt nicht an gegen die Menschen. Ist das denn möglich? Da steht auch Jesus da und kann nichts anderes tun als tun als sagen: wehe euch, aber nur seine Jünger hören es.

Und ich denke, letztlich sind wir dann auch die eigentlich Adressaten der Worte Jesu: haltet nicht das Alte fest, sondern lasst es los, damit ihr das neue Leben behaltet. Was Gott mit diesem Scheitern machen wird, das ist seine Sache. Die Botschaft an uns ist: Kehrt um!