Fülle mitten in der Wüste

Predigt am 4. Oktober 2020 (Erntedankfest) zu Markus 8,1-9

1 In jenen Tagen waren wieder einmal viele Menschen um Jesus versammelt. Da sie nichts zu essen hatten, rief er die Jünger zu sich und sagte: 2 Ich habe Mitleid mit diesen Menschen; sie sind schon drei Tage bei mir und haben nichts mehr zu essen. 3 Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke, werden sie unterwegs zusammenbrechen; denn einige von ihnen sind von weither gekommen.
4 Seine Jünger antworteten ihm: Woher soll man in dieser unbewohnten Gegend Brot bekommen, um sie alle satt zu machen? 5 Er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie antworteten: Sieben. 6 Da forderte er die Leute auf, sich auf den Boden zu setzen. Dann nahm er die sieben Brote, sprach das Dankgebet, brach die Brote und gab sie seinen Jüngern zum Verteilen; und die Jünger teilten sie an die Leute aus. 7 Sie hatten auch noch ein paar Fische bei sich. Jesus segnete sie und ließ auch sie austeilen.
8 Die Leute aßen und wurden satt. Dann sammelte man die übrig gebliebenen Brotstücke ein, sieben Körbe voll. 9 Es waren etwa viertausend Menschen beisammen. Danach schickte er sie nach Hause.

Erntedank
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Mitten in der Einöde, da, wo es eigentlich gar nichts gibt, lässt Jesus die Fülle des Segens sichtbar werden, den Gott in die Welt hineingelegt hat. Diese Fülle ist meistens verborgen, aber es gibt die seltenen Augenblicke, in denen Menschen darauf stoßen. Diese Momente sind kostbar, denn sie geben uns eine Ahnung davon, welche Möglichkeiten noch in unserer Welt schlummern. Jesus hat immer wieder für solche Augenblicke gesorgt.

Ein seltenes, kostbares Ereignis

Hier werden 4000 Menschen satt – beinahe aus dem Nichts! Wenn Menschen damals diese Geschichte hörten, dann erinnerten sie sich an die anderen Geschichten von der Befreiung Israels aus Ägypten, als das Volk auf der Flucht aus der Sklaverei von Gott in der Wüste wunderbar versorgt wurde. Es gab Wasser zu trinken und Manna zu essen. Es war eine ganz besondere Zeit: geflohen, aber noch nicht angekommen, alles war noch offen, nichts war sicher, nur die Güte Gottes war jeden Tag neu. Auf die haben sie vertraut, und sie wurden nicht enttäuscht.

Und auch die Menschen dort in der Einöde bei Jesus sind in einer Ausnahmesituation. Sie haben ihre Dörfer und Städtchen verlassen, ihre ganze gewohnte Umgebung, ihre Arbeit, aber auch die Sorgen: wie wird die Ernte werden, womit soll ich den Steuereinnehmer bezahlen, wenn er im Herbst kommt, werde ich meine Tochter endlich verheiraten können? Auch der Ärger mit den Nachbarn und die Sorge, ob es friedlich bleibt im Land, das ist jetzt alles ganz weit weg. Sie haben sich auf den Weg gemacht, um Jesus zu hören. Sie hoffen, dass sie bei ihm Worte hören, die nicht leer, hohl und kraftlos sind, sondern Worte, die sie und die Welt bewegen und erneuern.

Die Menschen waren in ihrem Alltag damals noch nicht den Wortlawinen ausgesetzt, die uns heute jeden Tag zuschütten mit Kommentaren, Werbebotschaften, Nachrichten, Weisheiten, Gute-Laune-Slogans und was noch alles. Aber sie konnten doch unterscheiden zwischen Allerweltsworten, die vielleicht sogar richtig waren, aber nichts bewegten, und starken, verändernden Worten, die die Wahrheit Gottes sichtbar werden ließen: Worte in Vollmacht nannten sie die. Und die hörten sie bei Jesus. Dafür gingen sie lange Strecken und kampierten in der Wildnis. An ihnen wird sichtbar, was Jesus mal in einer Diskussion mit dem Versucher gesagt hat: der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.

Momente der Freiheit

Und die Leute, die Jesus immer das Leben schwer machten, waren weit weg. Niemand versuchte, ihm eine Falle zu stellen. Niemand empörte sich: das darfst du nicht sagen, und woher hast du überhaupt das Recht dazu, und das passt nicht zu unseren Traditionen, und du führst die Menschen in die Irre! Endlich konnte er im Zusammenhang reden, ohne -zig mal unterbrochen zu werden. Das ständige Meckern im Hintergrund war verstummt.

So entstand eine echte Ausnahmesituation, wie wir sie in unserem normalen Alltag selten erleben: die gewohnten Regeln gelten nicht mehr, Selbstverständlichkeiten sind überhaupt nicht mehr selbstverständlich, alles ist offen, alles scheint möglich, die Welt sieht neu aus. Sie atmen die Luft der Freiheit.

Die Welt ohne Druck

Und dann werden die Mauern, die den Himmel und die Erde voneinander trennen, ganz dünn, und Menschen spüren, dass die Welt ein Geheimnis hat, dass in ihr viel mehr verborgen ist, als das, was man messen, zählen und bezahlen kann. Unsere alltäglichen Regeln und Gewohnheiten sind eine Barriere, mit der wir Gott und das Unerwartete aus der Welt aussperren. Die Alltagsregeln geben uns Sicherheit, sie klammern das Unkontrollierbare aus, aber dann wird auch Gott fern und fremd. Auch in den Urlaub nehmen wir uns selbst und unsere Normalität mit und wundern uns, warum hinterher die Tretmühle gleich wieder weitergeht.

Bei Jesus nahm die Macht dieser Alltagsselbstverständlichkeiten ab. Die Menschen atmeten frei auf. »So kann das Leben also auch sein« dachten sie. »Wieso merken wir erst jetzt wirklich, wie bedrückend unser Leben zu Hause ist? Wieso haben wir uns nur an dieses enge Alltagsgehäuse gewöhnt?« Sie erlebten, wie ihre Sorgen zusammenschmolzen, wie sie bessere Menschen wurden. Alles schien möglich.

Und da sagte Jesus zu seinen Jüngern: was habt ihr dabei? Sieben Brote? Das ist doch schon mal ein guter Anfang! Er nahm die Brote, sprach das Dankgebet, und der unbegrenzte Segensstrom Gottes kam zu den Broten. Es reichte für alle.

Segen kann fließen

Bibelausleger haben lange darüber nachgedacht, wie das wohl funktioniert hat. Ist wirklich aus den sieben Broten einfach viel mehr geworden? Oder haben sich die Menschen nur inspirieren lassen, zu teilen, was sie noch dabei hatten? Schwer zu sagen. Wir sind alle eingesperrt in unsere Alltagsselbstverständlichkeiten und haben wenig Erfahrung mit den Ausnahmesituationen in der Wüste. Es kann ganz viel passieren, wenn es einen Riss in den Mauern gibt, mit denen wir unseren Alltag eingemauert haben. Wer weiß denn, ob es überhaupt Grenzen für Gottes Segensstrom gibt?

Normalerweise zapfen wir diesen Segensstrom durch unsere Arbeit an, wir lenken ihn auf die Felder, in die Gärten und in die Ställe. Und natürlich auch in die Werkstätten und Fabriken und Büros, in die Schulen, Gesundheitszentren und unsere Häuser und Wohnungen. Überall verbinden wir uns und unsere Arbeit mit dem Segen, der in der Welt ist. Segen ist ein Geschenk, er gehört niemandem, aber er ist für alle da, und er wird mehr, wenn er geteilt wird.

Aber dann passiert es: Menschen wollen die Kontrolle übernehmen. Und die einen reißen sich immer mehr unter den Nagel, gieren nach noch mehr, konzentrieren Reichtum, Macht und Kapital, und die anderen kommen gerade mal so über die Runden oder gehen leer aus. Dann leidet die Erde. Dann wird der Segensstrom zu einem dünnen Rinnsal. Dann wird das Leben vergiftet und Menschen werden bitter. Dann gibt es Krieg und Verwüstung.

Dank und Freundlichkeit

Jesus nimmt uns mit auf einen anderen Weg. Wenn Menschen dankbar sind und teilen, wenn wir unser Leben und alles Gute als Geschenk entgegennehmen, wenn wir dafür sorgen, dass in der großen Gemeinschaft der Menschheit alle gut leben können, dann kann auch die Erde aufatmen, gemeinsam mit allen Geschöpfen.

In der Schöpfung soll Freundschaft herrschen. Dazu ist sie geschaffen, und wir entdecken ja heute immer mehr, wie alles miteinander verwoben ist. Was an einer Stelle in der Welt geschieht, das hat weit entfernte Wirkungen, die wir selten wirklich durchschauen und noch seltener vorhersagen können. Aber Dank und Freude und Freundlichkeit sind immer richtig, dazu muss man gar nicht alles durchschauen und berechnen können. Dank und Freude und Freundlichkeit heilen immer wieder die Schäden, die durch menschliche Gier und menschliche Angst angerichtet werden. Dank und Freude und Freundlichkeit heilen auch in uns selbst ganz viel und bewahren uns vor Bitterkeit und Arroganz, vor Wichtigtuerei und Neid.

Unermessbare Fülle

Die Menschen, die damals alles stehen und liegen ließen und zu Jesus in die Einöde kamen, die haben sich nach der ganzen Fülle des göttlichen Lebens gesehnt. Vielleicht hätten sie es nicht so formulieren können. Aber dafür sind sie meilenweit gegangen. Aus ihrer Bibel, dem Alten Testament, wussten sie: aller Segen, den wir in unserer täglichen Arbeit anzapfen, ist nur ein kleiner Teil von der ganzen Fülle des göttlichen Lebens. Und auch der wird noch bedroht durch Krieg, Gewalt und Herrschaft. Aber wenn der ganze Reichtum Gottes enthüllt wird, dann wird die Welt neu, dann blüht die Erde auf, wie wir es uns jetzt noch gar nicht vorstellen können.

Jesus hat immer wieder den Vorhang beiseite gezogen, der diese Fülle noch verbirgt, und die Menschen bekamen einen Vorgeschmack von dem großen Leben, zu dem wir alle berufen sind. Dafür sind wir geschaffen, dafür ist die Welt geschaffen, und Gott wird nicht ruhen, bis seine Schöpfung endlich zu ihrer Bestimmung findet.

Aber er will das mit uns zusammen erreichen. Deshalb zeigt er uns in den Momenten der Fülle, wohin es gehen soll. Und deshalb schafft Jesus Gemeinschaften, wo man in Offenheit und Freiheit lebt, wo Menschen in Solidarität füreinander da sind und sich helfen statt gegeneinander zu stehen oder sich allein zu lassen. Gemeinschaften, die nicht von Angst, Sorge und Ärger getrieben sind, sondern beflügelt sind von Mut, Liebe und Hoffnung.

Freiräume Gottes

An diese Freiräume, in denen die Fülle Gottes präsent war, erinnern wir uns noch nach 2000 Jahren. Sie zeigen uns, was noch alles verborgen ist hinter dem alltäglichen Segen in unserer Arbeit. Sie halten die Erwartung wach. Denn was einmal geschehen ist, das kann und wird wieder geschehen. Und diesmal sollen wir dabei sein. Mit Dankbarkeit für den alltäglichen Segen halten wir uns bereit, um wieder meilenweit zu gehen, wenn solche großen Freiräume aufbrechen, die uns die ganze Fülle zeigen.

Vielleicht sind wir es ja auch, mit denen und unter denen Jesus so einen Freiraum schafft. Ob klein oder groß – es ist einmal geschehen, und es wird wieder geschehen.