Die Schuld der Führungsschicht

Predigt am 16. März 2003 zu Markus 12,1-12

1 Und Jesus fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes.
2 Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs hole. 3 Sie nahmen ihn aber, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. 4 Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. 5 Und er sandte noch einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie.
6 Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 7 Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! 8 Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.
9 Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. 10 Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Psalm 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. 11 Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«?
12 Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.

Woher hat Jesus diesen Mut? Er ist mitten in der Höhle des Löwen, und er erzählt solche Gleichnisse. Das ist eine glatte Kampfansage an die Hohenpriester und Schriftgelehrten. Im Zentrum ihrer Macht erzählt er ihnen ihre eigene Geschichte: wie sie sich Israel angeeignet haben, wie sie versucht haben, es zu ihrem Eigentum zu machen und Gott um den Ertrag seines Volkes zu bringen. Und vor allem: wie sie versucht haben, Gottes Boten auszuschalten, damit sie niemandem rechenschaftspflichtig sind. Und schließlich erzählt er ihnen auch noch durch die Blume die nahe Zukunft: dass sie gerade dabei sind, seinen Tod zu planen und diesen Plan auch durchführen werden. Das ist ein raffinierter Trick. Wenn sie jetzt tun, was sie sich schon längst vorgenommen haben, dann geben sie ihm auch noch recht. Sie selbst und alle, die dabei sind, werden wissen: ja genau, er hat es vorausgesagt. Was sie auch tun werden, sie bestätigen ihn damit auch noch. Kein Wunder, dass sie wütend raus laufen.

Jesus ist ein Meister darin gewesen, Dinge so auszusprechen, dass unterschiedliche Menschen sie unterschiedlich klar verstanden haben. Viele Zuhörer haben diese Geschichte vom Weinberg wahrscheinlich nur als eine verfremdete Variante des alten Weinbergliedes aus dem Jesajabuch verstanden. Da erzählt Jesaja von seinem Freund, der sich einen Weinberg angelegt hatte. Und dieser Weinberg gab keinen Ertrag. In diesem Gleichnis ist der Freund Gott und der Weinberg Israel. Und Jesaja gibt die Enttäuschung Gottes wieder, dass er in Israel nicht die Gerechtigkeit und das Leben findet, die er erhofft hat.

Aber für de, der hören will, erweitert Jesus das Bild. Er fragt nach den Verantwortlichen, nach denen, die sich kümmern müssten um diesen problematischen Weinberg. Denn die sind das eigentliche Problem. Dass Gott nicht zu seinem Recht kommt, das liegt an den Führungsschichten. Sie verhindern, dass Gott die Früchte bekommt, die er sich wünscht: Freude, Freiheit, Gebet, Gottesnähe, Entlastung der Menschen. Der Weinberg Israel, ja man könnte sagen: der Jerusalemer Tempelberg bringt seinen Ertrag nicht, weil seine Verwalter alles selbst behalten möchten.

Hauptverantwortlich dafür, was für ein Geist in einem Volk oder in einem Gemeinwesen herrscht, sind die Leiter. Die normalen Menschen sind unheimlich abhängig davon, was oben gedacht und gesagt wird. Wenn es heißt: die Arbeitslosigkeit bekämpft man am besten dadurch, dass man die Arbeitslosen auf Sozialhilfeniveau bringt, dann glauben die Leute am Ende, dass so wirklich der Aufschwung kommt. Oder, ein positives Beispiel: Als im Sommer beide Kanzlerkandidaten sich gegen einen Irak-Krieg aussprachen, da nahmen sie damit eine Stimmung in der Bevölkerung auf. Aber wenn niemand da gewesen wäre, der ausspricht, was die Menschen denke, dann wäre es nie zu so einer einhelligen Ablehnung des Krieges in Deutschland gekommen. Oder wenn sie sehen, dass die Führungsgruppen anscheinend ohne Gott leben, und dass sie nicht an Gott denken, dann fangen die Leute an, es auch so zu machen.

Jesus schafft hier so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit. Er schafft ein Umfeld, in dem andere Regeln und andere Werte gelten. Das hat er schon immer getan, aber jetzt macht er es mitten im Tempel von Jerusalem. Immer wieder haben sie versucht, ihm Fallen zu stellen oder ihn unglaubwürdig zu machen. Es hat alles nichts genützt, im Gegenteil, sie haben sich nur noch zusätzlich blamiert.

Und jetzt greift Jesus sie sogar im Zentrum ihrer Macht an, mitten im Tempel. Er erzählt ihnen in einem Gleichnis ihre eigene Geschichte. Die Geschichte ihres Ungehorsams, die Geschichte ihrer unrechtmäßigen Bereicherung. Und wer Ohren hat zu hören, der versteht es auch.

Wenn Jesus das heute bei uns machen würde, dann würde er sehr schnell in den Geruch kommen, gar nicht christlich und nett zu sein. Muss man denn nicht als Christ immer freundlich und sanft sein, die Wahrheit liebevoll verpacken, niemandem vor den Kopf stoßen? Aber Jesus war kein typischer Christ, so wie wir uns einbilden, dass er sein müsste. Jesus hat Leute so deutlich konfrontiert, dass sie es nicht ausgehalten haben und gegangen sind. Und er hat den Preis dafür zahlen müssen. Sie haben sich gerächt. Sie haben nicht aufgegeben, bis er endlich tot war.

Woher hatte Jesus den Mut dazu? Wie konnte er die Leute so verprellen? Wusste er denn nicht, wie gefährlich die waren? Ja, natürlich wusste er das. Er wusste was sie tun würden, und er hat es darauf angelegt. Er wusste, dass diese Konfrontation nicht zu vermeiden war. Er wusste, dass Gott diese Konfrontation wollte. Und dann wollte er wenigstens, dass alle wussten, worum es geht. Er wollte diese Konfrontation in aller Klarheit. Und er hat sie bekommen. Deswegen haben wir jetzt die Passionszeit und und denken an den Preis, den er dafür zahlen musste.

Es gibt eine Stelle in der Geschichte, an der man merkt, woher Jesus die Kraft für das alles nimmt. Das ist der Moment, als Jesus ihnen Psalm 118 zitiert: »der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen, und ist ein Wunder vor unseren Augen.« Wer da hinhört, der merkt, woher Jesus die Kraft bekommt, nicht einzuknicken, nicht zurückzuweichen, keinen Kompromiss einzugehen, sondern diese Zone der Wahrheit freizuhalten. Wenn wir um der Wahrheit willen unter Druck geraten, dann reagieren wir so, dass wir uns ein wenig zurücknehmen und hoffen, dass wir dann weniger angegriffen werden. Jesus dagegen konnte auch unter diesem ungeheuren Druck fest bleiben, weil er darauf vertraute, dass Gott an seiner Seite war und ihm am Ende recht geben würde. Und das gab ihm eine Freiheit, in der ihm auch immer die passenden Worte einfielen. Es ist ja meistens nicht so sehr mangelnde Kreativität, wenn uns im entscheidenden Moment kein zündendes Argument einfällt, sondern es ist die Einschüchterung, wegen der wir uns nicht trauen, das Klärende auch zu sagen.

Jesus war für die Eliten seines Volkes so etwas wie ein hässlicher, unpassender Baustein, den man für nichts gebrauchen konnte, und den man am besten möglichst schnell auf den Abfallhaufen der Geschichte werden musste. Er hatte aber aus den Psalmen gelernt, dass Gott das ganz anders sehen konnte. Und er war sich sicher dass Gott aus ihm den Eckstein machen würde, den entscheidenden Stein, der alles zusammenhält.

Nun ist es natürlich eine Sache, rumzulaufen und zu behaupten: »Gott ist an meiner Seite, und ich habe recht«. Das ist zwar sehr beeindruckend, aber es ist kein wirklich neues Argument. Wenn ich eine Sache für falsch haltet, dann wird sie nicht dadurch richtiger, dass jemand behauptet, das sei Gottes Wille. Das kann schließlich jeder sagen.

Aber so hat es Jesus ja auch gar nicht gemacht. Er hat nur für den, der es verstehen wollte, einen Hinweis darauf gegeben, was er selbst glaubte. Das ist etwas anderes. Wenn du selbst bei dir sicher überzeugt ist, dass etwas Gottes Wille ist, dann musst du es tun, auch wenn alle anderen sagen: »das ist verrückt«. Aber du musst dann auch bereit sein, den Preis dafür selbst zu bezahlen. Und dann wirst du sehen, ob du wirklich im Willen Gottes warst oder nicht. Zu viele Menschen meinen, dass andere den Preis dafür bezahlen sollten, was sie für Gottes Willen halten.

Jesus hat den Preis aus eigener Tasche bezahlt. Er war bereit, den Weg zu gehen, den er von Gott verstanden hatte, er war bereit, den Preis dafür ganz allein zu zahlen, aber als er dann auferstanden war und es sich überdeutlich herausstellte: ja, das war wirklich Gottes Wille, das war wirklich der Weg des Lebens, da hat er den Gewinn dieses Weges nicht für sich behalten, sondern ihn mit allen geteilt, die bei ihm sein wollten.

Dieser ganze Zusammenhang ist gemeint, wenn im neuen Testament von »Rechtfertigung« gesprochen wird. Wir haben vorhin in der Epistel gehört, dass wir durch den Glauben gerecht geworden sind und deshalb Frieden mit Gott haben. Jesus im Jerusalemer Tempel ist die beste Illustration dafür. Wichtige Leute erklären ihn für ungerecht, zu einem Feind Gottes und der Menschen, und auch ohne die Todesdrohung würden einem da normalerweise die Knie zittern. Wir können das schlecht aushalten, so unter Feuer zu stehen. Aber durch den Glauben weiß Jesus, dass er in Gottes Augen gerecht ist. Und mitten in der äußersten Auseinandersetzung mit seinen Gegnern hat Jesus Frieden mit Gott. Sie können ihn und seinen Vater im Himmel nicht auseinander bringen. Und ich kann mir vorstellen, während die bösen Blicke und die bösen Worte auf ihn einprasseln, hört Jesus immer noch, wie sein Vater zu ihm sagt: »ja, du bist immer noch auf dem Weg, den du gehen sollst, ich freue mich an dir, dir gilt meine Liebe.«

Wir werden zum Glück nicht so oft in solche angespannten Situationen kommen. Aber auch für weniger dramatische Momente ist es gut, wenn wir gelernt haben, auf diese Stimme Gottes zu hören: »ja, ich bin bei dir. Hab keine Angst. Dir gehört meine Liebe.« Sicherlich kann Gott uns nicht so 100%ig bestätigen, wie er das bei Jesus macht. Er rechtfertigt uns nicht deswegen, weil wir so sind wie Jesus, sondern weil wir zu Jesus gehören. Aber um Jesu willen gibt er uns Recht gegenüber allem, was uns angreift und bedroht.

Nicht so, als ob alles richtig ware, was wir machen. Aber so, dass er zu uns steht. So wie wir hoffentlich bei unseren Kindern stehen, wenn sie angegriffen werden: nicht, dass sie alles richtig machen. Nicht so, dass wir etwas rechtfertigen, was in Wirklichkeit Mist war. Aber so, dass wir an ihrer Seite stehen und ihnen deutlich machen, dass wir sie lieben, dass wir den Weg gemeinsam mit ihnen gehen und dass wir auf jeden Fall und immer an ihnen festhalten werden. Das gibt Kindern eine große Sicherheit fürs Leben – nicht nach dem Motto: »Papa wird’s schon zahlen«, sondern im Wissen, dass ich eine Basis habe, auf der ich lebe, und wo man auch die Stärke bekommt, um die Probleme und Konflikte des Lebens anzugehen.

Aber wenn wir unseren Kindern das mitgeben, dann tun wir das doch nur im Auftrag Gottes, und sie sollen dann lernen, dass diese Basis deshalb tragfähig ist, weil Gott sie gelegt hat. Das ist der Eckstein, den Gott gelegt hat, Jesus. In seiner souveränen Entscheidung hat Gott mitten in der Welt einen Grundstein gelegt, den Weg Jesu. Er hat entschieden, dass dieses Leben Jesu und sein Weg das einzige Fundament ist, auf dem nun noch tragfähig und verlässlich gebaut werden kann. Es war keine überraschende Entscheidung für jemanden, der Gott schon lange beobachtet hat. Darauf lief es schon von Anfang an hinaus. Aber jetzt ist es unübersehbar: der Schrecken der Priester von Jerusalem, der Mann, der die Kranken heilte und den die Dämonen fürchteten, der kein Blatt vor den Mund nahm, und den die einfachen Leute liebten, ohne ihn zu verstehen, ihn hat Gott bestätigt, auf sein Leben wird Gott von nun an exklusiv bauen, das ist die Art, die Gott unter uns sehen will, und wir sollten ihm entgegengehen und ihn begrüßen in jeder Kammer unseres Lebens. Sein Mut und seine Weisheit – ein bisschen davon wird dann auch bei uns wachsen.