Die neue Gemeinschaft Jesu

Predigt am 21. August 2005 mit Markus 3,31-35

31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. 32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Diese Geschichte steht ja ziemlich früh im Markusevangelium, in Kapitel 3, also noch ziemlich am Anfang. Da probieren sie alle noch, ob man Jesus mit den üblichen Methoden von seinem Weg abbringen kann. Die Schriftgelehrten probieren es mit der Standardverleumdung »Er hat einen bösen Geist«, und seine Familie versucht, ihm die Flausen auszutreiben, damit er wieder nach Hause kommt und brav funktioniert, wie sie das von ihrem ältesten Sohn und ältestem Bruder erwarten.

Und sie versuchen das mit der Methode, die da einfach am nächsten liegt: ein Gespräch im Familienkreis, wo man ihm als ganze Familie ins Gewissen reden kann. »Und auch wenn er jetzt berühmt geworden ist« wird sich Maria gesagt haben, »es bleibt doch mein kleiner Jesus, der jeden Tag seine warme Mahlzeit braucht. So kann das nicht weitergehen. Außerdem soll er noch das Wohnzimmer tapezieren, er kann doch nicht einfach so tun, als ob ihn das nichts mehr anginge. Was soll ich denn machen ohne ihn! Er schreibt nicht, er ruft nicht an, immer nur diese fremden Leute, aber um seine Familie kümmert er sich nicht.«

Was macht Jesus aber angesichts der drohenden familiären Zuspitzung? Gar nichts. Er kommt einfach nicht raus, er gibt ihnen gar keine Gelegenheit, ihm ins Gewissen zu reden.. Man muss da gut auf die Worte achten, das ist alles wunderbar beschrieben: sie lassen ihm nur ausrichten, sie seien draußen. Dass sie mit ihm sprechen wollen, sagen sie nicht. Das ist oft so in Familien, dass man nicht offen sagt, was man will, sondern es nur andeutet, und dann weiß der andere schon, was von ihm erwartet wird. Und auch die Leute wissen natürlich genau, was gemeint ist. »Deine Mutter und deine Brüder fragen nach dir«. Völlig klar, dass er jetzt aufstehen muss und sagen: »für heute ist Schluss« und nach draußen geht und seiner Familie zur Verfügung steht.

Wir müssen daran denken, dass Jesu in einer Kultur lebte, in der die Familie viel wichtiger war als bei uns heute. Sie war die zentrale Instanz, zu der jemand gehörte; man war vor allem Repräsentant seiner Familie; man konnte seinen Stammbaum bis in die soundsovielte Generation herunterrasseln; die Familie war Arbeitsplatz, Sozialversicherung und einziger Rückhalt, wenn es Probleme gab. Die Familie war die Welt, in der man lebte, und jeder hatte die Familienehre hochzuhalten. Wenn einer von seiner Familie ausgestoßen wurde, dann konnte er kaum noch überleben. Dass einer wie Jesus da freiwillig ausbricht, das war eigentlich nicht vorgesehen und brachte das ganze Familiensystem durcheinander, erst recht, wenn es wie bei Jesus auch noch der älteste Sohn war.

Und – wir haben es vorhin in der Lesung gehört (Mk. 3,21) -, die Familie kann sich das nicht anders erklären, als dass Jesus einen Dachschaden hat. Wenn die mütterliche und geschwisterliche Seelenmassage nicht gewirkt hätte, dann hätten sie sogar versucht, ihn mit Gewalt nach Hause zu holen. Jesus scheint eine ganze Menge Geschwister gehabt zu haben, mit vereinten Kräften hätten sie das wohl geschafft.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jesu Zuhörer da im Haus genau wussten, worum es ging. Die lebten ja alle in dieser Familienkultur. Die haben zwar jetzt bei Jesus ganz andere Erfahrungen gemacht, da zeichnet sich eine neue Gemeinschaft ab, die nicht auf Blutsbande gegründet ist, sondern auf das gelebte Evangelium. Aber das hat alles erst begonnen, und in den Leuten stehen das Neue und das Alte einfach nebeneinander, und der Widerspruch ist ihnen noch gar nicht richtig klar.

Wenn in dieser Situation Jesus dem Druck seiner Familie auch nicht einen Zentimeter nachgibt, sondern bleibt, wo er ist, dann macht er seinen Leuten klar: es ist ernst. Es geht um Lebensentscheidungen. Wenn ich von radikal neuem Leben spreche, dann meine ich das auch so. Das sind keine Sonntagsreden, sondern ich tue das.

Wissen Sie, die Menschen glauben doch erstmal immer, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. Na klar, die jungen Leute laufen schon mal mit grünen Haaren rum, oder sie trinken zuviel oder sie erzählen, dass sie alles anders machen wollen als ihre Eltern. Klar, das kennen wir, das haben wir früher auch alle mal gemacht. Kein Grund zur Sorge. Aber wenn einer nicht zu Omas Geburtstag erscheint, und sei es mit grünen Haaren, wo Oma doch immer die ganze Familie um sich haben will, dann wird es ernst. Dann stimmt was nicht.

Übrigens redet Jesu hier über Mütter und Väter und Geschwister, nicht über Ehepartner. Die Verbindung zwischen Ehepartnern ist etwas anderes, da geht es nicht um die Prägung durch die Herkunftsfamilie – im Gegenteil, die wird da sogar aufgebrochen, weil man in der Ehe mit der ganz anderen Familientradition des Partners in Kontakt kommt. Den Ehepartner hinter sich zu lassen – dazu hat Jesus nie aufgefordert.

Jesus gibt hier ein Signal, dass es ihm ernst ist, dass es nicht um ein religiöses Ornament am Leben geht, sondern hier ändert sich das Fundament. Hier wird im Kleinen die ganze Ordnung der Gesellschaft erschüttert. Die Revolution des Reiches Gottes hat begonnen, und das zeigt sich hier vielleicht noch mehr als in der Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten.

Es sind ja die Familienkonstellationen und Familienneurosen, die uns zutiefst prägen, hier werden Bindungen aufgebaut, die ganz tief sitzen, selbst wenn sie negativ sind, und mancher schafft es nie, sich davon zu lösen und das hinter sich zu lassen.

Man kann das vielleicht am besten am Weihnachtsfest ablesen, das bei uns ja ganz zentral das Fest der Familie ist. Wo man Weihnachten zubringt, das symbolisiert, wo man hingehört, und deswegen muss man in manchen Familien zu Weihnachten genaue Terminpläne aufstellen, damit sich nur keiner zurückgesetzt fühlt. Um nachvollziehen zu können, was Jesus macht, muss man sich vielleicht vorstellen wie es wäre, wenn er heute sagen würde: nein, Heiligabend feiere ich nicht mit euch, sondern mit meinen Jüngern. Das würden sich viele Christen auch heute nicht trauen. Jesus setzt ein Zeichen, dass es ihm ernst ist, und dieses Zeichen wird verstanden. Die Menschen verstehen oft erst dann, wenn es einen Konflikt gibt; vorher hören sie sich die Dinge geduldig an und überhören, was nicht in ihr Bild passt.

Es gibt Grund zur Annahme, dass Jesus in einer guten Familie aufgewachsen ist, in der die besten Traditionen Israels lebendig waren. Und trotzdem hat das Reich Gottes eine ganz andere Logik, es gelten andere Regeln, und die Familie Jesu hat das anscheinend zu seinen Lebzeiten nicht wirklich akzeptiert. Erst nach seiner Kreuzigung und nach seiner Auferstehung haben seine Angehörigen zum Glauben an ihn gefunden, und sie haben dann in der ersten Gemeinde auch eine Rolle gespielt. Aber sie mussten erst durch diesen Bruch hindurch gehen, sie mussten Jesus als Sohn und Bruder verlieren, bevor sie ihn als Bruder im Heiligen Geist neu gewinnen konnten. Und sie hätten da wahrscheinlich nicht hingefunden, wenn Jesus nicht gleich zu Anfang schon diesen Schnitt gemacht hätte, der für sie sehr schmerzlich war.

Jesus macht in seiner Antwort aber nicht nur die Distanz zu seiner Herkunftsfamilie deutlich. Vor allem verweist er auf das Positive, das Neue, was bei ihm an die Stelle seiner Familie getreten ist: die Gemeinschaft derer, die den Willen Gottes tun. Kurz vorher hat er seine 12 Jünger berufen, und sie bilden jetzt so eine Art Wohngemeinschaft, und die scheint große Attraktivität zu haben. Die Menschen rennen ihnen die Bude ein. Sie haben noch nicht mal Zeit zum Essen, so viele sind es. Menschen sehnen sich danach, Gott so authentisch zu begegnen. Es ist eine wunderbare Erfahrung: dabeizusein, wenn Menschen heil werden. Zu einer Gemeinschaft zu gehören, die in der Kraft Gottes Befreiung zu den Menschen bringt. Das schafft eine Verbundenheit, die auf ganz anderen Grundlagen beruht als in einer Familie.

Das ist die Urform der christlichen Gemeinde: nicht die eine Versammlung von Karteikarten in einem Kasten, auch nicht die Reihen der Gottesdienstbesucher, sondern die Gemeinschaft Jesu, die miteinander durchs Leben geht und jeden Tag neu staunt über die Kraft Gottes, mit der sie Menschen in die Freiheit rufen kann. Und diese Gemeinschaft ist nicht abgegrenzt, sondern offen für alle, die dazugehören wollen. Jesus schaut bei seiner Antwort an die Familie eben nicht nur auf seine Jünger, sondern auf alle, die da im Haus dicht gedrängt um ihn herumsitzen, auf Fensterbänken und Treppenstufen, auf Kisten und auf der bloßen Erde. Die sind jetzt seine Familie.

»Na, wenn du dich da nur nicht täuschst« würden da vielleicht besorgt Eltern sagen, und wer das Evangelium weiterliest, der kommt natürlich auch an die Stellen, wo es Konflikte und Spaltungen gibt, wo auch welche enttäuscht nach Hause gehen. Es ist klar, diese vielen Menschen bringen ja auch alle die Prägungen durch ihre Herkunftsfamilien mit, ihr Misstrauen, ihren Ehrgeiz, ihre Macken. Und die melden sich natürlich wieder, und wenn sie nicht ausgeräumt und beseitigt werden, dann können sie schlimme Folgen haben. Auch in dieser Gemeinschaft gibt es den Judas, der zum Feind überlauft. Jesus weiß das.

Aber er sieht in dieser Gemeinschaft trotzdem seine Heimat. Trotz all dieser Minen, die noch im Untergrund lauern, hat Gott angefangen, hier seine neue Menschheit zu formen. Die meisten von denen, die hier versammelt sind, werden brechen mit den Prägungen ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunftsfamilien, sie werden spüren, das das nicht zusammenpasst mit all dem begeisternden Neuen, das sie bei Jesus erleben. Sie werden diesen Konflikt schmerzhaft erleiden, es wird durch Augenblicke der Konfrontation und des Erschreckens gehen, es werden Tränen fließen, aber die meisten werden am Ende festgehalten haben an ihrem neuen Leben und an Jesus. Oder soll man sagen: Jesus wird sie festhalten? Auf jeden Fall: Hier ist der Ort, wo Gott zu finden ist, und solange ein Mensch mit aufrichtigem Herzen diesen Ort sucht, gibt es große Hoffnung für ihn.

Und man kann noch mehr sagen: Jesus wünscht sich genau das: in dieser Gemeinschaft zu leben. Merken Sie, wie sehr er sich auf eine Stufe stellt mit denen, die er seine Mutter und seine Brüder und seine Schwestern nennt? Natürlich ist Jesus nicht ein ganz normales Mitglied dieser Gemeinschaft wie alle andern auch, aber er ist auch nicht der Superstar, den alle anhimmeln. Er ist tatsächlich ein Bruder, der die Gemeinschaft braucht, in der man gemeinsame Visionen hat, und wo er von seinen Brüdern und Schwestern auch Wärme und Gemeinschaft und Trost empfangen möchte. Besonders deutlich wird das im Garten Gethsemane, wo er die drei Jünger bittet: betet für mich, ich brauche eure Unterstützung. Dass sie dann versagt haben, steht auf einem anderen Blatt. Aber gewünscht hätte Jesus sich das.

An ihm sehen wir, wie sehr der große Gott, unser Schöpfer, sich die Gemeinschaft mit uns wünscht. Nicht so, dass er darauf angewiesen wäre. Aber er will diese Gemeinschaft unbedingt, sein Herz möchte unserem Herzen begegnen, und eines der besten Bilder dafür ist diesseits des Himmels dieses rappelvolle Haus, wo sie sitzen auf Fensterbänken und Treppenstufen, auf Kisten und auf der bloßen Erde, und es macht ihnen überhaupt nichts, wenn sie bloß dabeisein können. Da jubelt Gott. Was kann es Besseres geben?