Heilen wie einen Menschen – nicht reparieren wie eine Maschine

Predigt am 7. September 2003 zu Markus 7,31-37

31 Jesus verließ wieder das Gebiet von Tyrus und zog über Sidon zum See von Galiläa, mitten ins Gebiet der Zehn Städte.
32 Dort brachten sie einen Taubstummen zu ihm mit der Bitte, ihm die Hände aufzulegen. 33 Jesus führte ihn ein Stück von der Menge fort und legte seine Finger in die Ohren des Kranken; dann berührte er dessen Zunge mit Speichel. 34 Er blickte zum Himmel empor, stöhnte und sagte zu dem Mann: »Effata!« Das heißt: »Öffne dich!« 35 Im selben Augenblick konnte der Mann hören; auch seine Zunge löste sich, und er konnte richtig sprechen.
36 Jesus verbot den Anwesenden, es irgend jemand weiterzusagen; aber je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. 37 Die Leute waren ganz außer sich und sagten: »Wie gut ist alles, was er gemacht hat: Den Gehörlosen gibt er das Gehör und den Stummen die Sprache!«

Diese Geschichte endet nicht zufällig mit Worten, die an das Ende der Schöpfungsgeschichte erinnern. So wie Gott am Ende der Schöpfung sein Werk anschaut und das Ergebnis ist: es war sehr gut! so wird hier Jesus von der Menschenmenge bestätigt: er hat alles gut gemacht!

Das bedeutet: Jesus macht etwas vergleichbar Grundlegendes wie Gott bei der Schöpfung der Welt. Gott hat eine Welt erschaffen, die dann gründlich beschädigt worden ist durch menschliche Abwendung von Gott, sie ist zerbrochen und beschmutzt. Die Folgen hat Jesus direkt vor Augen – z.B. dieser Taubstumme: er hat keine Worte. Alle Menschen reden, sie erzählen sich, was sie erleben, Menschen denken in Worten – und dieser Mann kann das nicht. Das ist viel schlimmer als blind zu sein.

Und jetzt tut Jesus etwas, was vergleichbar ist mit der Erschaffung der Welt: er bringt die Schöpfung wieder in Ordnung, ja, man kann sagen: er erschafft sie neu. Das deutet dieser Kommentar der Leute am Ende an: er hat alles gut gemacht, es ist wie eine zweite Schöpfung. Jesus schafft eine neue Welt, nicht unabhängig von der ersten, denn der Taubstumme ist ja dieselbe Person wie vorher, aber trotzdem neu, es ist eine Neuschöpfung.

Überall im Evangelium stoßen wir auf dieses Verhältnis von alter und neuer Schöpfung: da entsteht etwas Neues und es ist nicht ohne Zusammenhang mit dem Alten, aber es ist so grundlegend anders und neu, dass von einer neuen Schöpfung gesprochen wird. Und diese Neuschöpfung beginnt in der Gegenwart Jesu, überall gibt es solche Zeichen, dass er die Mächte des Todes vertreibt und die zerbrochene Welt heilt.

Das ist nicht symbolisch gemeint oder so, sondern da sind Kranke wirklich gesund geworden, und das passiert bis heute. Ich habe es selbst erlebt, wie eine alte Dame dastand mit ihrer Hörbrille in der Hand und sagte: die brauche ich nicht mehr, Gott hat mich gesund gemacht, ich kann wieder hören, von einem Moment auf den anderen.

Warum es aber passiert, dass der eine geheilt wird, wenn für ihn gebetet wird und der andere nicht, das gehört zu den Dingen, die ich nicht verstehe. Ich habe keine Theorie darüber, es ist einfach so, und ich glaube, das gehört zu den Dingen, zu denen wir uns auch keine Theorie machen sollen. Wir sollen unsere Aufgabe erfüllen und für kranke Menschen beten, und was Gott dann damit tut, das ist seine Sache.

Was zeigt sich an so einer Heilung? Die göttliche Schöpfungsmacht ist mit Jesus zurückgekommen und hat begonnen, die Wunden zu heilen, die der ersten Schöpfung geschlagen worden sind. Man merkt es bisher nur an einzelnen Stellen; die Welt im Ganzen ist weiterhin grundlegend krank, sie ist überall unter der Kontrolle zerstörerischer Mächte, aber wenn Jesus die Kranken heilt, dann ist ein Widerstandszeichen aufgerichtet, ein Zeichen dafür, dass Gott die Welt nicht aufgegeben hat, sondern er hat angefangen, sie zurückzuerobern. Jesus richtet ein Zeichen dafür auf, dass endlich und zuletzt alle Mächte des Todes und der Zerstörung besiegt werden.

Dieser Kraft, die sich an dem Taubstummen bewährt, der ist nichts unmöglich. Sie wird Jesus etwas später aus dem Grab auferstehen lassen, sie wird Menschen in der Nachfolge Jesu sein Werk fortsetzen lassen, auch seine Heilungen, und diese Kraft wird schließlich und zuletzt die Welt so erneuern, dass man die alte Schöpfung vergessen wird, die litt und stöhnte unter der Herrschaft der Todesmächte.

Das alles steckt drin in diesen wenigen Versen. Und man kann hier sogar verstehen, warum es so lange dauert mit der Erneuerung der Welt, warum wir nun schon so lange warten und uns fragen, wann es denn endlich so weit sein wird.

Denn Jesus verhält sich ja merkwürdig. Da kommen Leute und bringen den Mann, der nicht hören und infolgedessen auch nicht sprechen kann. Sie bringen ihn zu Jesus und sagen: leg ihm doch die Hand auf, damit er gesund wird. Und Jesus tut es nicht. Allen anderen legt er die Hand auf, das ist seine normale Art zu heilen, aber hier tut er es nicht. Warum?

Weil er mit diesem Mann anders umgehen muss. Der ist ja nicht nur an einem Sinnesorgan behindert, der ist in seinem ganzen Menschsein geblockt und beschädigt. Das gehört ja gerade zu uns Menschen dazu, dass wir Sprache haben, dass wir das, was uns passiert, in Worte fassen können und dann auch über das nachdenken können, was uns zustößt. Wir stehen dem, was wir erleben, nicht hilflos gegenüber. Es ist enorm wichtig, dass wir dafür Begriffe haben, das nimmt uns die Ohnmacht, das ist der erste Schritt dazu, kein passives Opfer zu sein.

Aber der Mann, der da zu Jesus gebracht wird, der versteht überhaupt nicht, was da mit ihm geschieht. Der ist von einigen anderen da zu Jesus hingezerrt worden, heraus aus seiner gewohnten Umgebung, wo er sich orientieren kann, in eine Situation, die ihn völlig überfordern muss. Und deswegen ist das erste, was Jesus mit ihm macht: er nimmt ihn weg von den ganzen Leuten, er will mit ihm allein sein.

Ich habe neulich jemanden besucht, die war schon ziemlich alt und redete nicht. Sie guckte freundlich und freute sich, wenn ich ihr etwas sagte, aber sie redete nicht. Und ich dachte: vielleicht kommt das ja noch, vielleicht muss sie sich erst noch an den fremden Menschen gewöhnen, der auf einmal hereingeplatzt ist, vielleicht ist sie ja auch schwerhörig und versteht gar nicht, was ich sage, vielleicht gibt es ja andere kleine Gesten und Signale, mit denen ich mit ihr kommunizieren kann.

Aber bevor ich das alles überlegen und ausprobieren konnte, sprach mich jemand anders an, der offensichtlich auch sein Problem mit dieser stummen Frau hatte, und erzählte mir das alles, und wollte meine Meinung hören, denn es ist klar, das verunsichert jeden, wenn er zwar ein freundliches Lächeln bekommt, aber keine Antwort. Und ich konzentrierte mich auf diesen neuen Gesprächspartner, und die Folge war, dass der winzige Kommunikationsfaden abriss, den ich mit der stummen Frau hatte.

Damit das nicht passiert, nimmt Jesus den Mann, der zu ihm gebracht wird, sofort beiseite, damit er mit ihm allein ist. Und dann lässt er sich einiges einfallen, damit der Mann versteht, was mit ihm passiert. Er will ihn nicht reparieren wie einen kaputten Motor, sondern er will ihn und seine Situation in Beziehung zu Gott bringen, das ist Jesu Heilungsmethode. Die Welt hat den Kommunikationskanal zu Gott abgeschaltet, und Jesus stellt die Verbindung neu her.

Also tut er ihm die Finger in die Ohren und berührt seine Zunge, damit auch der gehörlose Mann versteht: jetzt geht es um Hören und sprechen! Und dann schaut Jesus zum Himmel: er zeigt ihm, dass es jetzt um Gott geht. Danach kommt ein Seufzer, ein Zeichen des Mitgefühls und der Trauer: Gott ist traurig über dein Schicksal, es tut ihm weh. Jesus hält ihm eine Kurzpredigt für Gehörlose, er übersetzt seine Botschaft in eine einfache Gebärdensprache.

Verstehen Sie, das ist eine ganz entscheidende Sache, dass Jesus energisch dafür sorgt, dass der Mann mit seinen Möglichkeiten wenigstens ungefähr verstehen kann, was mit ihm passiert. Genau so bekommt er seine Würde zurück. Wir alle wissen, wie schlimm das ist, wenn man nicht weiß, was da mit einem gemacht wird. Deswegen wünschen wir uns z.B. Ärzte, die ihr Wissen über unsere Krankheiten mit uns teilen, und nichts ist so schlimm, als im Krankenhaus zu liegen und nicht zu wissen, was die mit einem vorhaben und was als nächstes drankommt. Das kann Patienten dermaßen fertigmachen, dass sie sich neue Krankheiten einfangen, oder jedenfalls, dass sie hinterher sagen: nie wieder in Krankenhaus!

Jesus achtet die Würde dieses gehörlosen Mannes, und als er dafür gesorgt hat, dass der jedenfalls annähernd verstanden hat, worum es geht, da spricht er das Kommandowort: Hephata! – tu dich auf!, und der Mann bekommt Zugang zur Welt des Hörens und Sprechens.

Verstehen Sie, genau so heilt Gott seine ganze Welt nicht sofort mit einem einzigen Befahl, sondern er möchte, dass die Menschen verstehen, worum es geht. Deswegen diese lange Zeit, die inzwischen vergangen ist seit Leben, Tod und Auferstehung Jesu. Eine Zeit, in der die Jünger Jesu die Welt auf die endgültige Verwandlung vorbereiten sollen. In dieser Zeit soll es überall diese Zeichen des Reiches Gottes geben, und es soll erklärt werden, damit wir verstehen, was sich anbahnt, damit wir uns sozusagen an die neue Welt schon gewöhnen können. Gott will auch die Welt nicht reparieren wie eine große Maschine, sondern wir sollen dabeisein und verstehen, was da passiert. Deswegen muss das Evangelium immer wieder übersetzt werden, nicht nur in fremde Sprachen, sondern auch in die Lebenswelt und den Horizont von Menschen in den verschiedensten Lebenslagen. Wir bleiben dem Evangelium treu, wenn wir es übersetzen in die Sprache und den Denkhorizont anderer. Und wenn daraus eine Gebärdensprache wird. Deswegen heißt es, dass das Ende erst kommt, wenn das Evangelium zu allen Völkern gelangt ist: alle sollen verstehen, was passiert, und sie sollen die Chance haben, dabeizusein und es aktiv zu verstehen.

Und das ist begeisternd, wenn du da stehst und merkst: Hier ist Gott an der Arbeit! Wenn bei uns irgendwo ein Bagger kommt und eine Grube aushebt, dann kommen die Kinder angelaufen und wollen zugucken und dabei sein, am liebsten sogar mithelfen. Wenn Gott kommt und bei uns arbeitet, da passiert ja noch viel mehr, und die Leute sind froh, dass sie es miterleben, sie kommen und wollen dabei sein, und natürlich wollen sie es auch gleich weitererzählen, aber Jesus sagt: nein, erzählt es nicht weiter! Kein Wort davon weitererzählen!

Offensichtlich ist es noch nicht so weit. Wenn wir auf den Zusammenhang im Markusevangelium achten, dann merken wir: die Jünger haben noch gar nicht verstanden, wer Jesus wirklich ist, der Sohn Gottes, der Christus, Gottes endgültiger Beauftragter. Sie freuen sich an Jesu Erfolgen, sie finden es toll, dass sie als seine engsten Mitarbeiter dabei sein können, aber sie wissen noch nicht, dass er leiden und sterben wird, und dass sich gerade darin Gottes Kraft bewähren wird. Sie wissen noch nicht, dass er auferstehen und den Tod besiegen wird. Das alles fehlt noch, und deswegen bremst Jesus: noch nicht weitererzählen, die Geschichte ist noch nicht vollständig, wartet ab, wie es weitergeht! Es gibt eine Zeit, wo man laut reden muss, und es gibt eine Zeit des Abwartens, bis es soweit ist.

Aber Jesus muss damit leben, dass die Leute natürlich den Mund nicht halten. Soviel haben sie tatsächlich verstanden: dass hier eine mächtige Erschütterung durch die Welt geht. Gott ist präsent und lässt die Welt nicht so, wie sie ist. Aber wie tief diese Erschütterung tatsächlich ist, das hatten sie noch nicht wirklich verstanden, und auch wir sind erst wieder dabei, es zu lernen.