Abschied – ein Riss im Herzen

Predigt am 16. November 2003 zu Markus 13,31

In der Predigt wird auf zwei andere Elemente des Gottesdienstes Bezug genommen: eine Theaterszene am Anfang, in der ein älterer Mann nach dem Tod seiner Frau in einen Waschsalon kommt und dort von seiner inneren Verfassung erzählt; und eine Multimedia-Präsentation des Gedichtes »Spuren im Sand«, die ursprünglich für einen Gottesdienst mit der Grundschule entwickelt wurde.

Jesus sprach: »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.«

Wenn wir Abschied nehmen müssen, von einem Menschen, der uns nahegestanden hat, oder von vertrauten Verhältnissen, die uns lieb geworden sind, dann erleben wir schon etwas von dem großen Abschied, der Himmel und Erde bevorsteht. Die große Welt im Ganzen ist begrenzt, und auch unser kleines Leben läuft auf seine Grenze zu. Und das merken wir schon lange bevor unsere Jahre in dieser Welt zu Ende sind. Wir merken es an den Abschieden, die wir immer wieder erleben müssen. Wir ziehen um, wir verlassen die Schule oder einen Arbeitsplatz, und wir verlieren Menschen, entweder weil unsere Wege sich trennen oder durch den Tod.

Und jeder dieser Abschiede, ein großer ebenso wie ein kleiner, geht mit Trauer einher. Trauer ist das Wort für unsere Reaktion auf Abschiede im Leben. Jedes menschliche Leben ist ja so etwas wie eine Welt im Kleinen, und wenn ein Teil dieser Welt verschwindet oder zerstört wird und nicht mehr da ist, dann müssen wir das auch innerlich irgendwie nachvollziehen. Die äußere Welt, die findet ja ihren Niederschlag in unserem Kopf und in unserem Herzen, und wenn da etwas wegbricht, dann muss das auch seine Entsprechung in uns finden. Dann ist auf einmal ein ganzer Teil unseres Denkens und Fühlens quasi überflüssig, weil ja die entsprechende Realität nicht mehr existiert. Und je größer dieser Teil unseres Lebens war, der jetzt fehlt, um so mehr Bereiche unseres Denkens und Fühlens sind betroffen.

Das ist ja nicht so, dass man einfach sachlich registriert: Also, Anna gibt es jetzt nicht mehr. Ich stelle eine Liste auf mit Dingen, um die ich mich jetzt selbst kümmern muss. So sind wir wirklich nicht. Sondern das können wir nur Stück für Stück langsam begreifen, was uns jetzt fehlt. Natürlich weiß der alte Mann, dass seine Frau tot ist. Aber wenn er zum ersten Mal in den Waschsalon geht, dann wird ihm wieder von Neuem und unter einem anderen Gesichtspunkt drastisch klar: Anna gibt es nicht mehr. Und so wird es weitergehen, wenn er zum ersten Mal ohne sie Weihnachten feiert, wenn ihr Geburtstag kommt oder der Hochzeitstag, jedes Mal wird ihm wieder neu klar: sie ist aus meiner Welt verschwunden. Jedes Mal erlebt er wieder neu den Tod. Und wenn der Nussknacker, den Anna so oft in der Hand gehabt hat, runterfällt und kaputtgeht, dann wird auch das für ihn wieder ein Bild für diesen zerbrochenen Teil seines Lebens, der nicht mehr zurückzuholen ist. Und wenn er die zerbrochene Figur schließlich zurücklegt, dann hat er sich wieder einmal handgreiflich klargemacht, dass er die Vergangenheit nicht festhalten kann.

Und jedes Mal verwandelt sich ein lebendiges Stück seiner Welt in eine Erinnerung. Es geht nicht anders, es muss so sein. Wenn ein Mensch mit aller Gewalt so tun würde, als ob alles weiterginge wie vorher, wenn er sich einbilden würde: es hat sich ja gar nichts geändert, dann würde man sagen: er ist krank, er ist nicht realitätstüchtig. Wenn er auch nach Jahren noch mit seiner Frau reden würde und den Tisch für sie decken würde, dann müsste man sich Sorgen um ihn machen. Ich sprach mal mit einem bayerischen Pfarrer, der sagte (im Original war das in einem Dialekt, den ich leider nicht nachmachen kann): wenn ich ein Jahr nach einer Beerdigung wieder zu der Witwe oder dem Witwer komme, dann gucke ich ins Schlafzimmer. Wenn da nur noch ein Bett gemacht ist, dann ist es in Ordnung. Wenn ich sehe, dass da noch zwei Betten gemacht sind, dann weiß ich, da läuft etwas schief und ich muss mich drum kümmern.

Ich weiß zwar nicht, wie der das angestellt hat, dass ihm immer die Schlafzimmer gezeigt werden. Aber was er damit sagen wollte, das ist richtig: die Zeit, in der wir trauern, die dient dazu, dass wir uns auch innerlich auf die neuen Verhältnisse einstellen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es muss in einer überschaubaren Zeit passieren. Sonst verschlingt der Tod das Leben, und der Neuanfang gelingt nicht mehr. Ich habe mal eine Frau beerdigt, deren ganzes Leben stand unter dem Vorzeichen, dass sie vor vierzig Jahren ein Kind verloren hatte. Davon war sie nie wieder losgekommen. Aber so hart es klingt: Wir müssen uns von alten Bindungen trennen, weil wir sonst nicht frei sind für Neue. Aber gleichzeitig können wir auch die vergangene Realität nicht einfach durchstreichen und ignorieren.

Ein Bild für diesen Prozess der Neuordnung ist es, wenn man den Haushalt eines verstorbenen Menschen auflöst oder seine Sachen neu ordnet und sortiert. Einige Dinge werden zu Erinnerungsstücken. Andere bekommen eine neue Verwendung. Wieder andere gibt man weg. Wer so mit der Hinterlassenschaft eines Menschen umgehen muss, der tut ganz äußerlich das, was auch in unserem Kopf und in unserem Herzen vor sich geht: wir sortieren und ordnen neu, wir geben Dingen einen neuen Platz, wir lassen los und geben ab. Und manchmal fällt das unheimlich schwer. Aber mit dem allen machen wir in unserem Leben und in unserem Herzen Platz für Neues. Das braucht seine Zeit. Deshalb ist dieser Moment, wo einer anfängt, die Hinterlassenschaft eines Menschen zu ordnen, auch innerlich so ein wichtiger Termin.

Oder auch wenn wir uns auf einen Umzug vorbereiten und Entscheidungen treffen müssen: was nehme ich mit, was brauche ich nicht mehr, was muss ich leider abgeben, weil es nicht in die neue Wohnung passt? All diese äußeren Vorgänge bleiben nicht draußen, sondern schlagen sich in unserem Innern nieder und bauen unser Bild von der Welt um.

Je größer solche Veränderungen sind, um so mehr Angst, Schmerz und – Trauer eben erleben wir. Unser Kopf ist nicht darauf eingestellt, dass etwas abrupt wechselt, und schon gar nicht, dass ganze Teile unserer Lebenswelt einfach wegbrechen. Deshalb gehört zu den schlimmsten Krisen, die man erleben kann, der Verlust des Ehepartners, der Verlust von Eltern oder Kindern, der Verlust des Arbeitsplatzes oder auch ein Umzug an einen neuen Ort. Noch schlimmer sind mehrere dieser Verluste gleichzeitig, wenn man also wie der Mann im Waschsalon nicht nur den Ehepartner verliert, sondern sich auch vom Haus trennt. Jedes Mal bedeutet das einen Abschied von Menschen oder Verhältnissen, die einen großen Teil unserer Welt bedeutet haben, und jedes Mal erleben wir dann hautnah, dass die Welt nicht stabil und dauerhaft ist. Das kann zu einem Angriff auf die Gesundheit von Leib und Seele werden.

Gemildert wird dieser Schmerz des Abschiedes dann, wenn der Verlust mit einem Gewinn einhergeht. Wenn wir beispielsweise nach dem Umzug keine Wochenendehe mehr führen müssen, wenn der neue Arbeitsplatz besser ist, wenn wir nach dem Verlust eines Menschen neue Freunde finden. Ein Abschied bleibt es immer noch, aber so ist es leichter.

Das ist auch der Weg, wie Gott uns hilft, die unvermeidlichen Abschiede zu bestehen. Er erspart uns die Abschiede nicht, aber er begleitet uns durch die Trennungen und Schmerzen hindurch. Es ist ja so, dass ein Mensch mitten in der Trauer oft gar nicht er selbst ist, sondern sich für eine Zeit auf irgendetwas anderes stützt, das ihm hindurchhilft. Vielleicht sagt er hinterher: aufrechterhalten hat mich nur der Gedanke, dass ich für meine Kinder sorgen muss! Oder: ich habe weitergemacht, weil ich eine Aufgabe hatte, für die ich verantwortlich war.

Und noch viel mehr kann uns eine feste Bindung an Gott in den Zeiten stützen, wo wir selbst kaum noch die Kraft dazu haben. Deswegen endet dieses Gedicht »Spuren im Sand« mit dem überraschenden Schluss: Mein Kind, wo du nur eine Fußspur gesehen hast, da habe ich dich getragen! Zeiten des Abschiedes können so schlimm sein, dass wir ohne äußere Stütze nicht hindurchgehen können. Aber diese äußern Stützen haben Menschen ja gerade verloren. Nur Gott bleibt, nur er bleibt stabil in allem Vergehen und zerbrechen. Unser Leben und die ganze Welt laufen darauf zu, dass wir all die äußeren Stützen verlieren werden. »Himmel und Erde werden vergehen« sagt Jesus, das gilt für die große und die kleine Welt. Aber er sagt auch: Meine Worte vergehen nicht, sie bleiben gültig für immer und ewig.

Mitten in dieser Welt, die dem Ende entgegengeht und wo Menschen ihrem Tod entgegenleben, da gibt es eine Perspektive, die die Grenzen der Welt überschreitet. Man könnte im ersten Moment sagen: es ist ja so sinnlos, wenn alles vergehen und verblühen wird! Aber in dieser Welt ist auch die Kraft der Auferstehung Jesu, die den Tod schon längst überwunden hat. Mitten zwischen Abschieden und Verlusten gibt es etwas, was Zukunft hat und nicht mehr dem Vergehen unterworfen ist. Jesu Worte und das, was sie in dieser Welt bewegen, das alles bleibt bestehen. Das ist gerade das Wichtigste, der Ertrag eines Lebens, und davon werden wir uns nie verabschieden müssen. Genau das Wichtigste und Größte in einem Leben, dass Gott sein Leben in uns lebt, dass er uns mit seiner Wahrheit beschenkt, dass wir schon jetzt an seiner neuen Welt mitbauen, genau das ist dem Tod nicht mehr unterworfen. Davon werden wir uns niemals trennen müssen. Natürlich vergehen alte Formen und alte Worte, aber alle echte Substanz darin, von der werden wir nie Abschied nehmen müssen. Deswegen werden Menschen, die mit Gott verbunden sind, beweglich und können sich oft auch im hohen Alter noch auf Neues einlassen, weil sie keine Angst vor dem Verlust haben müssen. Wer mit Jesus verbunden ist, der kann loslassen, weil er weiß, dass er das Gute und Heilvolle immer wiederbekommen wird.

Je mehr Bereiche seines Lebens ein Mensch mit Jesus in Verbindung gebracht hat, um so weniger wird er verlieren, wenn sein Weg in dieser Welt zu Ende ist. Die Menschen, die so gelebt haben, die können dann am Ende sterben und sich sicher sein: gerade das, was mir am wichtigsten war im Leben, das wird mich nie verlassen. Es gibt Dinge, die ich hinter mir lasse, und das ist auch gut so, ich werde frei sein von vielen Dingen, die mich behindert und mir im Wege gestanden haben. Aber das, worum es mir zuerst und zuletzt geht, das werde ich nie verlieren. Ich werde leben und ich werde sterben und ich werde neu leben in der kommenden Welt; aber ich werde immer zu meinem Herrn gehören und er wird nie von mir gehen.

Und alles, was gut und groß war in meinem Leben, alles, was von diesen Worten Jesu berührt und geprägt war, das wird mich begleiten und wird genauso verwandelt werden wie ich.