Die Kernkompetenz der Jünger Jesu

Predigt am 17. Juni 2001 zu Matthäus 9,35-10,10

35 Jesus zog durch alle Städte und Dörfer. Er lehrte in den Synagogen und verkündete die Gute Nachricht, dass Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet und sein Werk vollendet. Er heilte alle Krankheiten und Leiden. 36 Als er die vielen Menschen sah, ergriff ihn das Mitleid, denn sie waren so hilflos und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Darum sagte er zu seinen Jüngern: »Hier wartet eine reiche Ernte, aber es gibt nicht genug Menschen, die helfen, sie einzubringen. 38 Bittet den Herrn, dem diese Ernte gehört, dass er die nötigen Leute schickt!«

10,1 Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, böse Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen. 2 Hier sind die Namen dieser zwölf Apostel: Der erste von ihnen Simon, bekannt unter dem Namen Petrus; dann Andreas, der Bruder Simons; Jakobus, der Sohn von Zebedäus, und sein Bruder Johannes; 3 Philippus und Bartholomäus; Thomas und der Zolleinnehmer Matthäus; Jakobus, der Sohn von Alphäus, und Thaddäus; 4 Simon, der zur Partei der Zeloten gehört hatte, und Judas Iskariot, der Jesus später verriet.

5 Diese zwölf sandte Jesus aus mit dem Auftrag: »Meidet die Orte, wo Nichtjuden wohnen, und geht auch nicht in die Städte Samariens, 6 sondern geht zum Volk Israel, dieser Herde von verlorenen Schafen. 7 Verkündet ihnen: ‚Jetzt wird Gott seine Herrschaft aufrichten und sein Werk vollenden!‘ 8 Heilt die Kranken, weckt die Toten auf, macht die Aussätzigen rein und treibt die bösen Geister aus! Umsonst habt ihr alles bekommen, umsonst sollt ihr es weitergeben. 9 Beschafft euch kein Reisegeld, weder Goldstücke noch Silber- oder Kupfergeld! 10 Besorgt euch auch keine Vorratstasche, kein zweites Hemd, keine Schuhe und keinen Wanderstock! Denn wer arbeitet, hat ein Anrecht auf Unterhalt.

Jetzt wird Gott seine Herrschaft aufrichten und sein Werk vollenden! – das ist die zentrale Botschaft Jesu. Dies ist eine interpretierende Übersetzung – bekannter ist die Fassung: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! Und deswegen heilt und befreit Jesus, und er sendet seine Jünger aus, damit es überall zu erleben ist.

Jesus sieht die Menschen, die armen, misshandelten Massen, die sich mit Mühe durchs Leben schlagen, immer unter der Drohung von politischen und privaten Katastrophen, die über sie hereinbrechen oder die sie selbst verursachen, bei sich selbst oder bei anderen. Und die nicht die Mittel haben, um das abzufedern – wenn genügend Geld da ist, dann kann man vieles geradebügeln, aber wenn es sowieso schon nur gerade eben reicht, dann wird auch ein größeres Strafmandat oder eine defekte Waschmaschine schnell zu einer Katastrophe, und ein Streit in der Familie sowieso. Jesus sieht die Menschen, wie sie sich abmühen, wie sie immer wieder Schläge einstecken müssen, wie sie auch immer wieder selbst die Weichen falsch stellen, und wie sie über dem allen krank werden, wie sie gehetzt und mürrisch gucken und wie die Freude aus ihren Augen gewichen ist.

Und Jesus hat Erbarmen, er hatte Mitleid, es ging ihm an die Nieren. Es tat ihm weh, das zu sehen. Das ist der erste Eindruck, dass er sich nicht zurückzieht und sagt: ihr müsst das anders machen, schaut mich an, so muss man leben, dann hat man auch keine Probleme! Sondern er sagt: sie sind wie Schafe, die keinen Hirten haben, denen niemand sagt, wo sie sicher und geschützt sind und auf die keiner achtet, ob sie sich verletzt haben oder krank sind.

Kleine Kinder sagen manchmal: passt du auf mich auf, wenn ich einschlafe? Sie können leichter einschlafen, wenn sie wissen, dass da noch jemand sitzt und auf sie achtet. Sowas wünschen wir uns alle: jemanden, der auf uns achtet. Aber wenn keiner da ist, an den man sich wenden kann, wenn man jemanden braucht, dann wird man hart. Deswegen brauchen Menschen einen Hirten. Und es ist eine massive Anklage gegen die religiösen Institutionen, wenn Menschen ohne Hirten leben müssen, wenn sie nicht wissen, wo sie hingehen können.

Die Priester und Pharisäer sahen im Volk Sünder, die aus der heilsamen Lebensordnung Gottes herausgefallen waren und nun zu recht die Folgen tragen mussten. Und unzutreffend ist diese Sicht ja nicht, natürlich gelingt das Leben besser, wenn man sich an Gottes Geboten orientiert. Aber Jesus sieht trotzdem etwas ganz anderes als die religiösen Funktionäre: er sieht eine reiche Ernte. All diese Menschen werden dankbar und bereitwillig aufnehmen, was Jesus ihnen bringt.

Das ist keine Automatik in dem Sinn, dass Verelendung das Reich Gottes bringt. Elend lehrt nicht unbedingt beten, es kann auch fluchen lehren. Aber Jesus weiß ja, dass er die Lösung mitbringt. Er hat die Hilfe für die vielen Menschen, nämlich die Kraft Gottes, die gesund macht und fröhlich und den Menschen zeigt, dass Gott sie nicht vergessen hat.

Wenn Jesus eine große Ernte sieht, dann denkt er nicht nur an die Not der Menschen, sondern vor allem an das, was er mitbringt: die Herrschaft Gottes. Aber die muss erst zu den Menschen kommen. Und deshalb soll man Gott um Arbeiter für diese Ernte bitten.

Kurz vorher noch steht im Matthäusevangelium, wie die Pharisäer behaupteten, Jesus bediene sich bei seinen Wundern okkulter Kräfte, er sei mit den Dämonen im Bund. Hier ist die Antwort Jesu: er streitet sich nicht, er verteidigt sich nicht, sondern er macht einfach weiter mit seiner Sache. Und damit gibt er den selbsternannten Hütern des Volkes indirekt eine deutliche Antwort: Ein Hirte ist der, der die Arbeit eines Hirten tut. Es geht nicht um Titel und Status und Berechtigungen, sondern darum, dass eine Aufgabe erfüllt wird.

Aber dafür gibt es erbärmlich wenig Menschen. Obwohl es überall Synagogen gibt mit Vorstehern und Verantwortlichen, einen prächtigen Tempel und viel religiöses Personal, aber es ist kaum jemand da, der die Ernte Gottes einbringen wollte. Niemand, der Augen hätte, um in dem Elend schon die Ernte Gottes zu sehen. Niemand, der dafür arbeiten will.

Es ist tatsächlich Arbeit, das Reich Gottes zu den Menschen zu bringen. Wenn man für viele Menschen betet, dann ist das nicht nur eine Frage der Vollmacht und des Glaubens, sondern dann tut einem irgendwann auch der Rücken weh und die Füße und man wird müde. Genauso, wie man beim Holzhacken irgendwann müde wird. Und wenn Paulus von seinen Mühen erzählt, dann spricht er nicht nur von der Lebensgefahr, in die kam, als er um Jesu willen verfolgt wurde, sondern er redet auch von der Mühe, die es kostet, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und gleichzeitig noch Gemeinde zu bauen und Seelsorge zu leisten. Er redet von der Hektik und vom Stress, wenn alle gleichzeitig etwas von einem wollen. Stress ist keineswegs erst eine Erscheinung unserer Zeit, sondern mindestens die Jünger Jesu haben den schon immer gehabt. Allerdings hat Jesus auch dafür gesorgt, dass sie immer mal wieder die Zeit zum Segeln und für einen Ausflug hatten.

Der Mangel an Arbeitern ist so gross, dass Jesus nicht etwa sagt: die Ärmel aufgekrempelt und zufassen! Sondern er sagt: Betet um Menschen, die diese Arbeit tun! Bittet Gott, dass er Arbeiter sendet! Und man kann es so sehen, dass Paulus, als er dann vier Jahre später berufen wurde, so eine Gebetserhörung war. Es geht um Menschen, die das Werk Jesu bei ihm lernen und es dann selbständig weiterführen.

Die erste Christenheit war keine Institution mit Planstellen, Haushalt, Gebäuden, Titeln und Leuten, die man um Erlaubnis fragen muss, sondern die Christenheit, wie Jesus sie ins Leben gerufen hat, war eine Bewegung, ein Impuls, der von Menschen weitergetragen wurde, auf eigene Verantwortung, und der nur von dem lebte, was Gott gab.

Und ich halte es nicht für ausgemacht, dass es ein ehernes Gesetz ist, dass jede Bewegung früher oder später als Institution endet. Sicher, es gibt immer Menschen, die das gerne möchten und auch dafür sorgen, aber genauso gibt es immer wieder die Rückkehr aus den institutionellen Gefängnissen hin zur Bewegung von Menschen, die keine andere Absicherung haben als den Auftrag Gottes.

Und dann beruft Jesus seine 12 Jünger und gibt ihnen die Vollmacht, genau das zu tun, was auch er immer gemacht hat: heilen, befreien und den Leuten zu erklären, warum das passiert: nämlich, weil das Reich Gottes zu ihnen kommt. Diese Vollmacht zum Heilen, Befreien und Verkündigen ist die Kernkompetenz der Erntearbeiter Gottes. Es ist die Kompetenz, die Kraft Gottes ganz nahe an die Menschen heranzubringen, so dass sie davon erreicht werden und es annehmen können. Ohne diese Kompetenz loszuziehen ist ein gefährliches Abenteuer. Und was sollte man den Menschen dann bringen? Man würde zwangsläufig irgendetwas anderes machen, man würde eben einer von den vielen Religionsfunktionären werden, die es damals ja gab.

Weil diese erste Beauftragung so entscheidend ist, als Jesus zum ersten Mal seine Kernkompetenz anderen übertrug, deshalb sind die Namen der ersten Jünger festgehalten, die Jesus auf diese Weise losgeschickt hat. Diese Kompetenz und die Bereitschaft zum Arbeiten macht einen Jünger, eine Jüngerin Jesu aus.

Und die erste Anweisung Jesu ist: sie sollen so schutzlos und ohne Rückhalt leben wie er. Sie sollen darauf vertrauen, dass Gott sie versorgen wird. Damit ist vor allem gemeint, dass es Menschen geben wird, die ihnen Gastfreundschaft gewähren und sie mit dem Nötigen versorgen. Und wahrscheinlich auch, dass sie Gelegenheiten finden, sich zwischendurch Geld zu verdienen. Aber in erster Linie gilt: So wie ein Straßenmusikant sich seinen Unterhalt mit Singen und Musizieren verdient, so werden sie sich ihren Lebensunterhalt mit Predigen und Heilen verdienen. Und so wie ein Straßenmusikant kein Eintrittsgeld nehmen kann, sondern darauf angewiesen ist, dass Menschen ihm freiwillig etwas geben, weil ihnen seine Musik Freude gemacht hat, so sollen die Jünger auch keine Rechnungen für erfolgte Heilung schreiben, sondern von dem leben, was Menschen ihnen freiwillig geben, als Dank, dass ihnen die Kraft Gottes durch die Jünger begegnet ist und ihnen geholfen hat.

Liebe Freunde, ich denke, ich muss jetzt nicht gross darüber reden, wie weit wir von diesen urchristlichen Zuständen entfernt sind. Das wissen wir alle. Was soll man da gross drüber jammern? Viel wichtiger ist es, dass dieses Bild in unseren Herzen lebendig wird, das im Neuen Testament zum Glück für alle Zeiten festgehalten ist: Gemeinde Jesu als eine Bewegung, die auch materiell und finanziell ganz vom Heiligen Geist abhängt. Dass wir das nicht als einen schönen Traum von damals abtun, sondern dass wir in unseren Herzen dieses andere Bild wachsen lassen. Neulich hörte ich, wie jemand sagte: »90 Prozent der Aktivitäten unserer Kirche würden auch dann völlig ungestört weitergehen, wenn der Heilige Geist seine Tätigkeit einstellen würde.« Ich fürchte, das stimmt. Ganz viel von dem, was wir alles tun, läuft vielleicht mit dem Heiligen Geist etwas besser, er ist dann so ein Schmiermittel im Räderwerk unserer Institution, aber es würde zur Not auch ohne ihn gehen.

Im Gegensatz dazu wäre in der ersten Christenheit ohne den Heiligen Geist, ohne die Kraft Gottes, gar nichts gelaufen. Es hätte bestenfalls zu einer weiteren religiösen Gruppe wie den Pharisäern gereicht. Aber Jesus hatte den Dienst seiner Jünger so eingerichtet, dass sie ohne den Heiligen Geist gar nichts machen konnten. Sie hätten nur dumm dagestanden, und für ihren Lebensunterhalt hätten sie dann wirklich singen müssen oder Teller waschen.

Es geht nicht darum, sich einfach in waghalsige Aktionen zu stürzen. Ohne die Bevollmächtigung und Beauftragung durch Jesus ist das wirklich nur ein gefährliches Abenteuer. Aber vielleicht gelingt es uns ja, die Quote, wo wir real vom Heiligen Geist abhängig sind, wo wir tatsächlich mit ihm zusammenarbeiten, anzuheben. Vielleicht werden es ja auch mal 30 oder 50 Prozent. Und vielleicht können wir die anderen Sachen ja auch zurückdrängen.

Es ist so wichtig, dass dieses Bild in uns Wurzeln schlägt, wie Jesus seine Jünger damals losgeschickt hat, mit nichts ausgerüstet als mit seiner Vollmacht. Dass wir uns nicht die Maßstäbe davon vorgeben lassen, wie schwierig das heute alles ist und wie die Menschen sich geändert haben. Klar, wenn in unserer Gesellschaft heute alle PKW oder Bus fahren, dann müssen die Jünger Jesu nicht zu Fuss gehen, weil Jesus das damals getan hat. Aber die gültige Verheißung für die Christenheit ist dies Bild der bevollmächtigten Jünger, die arm losziehen und viele reich machen.