Eine neue Art zu leben entsteht (Das einfache Evangelium III)

Predigt am 12. Februar 2006 mit Matthäus 9,9-15

9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten. 14 Da kamen die Jünger des Johannes zu ihm und sprachen: Warum fasten wir und die Pharisäer so viel, und deine Jünger fasten nicht?
15 Jesus antwortete ihnen: Wie können die Hochzeitsgäste Leid tragen, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber die Zeit kommen, dass der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten.

Jesus hat Matthäus von seiner Zollstelle weggeholt und zu seinem Nachfolger gemacht. Matthäus gehörte zu den Zöllnern, den Handlangern der römischen Unterdrücker. Aber das hieß auch, dass er eigentlich nicht doof gewesen sein kann. Rechnen hat er bestimmt gekonnt, und auch sonst fiel einem so ein Posten nicht in den Schoß. Trotzdem, keiner von uns hätte jemals von Matthäus gehört, wenn Jesus ihn da nicht weggeholt hätte. Es ist gut möglich, dass er später der Verfasser des Matthäusevangeliums wurde – also einer der meistgelesenen Schriftsteller aller Zeiten. Und alles nur, weil er eines Tages ein Angebot bekam, das er nicht ablehnen konnte, und von heute auf morgen seine teuer erworbene Zollstelle verließ.

Jesus hat nicht nur Matthäus aus der gesellschaftlichen Isolierung und Ächtung herausgeholt, sondern er hat auch dafür gesorgt, dass Matthäus all seine Fähigkeiten, sein ganzes Potential tatsächlich ausschöpfte. Jesus befreite die Menschen nicht nur von der Sünde, sondern bei ihm blühten sie auf. Die Luft der Freiheit bekam ihnen ausgezeichnet.

„Gott will freie Menschen – deshalb kommt er, um alle Arten von Unterdrückung zu beseitigen“ – das war das erste Thema in dieser Reihe über das einfache Evangelium. Weil Jesus befreit, deshalb erleben die Menschen bei ihm überhaupt erst, wie menschliches Leben eigentlich aussehen soll. Wir sollen eben nicht ein Leben lang darum kreisen, wie wir uns eben gerade so durchschlagen , unsere Gedanken sollen sich nicht die ganze Zeit darum drehen, ob das Geld reicht, was die Leute von uns denken, dass wir keinen Ärger mit Onkel Heinz bekommen und ob wir auch daran gedacht haben, das Auto zum TÜV zu bringen. Natürlich muss man sich um einiges davon kümmern, aber Jesus möchte, dass unsere Lebensperspektive nicht darin steckenbleibt, sondern viel, viel weiter gesteckt ist. Dass im Zentrum unserer Gedanken ganz andere Dinge stehen.

Die Luft der Freiheit bekommt Menschen gut – und deshalb kann man erst bei Jesus sehen, was alles in den Menschen drin steckt. Vorher haben wir noch gar nicht verstanden, wie menschliches Leben eigentlich aussehen soll. Wir sind wie ein Kind aus einem Elendsviertel, das sein Leben bisher zugebracht hat zwischen Müll, Drogen und Gewalt, und eines Tages kommt es in ein Ferienlager am Meer, unter lauter freundliche Menschen, und es hat noch nicht ganz verstanden, dass man sich am Buffet den Teller nicht sofort vollschaufeln muss, weil man sich tatsächlich noch nachholen kann. Dieses Kind hätte sich nie träumen lassen, dass Leben so aussehen kann. Es hat nicht geahnt, dass Leben so schön sein kann. Und so sind wir, auf etwas höherem Niveau: auch wir haben vielleicht gerade mal eine Ahnung davon, was Gott sich eigentlich gedacht hat, als er uns schuf. Das ist jetzt keine fromme Redensart, sondern es ist wirklich so: was wirkliches Leben sein könnte, davon haben wir in unseren besten Augenblicken vielleicht gerade mal eine schwache Ahnung, und es ist ein Riesenunterschied, ob wir dieser Ahnung folgen oder nicht.

Matthäus ist so froh über diese Wendung in seinem Leben, dass er eine Party gibt und seine ganzen Zöllnerkollegen einlädt. Und die kommen auch sofort an, weil sie merken, dass da etwas ganz Großes passiert. Und sie wollen dabei sein. Aber wo Freiheit sich ausbreitet, da kommen auch sofort die Aufpasser, die nicht erlauben möchten, dass die Menschen eine Alternative haben. In diesem Fall sind es die Pharisäer als Vertreter der Religion. Die kommen, um die Leute nicht froh werden zu lassen mit diesen neuen Erfahrungen. Das darf nicht sein, dass die Menschen merken, wie schön die Freiheit ist. Man muss ihnen wenigstens ein schlechtes Gewissen machen. An Jesus trauen sie sich nicht heran, aber sie versuchen in seinen Jüngern Zweifel zu säen. Zum Glück passt Jesus gut auf, er nimmt das ernst und geht sofort hin, und antwortet für seine Jünger, die sich sonst vielleicht in den Schlingen der Schriftgelehrten verheddert hätten. Und auch als die Johannesjünger kommen und vielleicht eher verwundert als misstrauisch fragen, wo denn die religiösen Übungen wie das Fasten bleiben, da erklärt er das sofort und sagt: heute ist ein Tag der Freude, da muss man nicht fasten.

Es ist ja so: die Menschen wissen im Grunde, was sie alles falsch machen. Sie denken nicht immer darüber nach, sie würden es vor anderen auch kaum zugeben, aber natürlich wissen wir alle, was bei uns schief liegt im Leben und wo die Leichen im Keller liegen und wo man deshalb besser nicht so genau nachschaut. Im Grunde muss uns das keiner sagen. Was wir aber wirklich brauchen, das ist jemand, der uns zeigt, wie wir tatsächlich leben können, gut leben können, und der uns dabei vorangeht. Einer, der uns den Horizont aufreißt und uns aus der Alternativlosigkeit befreit, dass wir nämlich denken, wir hätten sowieso keine Wahl. Das hat Jesus getan, und deshalb kamen die Menschen gerne zu ihm. Deshalb konnte er im Unterschied zu den religiösen Leuten wirklich helfen.

Das Problem bei allen Religionen, einschließlich des Christentums, wenn es zur Religion wird, das ist, dass sie irgendwie immer mit Angst arbeiten, mit Drohungen, mit Vorwürfen. Wahrscheinlich stimmen die sogar oft, aber sie bringen die Menschen nicht voran. Denn unter Drohung kann man sich nicht entfalten. Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit? Wenn man vor der ganzen Klasse an der Tafel steht und eine Matheaufgabe lösen soll, wie dumm man dann plötzlich wird? Die einfachsten Sachen fallen einem nicht mehr ein. Druck und Drohung machen uns dumm. Das sind keine guten Gelegenheiten, um Neues auszuprobieren.

Jesus dagegen schafft um sich herum eine angstfreie Atmosphäre. Zum neuen Leben mit Jesus gehört zum Beispiel Fehlerfreundlichkeit. Niemand kann lernen, wenn er nicht Fehler machen darf. Natürlich ist Schlamperei nichts Gutes, aber Fehler sind oft ein Zeichen dafür, dass jemand sich etwas Neues getraut hat, und deswegen sind sie wertvoll. Der Erfinder der Glühbirne hat erst nach einer Versuchsreihe mit mehreren 100 Fehlschlägen die richtige Methode gefunden. Ein Glück, dass er nicht vorher aufgegeben hat! Viele neue Sachen sind schon schwierig genug, und wenn dann auch noch einer jeden deiner Schritte beobachtet und bei jeder Gelegenheit sofort anfängt zu meckern, dann ist es ganz schwer, neue Wege zu gehen.

Dieses neue Leben mit Jesus bringt auch eine ganz andere Souveränität mit sich, eine Selbstsicherheit und Stärke. Im Lauf der Zeit gewöhnen wir uns an, mit den Dingen anders umzugehen. In der Zeit, als es die DDR noch gab, war ich mal drüben bei einem Pastor zu Gast, und da musste man sich als Besucher aus der Bundesrepublik noch bei der Volkspolizei anmelden. Ich war dann also mit ihm zusammen auf der Wache, und hinterher sagte er: „Ja, ihr aus dem Westen, man sieht euch das gleich an, ihr geht da ganz anders rein“. Ich habe verstanden, was er meinte: wir sind nicht aufgewachsen mit dieser Furcht: o, Vorsicht, wer weiß, was sie dir bei der Polizei tun! Und dann schaut man auch in einem unfreien Land die Polizisten auf Augenhöhe an und nicht vorsichtig von unten. Das war nicht mein persönlicher Entschluss oder Verdienst, und es war noch nicht unbedingt etwas besonders christliches, sondern es lag an dem Klima, in dem ich normalerweise gelebt habe. Das Klima, in dem wir leben, prägt uns einfach.

Und bei Jesus leben wir in einem Klima, das uns darauf vorbereitet, allen Situationen mit Souveränität entgegenzutreten. Wir sind dann daran gewöhnt, dass wir einen Weg finden, um die Dinge geregelt zu kriegen. Dietrich Bonhoeffer, über den wir in zwei Wochen hier noch mehr hören werden, von dem haben sie gesagt, als er schon im Gefängnis war: er tritt aus seiner Zelle wie ein Gutsherr aus seinem Schloss, und er redet mit seinen Bewachern frei und freundlich und klar, als ob er der Chef wäre. Jünger Jesu werden darauf vorbereitet, auch ohne Geld, Macht oder organisatorischen Rückhalt starken Einfluss auszuüben in der Welt. Sie sind meilenweit entfernt von dieser Looser-Mentalität: „o nein, es ist so schrecklich, was mach ich nur, wenn mir jetzt nicht irgendwer hilft, kriege ich das nicht hin, es ist alles viel zu kompliziert für mich“. Wir sollen leben mit dem ruhigen Bewusstsein, dass wir das schon irgendwie hinkriegen werden, weil wir wissen, wie Jesus die Dinge anfasst, und weil Gott auf unserer Seite ist, und weil es nicht das Schlimmste ist, wenn wir mal in Schwierigkeiten kommen.

Es ist kein deshalb Zufall, dass sich Technik und Wissenschaft gerade hier in Europa, auf christlichem Boden entwickelt haben. Die Amtskirche hat da natürlich zu blocken versucht, alle Religionen sind eben konservativ und ängstlich, aber das hat den christlichen Freiheitsimpuls nicht stoppen können: dies vorurteilslose Hinschauen, ob die Erde wirklich eine Scheibe ist oder vielleicht doch rund, diesen Mut zu neuen Wegen, die Neugier, ob die Erde um die Sonne oder ob die Sonne um die Erde kreist. Das Vertrauen, dass man die Dinge rauskriegen kann. Dass es sich lohnt, die Wahrheit zu entdecken.

Das Fatale ist, dass sich die moderne Wissenschaft in Opposition zur Kircheninstitution entwickeln musste, und deshalb hat man gedacht, Wissenschaft und Gott vertragen sich nicht miteinander. In Wirklichkeit konnte die moderne Wissenschaft nur auf christlichem Boden entstehen. Diese ganze unwahrscheinliche, atemberaubende Entwicklung hin zur heutigen Zivilisation ist eine Folge davon, dass Jesus die Menschen freigesetzt hat, auch das Undenkbare, das Unvorhergesehene und Noch-nie-Dagewesene zu tun. Er hat uns erst Mut gemacht zu einer Grundhaltung, die Neues denkt und entdeckt. Und das hat die Welt völlig verändert. Aber weil die moderne Welt leider ihre Wurzeln vergessen hat, deshalb sind diese ganzen technischen Entwicklungen aus dem Ruder gelaufen, zerstören die Umwelt und bedrohen unser Überleben. In Europa hat es leider auch den Versuch gegeben, die Früchte des Wirkens Jesu ohne ihn zu genießen, und das geht auf die Dauer nicht gut, man verliert sie, oder die Früchte verderben nach einiger Zeit.

Aber was man an Technik und Wissenschaft so deutlich sieht, das gilt für alle Lebensbereiche: Jesus setzt die Fülle frei. Er bringt ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten. Um ihn herum herrschen Zuversicht und ungebremste Freude, Vertrauen in die Fähigkeiten der Menschen, Lachen und Singen, natürlicher Jubel und sprudelndes Leben. Jesus beschrieb die neue Welt Gottes als ein großes Hochzeitsfest, und wo er hinkam, da luden die Menschen immer wieder zu Festmählern ein. Mindestens einmal hat er auf wunderbare Weise für Alkoholnachschub gesorgt, und bis heute wird er nicht nur mit Lobliedern gepriesen, sondern auch mit leckerem Essen und Trinken. Es ist klar, bei Jesu Feiern hat es natürlich keine stumpfsinnigen Saufspiele gegeben, aber lebendige Freude an all den guten Gaben Gottes.

Ich könnte noch stundenlang von dieser neuen Lebensqualität erzählen, von diesem angstfreien Leben in der Gegenwart Gottes, wie Jesus es vorgemacht hat. Ich habe das in dieser Predigt nur ein bisschen ankratzen können. Ich muss aber eins noch auf jeden Fall sagen: diese Lebensqualität erreicht man nur mit anderen zusammen, und zwar nicht einfach nur mit guten Freunden, sondern es muss schon deutlich sein, dass es um die Nachfolge Jesu geht. Auch die Beziehung zu anderen Menschen erreicht dann eine Tiefe, die sich Außenstehende gar nicht vorstellen können. Dietrich Bonhoeffer hat davon erzählt, wie sie unter dem Nationalsozialismus, in dieser Unterdrückungszeit, einfach lernen mussten, sich einigen wenigen Menschen ganz anzuvertrauen, sich ihnen ganz in die Hände zu geben. Jeder hätte den anderen ans Messer liefern können, aber das Vertrauen und die Freiheit, die da entstanden, waren wirklich kostbar, und andere kennen so etwas überhaupt nicht.

Und auch in einem freien Land werden wir die wirkliche Lebensqualität, die Jesus bringt, nur dann erreichen, wenn wir uns mit anderen zusammenschließen und dafür auch Zeit haben und auf einige andere Dinge verzichten. Es ist im Leben immer so, dass die wirklich wichtigen Dinge nicht zum Nulltarif zu haben sind. Deswegen: wenn Sie in diese neue Art zu leben eintreten wollen, dann suchen Sie sich andere, die das auch wollen. Billiger geht es nicht.

Natürlich wird das zu 100 % alles erst in der neuen Welt Gottes Wirklichkeit. Aber Jesus hat dafür gesorgt, dass wir nicht auf den Himmel warten müssen, sondern wir sollen jetzt eintreten in diese neue Lebensqualität, damit das nicht eine Ahnung bleibt, sondern in unserem Leben stabile Wirklichkeit wird. Das ist in dieser unsicheren Welt das einzig Verlässliche und gleichzeitig das Beste, was uns passieren kann.