Unter der Motorhaube (Das einfache Evangelium IV)

Predigt am 19. Februar 2006 mit Markus 3,1-6 und 8,34-35

3,1 Und er ging abermals in die Synagoge. Und es war dort ein Mensch, der hatte eine verdorrte Hand. 2 Und sie lauerten darauf, ob er auch am Sabbat ihn heilen würde, damit sie ihn verklagen könnten.
3 Und er sprach zu dem Menschen mit der verdorrten Hand: Tritt hervor! 4 Und er sprach zu ihnen: Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten? Sie aber schwiegen still. 5 Und er sah sie ringsum an mit Zorn und war betrübt über ihr verstocktes Herz und sprach zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! Und er streckte sie aus; und seine Hand wurde gesund.
6 Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbrächten.

Heute, im letzten Teil der Predigtreihe über das „Einfache Evangelium“ kommt ein Blick hinter die Kulissen, man könnte auch sagen: der Blick unter die Motorhaube. Wenn Sie auf die Themen dieser Reihe zurückschauen: Gott befreit, er überwindet trennende Unterschiede zwischen Menschen, und so entsteht eine neue Lebensqualität, dann war das bisher in Kurzfassung all das, was bei uns ankommt, was wir davon haben.

Für heute bleibt die Frage: wie ist das möglich, wie geht das, dass mitten in dieser verfahrenen und verqueren Welt auch solche Dinge passieren? Wie kann mitten in diesem Chaos, das Menschen hier Tag für Tag anrichten, so etwas Neues und Gutes entstehen? Deswegen kommt heute der Blick unter die Motorhaube.

Und Sie haben die Antwort in einem Satz schon auf der Themenübersicht gesehen: das alles wird möglich, weil Gottes Liebe keine Schmerzen scheut. In der traditionellen christlichen Sprache sagt man: es geht um die „Heilsbedeutung des Kreuzes Jesu“. Ich sage es lieber einfach: Gott ist bereit, Schmerzen auf sich zu nehmen, damit diese Welt wieder zurückkehren kann zu ihm, damit sie herausfindet aus der Zerstörung, die hier wütet.

Warum ist das so wichtig, dass Gottes Liebe keine Schmerzen scheut?

Wer mit wachen Augen durch die Welt geht, der weiß, dass Fehler und Fehlentscheidungen meistens nur wiedergutzumachen sind unter Aufbietung von Mühe und manchmal auch nur unter Schmerzen. Wenn ich den Topf mit Milch umschmeiße, muss ich aufwischen, manchmal macht es auch jemand anders, aber irgendwer muss die ärgerliche Arbeit tun. Wenn ich etwas falsch mache, muss ich mich entschuldigen und für den Schaden aufkommen. Wenn ich etwas Böses tue, werde ich bestraft und muss das ertragen. Wenn ich mich nicht bewege, werde ich schwach und muss erst mit Mühe und Schweiß trainieren, bis ich das wieder aufgeholt habe.

Ich glaube, das Prinzip ist klar: normalerweise ist es mit Mühe oder Schmerzen verbunden, eine Fehlentwicklung zu korrigieren oder auszugleichen. Das ist kein exaktes Rechenexempel, das gleicht sich nicht immer haargenau aus, aber etwas wieder in Ordnung zu bringen, hat immer seinen Preis. Und mit der Welt im Ganzen ist es genauso. Wenn man all die Schäden dieser Welt heilen will, dann kostet das einen Preis, und er kann nicht klein sein, weil die Zerstörung hier so groß ist.

Und nun zeigt uns der Blick unter die Motorhaube der Bibel: diesen Preis, die Fehlentwicklung dieser Welt zu korrigieren und zu heilen, diesen Preis zahlt Gott, er nimmt ihn auf sich, weil wir das nicht könnten. Gott scheut nicht die Mühe und die Gefahren, in die er sich damit bringt.

Man kann das deutlich sehen an der Geschichte, die wir vorhin als Lesung gehört haben (Markus 3,1-6): da kommt Jesus in die Synagoge und weiß, dass sie nur darauf lauern, ob er wohl am Sabbat heilen wird, und ob sie irgendetwas Böses finden, was sie über ihn erzählen können, ohne so richtig zu lügen. Und er geht sie öffentlich an: diese ganzen frommen Schwächlinge, die immer in Horden auftreten und sich in der Masse stark fühlen, wenn sie sich gemeinsam aufregen können über Leute, die die Regeln übertreten. Und Jesus sagt: ok, ihr wisst ja immer so genau, was erlaubt und verboten ist, dann frage ich euch mal: darf man am Sabbat Gutes tun? Darf man am Sabbat Böses tun? Darf man Leben retten? Darf man töten?

Das sind die wirklich wichtigen Fragen. Aber sie wissen keine Antwort darauf. Keiner kriegt den Mund auf. Sie können nicht selbständig über Gott nachdenken, sie können nur wiederkäuen, was sie irgendwo mal gelesen haben. Und dann sagt Jesus zu dem Mann: „streck deine Hand aus!“ Und als der es tut, schau an – sie ist gesund! Jesus hat nichts Verbotenes getan, auch an einem Sabbat darf man ja wohl noch die Hand ausstrecken. Alle wissen genau, dass es Jesus war, aber man kann ihm nichts nachweisen. Ich finde Jesus klasse. So möchte ich das auch können.

Aber jetzt kommt die Kehrseite. Für diesen Sieg wird er büßen müssen. Diese ganzen frommen Klugscheißer sind so beleidigt und verletzt, dass sie sich mit den Vertretern des gottlosen Königs Herodes an einen Tisch setzen, um zu überlegen, wie sie Jesus beseitigen können. Gut, es wird noch ein bisschen dauern, bis sie es dann in die Tat umsetzen, aber in dieser Situation haben sie zum ersten Mal deutlich gesagt: der muss weg.

Und Jesus hat das gewusst, dass es so kommen würde. Entsinnen Sie sich, was er zu ihnen gesagt hat? „Ist es erlaubt, am Sabbat ein Leben zu retten oder zu töten?“ Warum sagt er nicht einfach: „Ist es erlaubt, am Sabbat Leben zu retten?“ Warum nimmt er die Alternative des Tötens dazu? Weil er gewusst hat, dass sie gleich anschließend am heiligen Sabbat Mordpläne schmieden würden. Diese selbsternannten Religionspolizisten zählen genau ihre Schritte, um am Sabbat keinen Schritt zu viel zu tun, aber sie haben kein Problem damit, am Sabbat die Beseitigung eines Menschen zu planen.

Hier kann man wirklich unter die Motorhaube schauen. Jesus konnte den Menschen nur helfen, weil er bereit war, dadurch in Lebensgefahr zu kommen. Er wusste von Anfang an, dass man in dieser Welt für solche Dinge, wie er sie tut, bezahlen muss.

Jetzt könnte einer sagen: War das denn wirklich nötig? Hätte er nicht um des lieben Friedens willen einfach einen Tag warten können mit der Heilung? Hätte der Mann nicht noch einen Tag mit seinem kranken Arm weiterleben können? Nein. Es ging ja gar nicht um den Mann. Es ging um die andern alle, die dabei waren, und die endlich mal merken mussten, von was für Hanseln sie sich dauernd einschüchtern lassen. Jesus hat die öffentlich vorgeführt, damit alle sehen konnten, was für traurige Gestalten das sind. Wirklich traurig, und Jesus selbst schwankt zwischen Zorn und Trauer, als er sie da so jämmerlich stehen sieht – die geistlichen Führer Israels sind geistlich bankrott -, aber die Leute alle müssen das merken, die müssen diese erbärmliche Wirklichkeit sehen, damit sie endlich frei werden von diesen ganzen Schlechte-Gewissen-Machern. Gott will freie Menschen – deshalb kommt er, um alle Arten von Unterdrückung zu beseitigen, und er fängt mit der ideologischen Unterdrückung an.

Wer so etwas macht, der riskiert sein Leben. Der provoziert eine tödliche Reaktion. Jesus hat das von Anfang an gewusst. Aber Gottes Liebe scheut keine Schmerzen. Jesus war bereit, den Preis zu bezahlen. Gott sei Dank! Etwas später hat er seinen Jüngern die Logik dahinter erklärt, die Regeln, nach denen das Reich Gottes funktioniert (Markus 8,34-35), und damit tun wir einen noch tieferen Blick hinter die Kulissen des Reiches Gottes:

34b Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. 35 Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.

Die Bereitschaft Jesu, die Schmerzen dieser Welt auf sich zu nehmen, die kam aus seinem Wissen darum, dass hinter Tod und Schmerzen das Leben zu finden ist. Nur wer das weiß, der kann Schmerz und Traurigkeit und auch den Tod auf sich nehmen. Aber das ist für einen Menschen nie ein gesichertes Wissen, so wie wir wissen, dass 5 x 5 = 25 ist. Das ist etwas, worauf man vertrauen kann, aber es muss dann jedes Mal wieder neu durchgestanden und durchlitten und errungen werden. Jesus selbst ist ja nicht cool und unbekümmert in seinen Tod gegangen, sondern er hat Angst gehabt und hat sich durchringen müssen, davor nicht wegzulaufen. Und erst jenseits des Todes hat Gott eingegriffen und ihn aus dem Tod herausgerettet und damit endgültig Ja gesagt zu seinem ganzen Weg.

Jesus ist so gestorben, wie er gelebt hat: im Aufsehen zu Gott, nicht in Rebellion oder Resignation. Er war bereit, alles zu riskieren um der Liebe und der Gerechtigkeit willen. Er hat sein Leben geliebt, aber nicht um jeden Preis. Noch nicht einmal im Augenblick des Verrats und der Folter hat er sich an Groll und Zorn festgehalten. Er hat für seine Henker gebetet. Er hat Gott nicht mehr verstanden, aber er hat sich nicht von ihm getrennt.

Das war das Leben, das Gott endgültig in Kraft gesetzt hat. Dieses Leben ist nun in der Welt, und keiner kann es mehr töten. Dieses Leben breitet sich aus, befreit und verbindet Menschen und öffnet uns den Weg zu einer neuen Lebensqualität, in der Gottes Schöpfung endlich zu ihrem Ziel kommt. Aber das alles war nur möglich, weil Gottes Liebe nicht die Schmerzen scheut, nicht dem Druck ausweicht, der solch einem Leben in dieser Welt entgegensteht.

Und diese Art von Liebe wird nun, wie Paulus es sagt (Röm. 5,5), in unsere Herzen ausgegossen. D.h., wir sollen auch nach dieser Regel leben, nach diesem Muster, das Jesus vorgemacht hat. Wir sollen auch auf dem Weg gehen, den Jesus gebahnt hat. Das heißt nicht, dass jeder zum Märtyrer berufen ist, es heißt auch nicht, dass wir uns von jedem ausnutzen oder missbrauchen lassen müssen, es heißt nicht, dass wir es jedem erlauben müssen, uns unsere Zeit zu stehlen.

Jesus ist nach dem Zusammenstoß damals in der Synagoge auch erstmal auf Abstand gegangen, er hat sich in Sicherheit gebracht. Er hat selbst bestimmt, wann die Zeit zum Sterben für ihn gekommen war, aber dann ist er entschlossen darauf zugegangen. Jesus hat sich nicht als Wunderheiler vom Dienst missbrauchen lassen, aber er hat ohne Wenn und Aber neben uns gestanden, an unserer Seite. Für uns heißt das: man kann als Christ ein paar Versicherungen haben, man kann guten Gewissens auch mal „Nein“ sagen, aber was man nicht kann, das ist sich verkrümeln, jedes Risiko und jede Anstrengung vermeiden und dabei auf den Himmel hoffen, während hier manchmal die Hölle los ist.

Viele Menschen gehen aus Langeweile schwachsinnige Risiken ein, nur um zu spüren, dass sie am Leben sind und etwas passiert in ihrem Leben. Können wir denen nicht ein besseres Beispiel von Risikobereitschaft und auch von Leidensbereitschaft geben? Ihnen den Weg des Lebens vorangehen, der nun tatsächlich auch durch die dunklen Zonen der Welt und die dunklen Zonen unseres Herzens geht? Wir sollten zu den Leuten gehören, die sich auch in widrigen Umständen zurechtfinden, die nicht in Panik geraten, wenn es Probleme und Mühen gibt, weil wir wissen, dass Jesus schon längst da gewesen ist und uns den Weg zeigt. Auch hier müsste man wieder ausführlich darüber reden, was das alles bedeutet. Das kann ich heute nicht. Aber ich kann zweierlei, nämlich

  1. noch einmal kurz zusammenfassen: Gottes Liebe, die den Schmerz nicht scheut, ist durch Jesus in die Welt gekommen und wird sich nicht mehr vertreiben lassen. Diese Liebe macht all das Gute erst möglich, von dem ich in den letzten Wochen hier gesprochen habe. Und diese Liebe ist zu uns gekommen, damit auch wir aus ihr leben. Und
  2. erinnere ich wieder einmal an den Spruch, den eine New Yorker Feuerwehrbrigade nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 auf die Trümmer geschrieben hat: „Alle laufen weg – wir laufen hin“. Ich weiß nicht, ob das nun Christen waren, aber in diesem Satz ist sehr gut zusammengefasst, wie die leidensbereite Liebe Gottes gemeint ist, die auch unser Denken, Fühlen und Handeln prägen soll.