Glaube, der etwas riskiert

Predigt am 12. November 2006 zu Matthäus 9,18-26

18 Während Jesus ihnen das erklärte, kam einer der Gemeindevorsteher zu ihm, warf sich vor ihm nieder und sagte: »Meine Tochter ist gerade gestorben. Aber komm und leg ihr deine Hand auf, dann wird sie wieder leben!« 19 Jesus stand auf und folgte ihm. Auch seine Jünger gingen mit.
20 Unterwegs trat eine Frau von hinten an Jesus heran und berührte eine Quaste seines Gewandes. Sie litt seit zwölf Jahren an Blutungen 21 und sagte sich: »Wenn ich nur sein Gewand berühre, werde ich gesund.« 22 Jesus drehte sich um, sah die Frau und sagte: »Nur Mut, meine Tochter! Dein Vertrauen hat dir geholfen.« Im selben Augenblick war die Frau geheilt.
23 Jesus kam in das Trauerhaus. Als er die Flötenspieler für das Begräbnis und all die aufgeregten Menschen sah, 24 sagte er: »Hinaus mit euch! Das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur.« Da lachten sie ihn aus. 25 Er ließ die Leute hinauswerfen, ging in den Raum, in dem das Mädchen lag, und nahm es bei der Hand; da stand es auf. 26 Die Nachricht davon verbreitete sich in der ganzen Gegend.

Jesus bringt neues Leben, und das reicht bis in den körperlichen Bereich hinein. Aber er stößt auf Menschen, die sich in ihrem alten Leben eigentlich ganz wohl fühlen. Ja, vielleicht ist es nicht richtig, zu sagen: sie fühlen sich wohl. Aber raus wollen sie jedenfalls nicht. Aber einige gibt es, die sehen die Chance, dass alles anders werden kann und, und sie greifen zu mit aller Kraft. Zu welcher Gruppe gehören wir? Zu welcher Gruppe gehören Sie?

Da sind die Leute, die das Haus des Synagogenvorstehers füllen: vielleicht trauern sie nicht alle so von Herzen wie die Eltern, aber sie tun doch ihre Pflicht und kommen und stehen den Hinterbliebenen bei und sorgen dafür, dass die nicht allein sind an diesem Tag des Abschieds von ihrer Tochter. Dafür sind solche Trauerbräuche da: sie machen aus aus der abgründigen Begegnung mit dem Tod eine lösbare Aufgabe. Ankämpfen gegen den Allesfresser Tod können wir nicht, aber kommen und besuchen und eine Zeit dabei sein, das können wir schon.

Aber die Schattenseite davon ist, dass all solche Bräuche uns auch davon abhalten, nach einer ganz anderen Lösung des Problems Ausschau zu halten. Klar, das ist ja auch hart, wenn man jedes Mal wieder neu nach Hilfe Ausschau halten würde und jedes Mal wieder neu enttäuscht wird, jedes Mal um so mehr diesen Schmerz spürt, wie endgültig der Tod ist und wie hoffnungslos die Begegnung mit ihm. Aber als nun tatsächlich einer kommt, der den Tod besiegen kann, da haben sie nur Spottgelächter für ihn übrig. Sie schauen nicht mehr nach etwas grundsätzlich Anderem, sondern sie haben sich abgefunden.

Wie viele Menschen gibt es, die sich abgefunden haben mit ihrer Situation: abgefunden mit einem unbefriedigenden Leben; abgefunden mit den täglichen Einerlei; abgefunden mit einer Beziehung, in der kaum noch etwas lebt; abgefunden mit dem Genörgel und Geschimpfe, das das Aroma ihres Lebens bildet; abgefunden damit, dass im Leben jetzt nichts Großes mehr passieren wird, sondern dass man sich einfach noch ein paar erträgliche Jahre wünscht, bevor alles vorbei ist.

Und wenn man sich erst mal damit abgefunden hat, wenn dann wird eine Alternative auftaucht, dann wird die zur Bedrohung, dann wehrt man sie ab, dann ist man nicht mehr bereit dafür, weil man ja schon längst die Weiche in die andere Richtung gestellt hat. Und da gibt es dann allerhöchstens noch eine Sache, die uns da rausholen kann: ein frischer, neuer Schmerz, an den wir uns noch nicht gewöhnt haben, der uns rausholt aus der Gewöhnung an all das Elend.

Deswegen sind es auch die Eltern des toten Mädchens, bei denen Jesus eine Chance hat. Die trauern wirklich, die würden alles tun, damit ihre Tochter wieder lebendig wird. Die haben sich nicht mit ihrem Verlust abgefunden. Die Trauergäste sagen nur: hau ab, du störst die Trauerfeier, die Lage ist eindeutig, und da wirst du auch nichts dran ändern.

Aber die Eltern nehmen wirklich etwas auf sich, einfach weil sie es nicht hinnehmen wollen, dass ihre Tochter einfach die Welt verlässt und nicht mehr da ist. Und man muss bedenken, dass damals an sich Töchter viel weniger wert waren als Söhne, so wie das auch heute in manchen Kulturen ist. Söhne führten die Familie weiter und waren Altersvorsorge; Töchter verursachten nur Kosten. Und trotzdem holt der Vater Hilfe bei Jesus, obwohl er Synagogenvorsteher ist und Jesus bei seinen Kollegen schon einen zweifelhaften Ruf hatte. Das wird ihm noch Ärger einbringen, dass er ausgerechnet bei Jesus Hilfe sucht. Dass er es trotzdem tut, das zeigt: er muss seine Tochter einfach sehr geliebt haben. Über alle Sitten und Konventionen hinaus liegt ihm sein Kind so sehr am Herzen, dass er alles tun würde, um sie wieder lebendig zu machen.

Sehen Sie, dass dieser Synagogenvorsteher ein ungewöhnlicher Mensch gewesen sein muss? Jesus hat später mal davon gesprochen, dass seine Jünger, wenn sie neu in eine Stadt kommen, einen Menschen des Friedens suchen und dort wohnen sollen. Es gibt überall schon solche Menschen des Friedens, die eigentlich nur darauf warten, dass sie auf jemanden wie Jesus und seine Jünger stoßen, und sie packen diese Gelegenheit sofort beim Schopf. So einer muss dieser Mann gewesen sein. Voller Liebe zum Leben. Unabhängig in seinem Denken – er traut seinem Herzen mehr als dem, was man denkt und was man tut. Bei seiner gesellschaftlichen Position würde man eher erwarten, ihn bei den Gegnern Jesu zu finden. Aber er ist ein Kind des Friedens. Es ist überraschend, wo man überall solche Menschen findet. Und es gibt andere, die sind so weit weg vom Leben und der Hoffnung, und auch so weit weg von ihrem eigenen Herzen, die lachen nur höhnisch, wenn sie dieser Alternative begegnen.

Von der Frau, die Jesus von hinten berührt, wissen wir das nicht so genau. 12 Jahre lang hatte sie schon Blutungen, und obwohl wir heute in einer Kultur leben, wo es zum Glück nicht mehr so viele Tabus gibt, nicht mehr so viele Dinge, wo es heißt: darüber spricht man nicht – bis heute ist das kein Thema, mit dem man gerne an die Öffentlichkeit gehen würde. Aber Jesus war eine öffentliche Person, man konnte als normaler Mensch eigentlich nie unter vier Augen mit ihm sprechen. So versucht die Frau es auf eine andere Weise: sie schleicht sich von hinten an ihn heran und berührt ihn und hofft, dass sie vielleicht so etwas abbekommt von der Heilung, die er um sich herum verbreitet.

Aber Jesus lässt sie nicht einfach so gehen, und zwar nicht, um sie zu beschämen, sondern weil er möchte, dass der Glaube bestätigt wird, der da aufleuchtet. Wenn jemand einen Haufen Hindernisse überwindet, um zu Jesus zu kommen, darin sieht Jesus Glauben: die Frau findet ihren Weg, um trotz der Schambarriere von Jesus geheilt zu werden; der Vater riskiert Ärger und Gelächter, um vielleicht doch seine Tochter zu behalten. Das sind Beispiele für Glauben, so wie Zachäus, der auf den Baum klettert, um Jesus auf jeden Fall zu sehen oder die vier Männer, die ihren gelähmten Freund durchs Dach zu Jesus runterlassen, damit der ihn heilt.

Immer wieder Menschen, die etwas riskieren, die es sich viel kosten lassen, an Jesus heranzukommen. Heute bei uns sind das oft Menschen, die in ihrem engen Terminkalender doch noch etwas freischaufeln, damit sie Zeit haben für die Schwestern und Brüder, unter denen wir heute Jesus finden. Und natürlich gibt es heute auch immer wieder die Situation, dass Menschen auf Unverständnis stoßen, wenn sie an eine Alternative glauben, wenn sie sich nicht abfinden mit den kleinen Tricks und den Bräuchen, mit denen wir uns das Leben halbwegs erträglich machen. Wer sich ganz neues Leben erhofft statt kleiner Erleichterungen, der wird von vielen gar nicht verstanden, weil das so weit weg ist von den Denkmustern, die Menschen sonst benutzen. Aber anscheinend ist es Jesus ganz recht, wenn Menschen Hindernisse überwinden müssen, um zu ihm zu kommen. Nicht, weil er das braucht als Streicheleinheiten für sein Ego. Sondern weil er sich nicht einfach als Wunderdoktor und Wünscheerfüller missbrauchen lassen möchte. Vorhin im Evangelium, vielleicht haben Sie es noch in Erinnerung, wie Jesus sagt: ja, ja, wenn ihr nicht Zeichen und Wunder bekommt, dann glaubt ihr nicht!

So denken sich ja bis heute Menschen das mit Gott, gerade auch in der christlichen Tradition: es gibt ein Problem, ich bete, und wenn Gott nicht hilft, dann bin ich enttäuscht von ihm, und wenn er hilft, dann sage ich danke und mache weiter wie bisher. Das ist so ähnlich, wenn ich zum Chirurgen gehe: ich gebe mich im Krankenhaus ab, schlafe für drei Stunden, und wenn ich wieder aufwache, ist der böse Blinddarm raus. Ich brauche den Operateur dafür noch nicht mal zu kennen. Und viele glauben, so könnte das mit Gott auch gehen. Deshalb gibt es dann diese Tendenz, dass in Notzeiten die Kirchen voller werden, und danach wieder leerer.

Aber in Wirklichkeit will Gott ja bei solchen Anlässen mit seinem alternativen Leben zu uns kommen, er will, dass wir umkehren und die Welt sehen, wie er sie sieht. Und dazu will er mit uns eine Beziehung beginnen, und man kann das eigentlich in all diesen Geschichten sehen, wie Jesus die Wunderdoktor-Rolle verweigert und irgendwie eine Beziehung zu dem Kranken aufzubauen versucht, damit der nicht nur gesund wird, sondern damit sich auch in seinem Leben und in seinem Herzen etwas tut.

Und wenn dann Menschen kommen, die viel investieren, um Jesus zu begegnen, die viele Hindernisse überwinden müssen, dann freut sich Jesus und bestätigt sie, weil er merkt: die sind entschlossen. Die schrecken auch nicht davor zurück, dass ihr Weltbild durcheinander kommt. Die werden sich noch nicht einmal von den anderen irritieren lassen. Die brechen das Gehäuse auf, in dem sie bis dahin gefangen waren. Und Jesus sieht in diesem ersten Schritt den Glauben, auch wenn da noch viele andere Schritte folgen müssen, aber er nimmt diesen ersten Schritt schon für das Ganze.

Das ist der Glaube, der rettet, ob er groß oder klein ist. Verstehen, dass ein Leben gut wird im Einflussbereich Jesu. Und alles tun, um unter diesen Einfluss zu kommen. Wissen, dass das der entscheidende Punkt ist: die Welt mit anderen Augen sehen und anders leben, auch wenn wir dabei einen Umbruch im Kopf riskieren oder einen Umbruch im Terminkalender, aber das hängt eigentlich zusammen.

Wollen wir die Trostpflaster, die es überall gibt, mit denen Menschen sich eingerichtet haben? Oder wollen wir neues Leben? Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen wir auf diese Frage stoßen. Manchmal sind das die Momente, wo wir in großen Schwierigkeiten sind, wo es weh tut und wo wir die Hilfe nicht finden, die wir suchen. Manchmal sind es die Momente, wo uns ein Wort ganz deutlich trifft und wir wissen, dass wir uns entscheiden müssen. Manchmal sind es auch die Momente, wo wir eine chronische Unzufriedenheit spüren und mehr dagegen tun wollen als jammern oder gereizt sein. Manchmal sind wir einfach angezogen von dem neuen Leben, dem wir bei anderen begegnen. Gott ist sehr erfindungsreich. Er tut viel, damit wir uns nicht abfinden mit dem Leben, wie es ist, und stattdessen neue Wege denken und gehen.