Einfluss vom Rand aus (Gemeinschaft V)

Predigt am 31. August 2008 zu Matthäus 5,13-16

13  »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn jedoch das Salz seine Kraft verliert, womit soll man sie ihm wiedergeben? Es taugt zu nichts anderem mehr, als weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden. 14 Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. 15 Auch zündet niemand eine Lampe an und stellt sie dann unter ein Gefäß. Im Gegenteil: Man stellt sie auf den Lampenständer, damit sie allen im Haus Licht gibt. 16  So soll auch euer Licht vor den Menschen leuchten: Sie sollen eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.«

Am vergangenen Sonntag ging es um Krisen in der frühen Christenheit: wie gesellschaftliche Strömungen wie die Gnosis in die Gemeinden eindrangen und darauf manchmal mit einer Art Notordnung geantwortet wurde, die den Leitern sehr viel Macht gab. Und das war nicht das letzte Mal, dass in der Kirche diejenigen in die Minderheit kamen, die radikal das Evangelium leben wollten. Je mehr Menschen dazu kamen, um so mehr brachten sie auch die Selbstverständlichkeiten der Umwelt mit. Man muss gar nicht unbedingt von halbherzigen Christen sprechen, aber irgendwie scheint manches von dem anfänglichen Impuls verloren gegangen zu sein, je größer die Christenheit wurde. Zuerst waren es noch die Verfolgungen, die diesen Effekt begrenzten. Jedes Mal, wenn Christen verfolgt wurden, dann machten sich zuerst die Mitläufer und Halbherzigen aus dem Staub. Aber ab 325 war das Christentum offizielle Religion, ein paar Jahrzehnte später sogar Staatsreligion. Und dann war es gesellschaftlich hilfreich, Christ zu sein. Es war der Karriere dienlich.

Es ist, als ob Jesu das vorausgesehen hat, als er sagte: Wenn jedoch das Salz seine Kraft verliert, womit soll man sie ihm wiedergeben? Es taugt zu nichts anderem mehr, als weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden. Salz hat keinen Sinn mehr, wenn es nicht anders schmeckt als das Essen. So macht die Kirche nur Sinn, wenn sie eine Alternative zu ihrer Umwelt ist. Sie soll ja Gottes Alternative verkörpern. Wenn die Kirche aber nur noch das heilige Sahnehäubchen oben drauf ist, dann kann man auf sie auch verzichten.

Es ist kein Zufall, dass damals Zeit eine neue Art, Christ zu sein, entstand. Das waren die Mönche. Die ersten gab es schon, als das Christentum noch nicht erlaubt war, aber so richtig los ging es dann danach. Da gab es Leute, die die Nase voll hatten von der Welt, denen auch die Gemeinden zu verweltlicht waren, und die sich deshalb aus der Welt zurückzogen in die Wüste. In Ägypten hat es wohl diese frühesten Mönche gegeben. Das waren Einsiedler, die ganz allein Gott dienen wollten. Einige trieben es auf die Spitze wie der berühmte Säulenheilige Simon, der Jahrzehnte auf einer Säule zubrachte und gerade so weit bekannt wurde. Zu dem Mann, der sich eigentlich in die Einsamkeit zurückziehen wollte, kamen Menschen von weither und erbaten sich von ihm Rat oder versuchten einen Faden aus seiner Kutte zu ziehen, weil die als wunder wirkend galten. Zweimal am Tag predigte er zu den vielen Menschen, die kamen. Er bekam politisches Gewicht, z.B. mit seiner Forderung, man dürfe höchstens sechs Prozent Zinsen nehmen.

Man sieht daran: auch wenn einer ein Extrem lebt, das eigentlich nicht so ganz passt zu der Art Jesu, so kann er doch auch von dieser Außenseiterposition große Wirkung haben.

Und das trifft überhaupt auf das Mönchtum zu. In irgendeiner Form lebten die ja immer als Alternative zur Gesellschaft, und gerade so haben sie oft ganz großen gesellschaftlichen Einfluss gehabt. Im Mittelalter waren es die Klöster, in denen das Wissen gesammelt und schriftlich festgehalten wurde. In den Klöstern wurde die Medizin ausgeübt. Kunstwerke entstanden. Die Bibel wurde abgeschrieben. Oft holten sich die Fürsten ihre Kanzler aus den Klöstern, weil sonst niemand Lesen und Schreiben und Verwalten konnte. Es waren Orden wie die Zisterzienser, die öde Landstriche fruchtbar machten. Und gerade in Gegenden, in denen das Christentum noch nicht wirklich Fuß gefasst hatte, da gründete man Klöster als geistliche Zentren, von denen aus die Menschen gewonnen werden sollten. Später wurden auch richtige Missionsorden gegründet.

Vor allem aber waren die Orden ein gewisser Freiraum für alle, die nach einem echten Leben mit Gott fragten. Die Kirche versuchte über die Orden, diese besonders engagierte Frömmigkeit zu integrieren und gleichzeitig zu nutzen. Man kann das z.B. an Franz von Assisi sehen: als der in aller Harmlosigkeit eine große Bewegung in die Welt brachte, Menschen, die genauso wie er in Armut Jesus nachfolgen wollten, da bestand eine Zeit lang durchaus die Möglichkeit, dass diese Bewegung in Konflikt mit der Kirche kommen könnte. Erst als Franz dem Orden eine Regel gab, da wurden die Franziskaner vom Papst anerkannt. Die Franziskaner bekamen ihren Freiraum, aber sie durften nicht zu radikal werden. Und andererseits integrierte sich die Kirche diesen lebendigen Impuls einer frischen Christlichkeit. Franz wurde am Ende ein Heiliger – aber er hätte auch als Ketzer enden können wie die Waldenser und die Hussiten, die es trotz aller Verfolgungen heute noch gibt.

Aber die Orden und Klöster standen immer in Gefahr, lau zu werden und zu verweltlichen. Und dann fanden sich oft Reformer, die die Regeln verschärften oder gleich neue Zweige des alten Ordens gründeten. Als z.B. Martin Luther Mönch wurde, da trat er in so eine Abspaltung vom Orden der Augustinermönche ein. Als Mitglied dieses Ordens hat er die Bibel ausgelegt, in dem Orden hat er den Seelsorger gefunden, der ihn auf seiner geistlichen Suche begleitete. Das waren nicht irgendwelche fetten Mönche, die ihre Litaneien mechanisch runterleierten und vor allem ans Bierbrauen dachten, sondern da war ein geistliches Potential, Menschen, die andern durchaus weiterhelfen konnten. Auf einer Versammlung seines Ordens durfte Luther sogar seine grundlegenden Thesen vortragen, und in diesem Kreis fand er seine ersten Anhänger. Und als das alles dann weitere Kreise zog, da war Luther eine Zeit lang durch seinen Orden geschützt: er unterstand keinem Bischof, und selbst der Ordensmeister der Augustiner konnte nichts gegen ihn machen, weil er auf diese Abspaltung keinen Einfluss hatte. Wäre Luther ganz normaler Priester gewesen, dann hätte man ihn schnell aus dem Verkehr ziehen können. Aber als Mönch hatte er einen größeren Freiraum.

Man kann also sagen, dass es unter den Mönchen oft einen größerer Spielraum gab, um mit Gott ernst zu machen. Das war natürlich von Orden zu Orden verschieden. Luther selbst hatte im Rückblick eine kritische Haltung zum Mönchtum, und deswegen gibt es eigentlich kein evangelisches Mönchtum – abgesehen von ein paar Ausnahmen. Stattdessen hat es im evangelischen Bereich immer wieder andere Bewegungen von Menschen gegeben, die mit dem Glauben wirklich ernst machen wollten. Auch Luther selbst hat den Traum gehabt von überschaubaren Gemeinschaften, die in christlicher Verbindlichkeit zusammenlebten. Sein Haus mit den vielen Gästen, die sich bei Tisch über Gott und die Welt unterhielten, war ein bisschen so etwas wie ein geistliches Zentrum. Aber das irgendwie zu institutionalisieren, dazu hat er sich nicht durchringen können. Er sagte: »mir fehlen die Leute dazu«.

Trotzdem starb dieses Suchen nach intensiver christlicher Gemeinschaft nicht aus. 150 Jahre nach Luther forderte der Frankfurter Pastor Philipp Jacob Spener (1635-1705), es müsse kleine Gruppen geben für alle, die »mit Ernst Christen sein wollen«. Spener hatte damit sozusagen die Bibelkreise oder Hauskreise erfunden. 200 Jahre lang galten die der Obrigkeit immer wieder als hoch verdächtig und gefährlich. Wieder 50 Jahre später ließ sich eine Gruppe von Flüchtlingen aus Mähren im deutsch-tschechischen Grenzgebiet nieder. Die standen in der Tradition der tschechischen Hussiten und wurden in ihrer Heimat verfolgt. Der jungen Graf von Zinzendorf erlaubte ihnen, auf seinem Gebiet zu leben. Gemeinsam gründeten sie die Siedlung Herrnhut. Da war Zinzendorf gerade 22 Jahre alt. Sein Taufpate war übrigens der Pfarrer Spener, den ich vorhin erwähnte. All diese vielen Bewegungen am Rande der offiziellen Christenheit hängen irgendwie zusammen und beeinflussen sich gegenseitig.

Fünf Jahre brauchten die Herrnhuter, um sich zusammenzufinden, teilweise unter massiven Konflikten. Aber dann gründeten sie 1727 die »Herrnhuter Brüdergemeine«, eine geistliche Gemeinschaft, die ein ganzes Dorf umfasste. Vier Jahre später entstanden die Losungen, Bibelworte, die für jeden Tag des Jahres ausgelost wurden und bis heute weit verbreitet sind. 1732 sandten die Herrnhuter ihre ersten Missionare zu den schwarzen Sklaven in die Karibik. 1760 hatten sie schon 226 Missionare in viele Gegenden der Erde ausgesandt und 3000 Menschen getauft. Sie hatten eine Missionsbewegung angestoßen, die zu den wirkungsvollsten gehörte, die es je gegeben hat.

1738 wurde Zinzendorf aus Sachsen ausgewiesen, erst 1747 durfte er zurückkehren. 1749 wurde auch die Brüdergemeine offiziell toleriert.

Ich könnte jetzt noch viel erzählen, aber es geht mir darum, wie in der katholischen Kirche genauso wie bei den Evangelischen immer wieder geistliche Bewegungen entstanden sind, die in Gemeinschaft ihr Leben verbindlich christlich gestalten wollten. Das sind viel mehr als man denkt. Und sie haben ganz oft einen großen Einfluss auf die Christenheit gehabt, auch wenn es zahlenmäßig nur wenige waren.

Die einen sind dauerhaft als Ketzer oder Sektierer verfolgt worden, die anderen haben irgendwann ihren Platz in der Kirche gefunden und sind manchmal sogar später zu Heiligen erklärt worden. Wenn du also zu Lebzeiten Ärger mit der Kirche hast, dann steigen deine Chancen, dass du als Toter einen Platz im Heiligenkalender bekommst! Man muss nur in der Gegenwart an einen wie Dietrich Bonhoeffer denken, der zu seinen Lebzeiten ziemlich umstritten war, viel zu radikal, und heute ist er so etwas wie ein evangelischer Heiliger. Auch Bonhoeffer hat – natürlich – eine Gemeinschaft gegründet, das Predigerseminar Finkenwalde. Und er schrieb im Gefängnis: »Die Restauration der Kirche … kommt gewiß aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat.«

Also, es geht nicht um Säulenheilige, es geht auch nicht um Ehelosigkeit oder Klöster mit hohen Mauern oder Askese in der Wüste, aber es geht um Menschen, die miteinander in der Nachfolge Jesu leben, ganzheitlich, Tag für Tag. Und zwar gemeinsam, so dass sie sichtbar werden und Einfluss ausüben können: nicht durch äußere Macht, sondern durch geistliche Kraft. Wie Jesus es sagte:

»Auch zündet niemand eine Lampe an und stellt sie dann unter ein Gefäß. Im Gegenteil: Man stellt sie auf den Lampenständer, damit sie allen im Haus Licht gibt. So soll auch euer Licht vor den Menschen leuchten: Sie sollen eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.«

Christliche Gemeinschaft übt Einfluss aus, weil sie sichtbar wird als die bessere Alternative. Und dann können schon wenige einen großen Unterschied machen.

Aber wie geht das? Wie können ganz normale Menschen mit Familie und Beruf mitten in der heutigen Gesellschaft gemeinsam zu einem deutlichen Licht werden, das allen Menschen so leuchtet, dass sie daran etwas über Gott sehen können und ihn preisen? So viele wünschen sich Gemeinschaft: zwischen Alten und Jungen, Leuten aus verschiedenen sozialen Schichten, zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und denen, die seit Generationen in Deutschland leben. Da müsste doch einiges von der christlichen Gemeinschaft her machbar sein. Wie sieht Gemeinschaft aus, an der z.B. junge Leute ablesen können, was das Evangelium bedeutet? Wo man der Gemeinschaft begegnen kann, die schon in Gott selbst ist.

Eigentlich kommen wir heute an den Punkt, wo es nicht mehr um Predigten geht, sondern wo man sich zusammensetzen muss und miteinander überlegen, wie das aussieht, und wem das so am Herzen liegt, dass er da unbedingt dabei sein will. So wie die Herrnhuter nach fünf Jahren noch einmal einen neuen Anfang miteinander machen mussten.

Ich habe sowieso bei dieser Predigtreihe den Eindruck, dass ich nicht so schöne runde Predigten halten kann, die am Ende stimmig mit einer aufgelösten Harmonie enden, und alle können sagen: ja, genau! Sondern je länger ich über dies Thema predige, um so mehr komme ich mir vor, als ob ich mit einem Fragezeichen aufhöre oder mindestens mit einem Doppelpunkt. Trotzdem, einmal werde ich am nächsten Sonntag noch darüber predigen, wie das denn heute wohl aussehen kann, das neue Mönchtum, von dem Bonhoeffer sprach, die neue Art von Gemeinschaft, die das aufnimmt, was Jesus und seine Jünger begonnen haben, und es umsetzt für unsere Gegenwart. Aber ich fürchte, auch dann wird es mit nicht gelingen, das rund und vollständig mit einem großen Punkt zum Abschluss zu bringen. Die eigentliche Antwort wird erst danach gegeben von denen, die sich auf den Weg machen.