Geistliche Übungen: Wozu? Wann nicht?

Predigt am 14. Januar 2001 zu Markus 2,18-20

18 An einem Tag, an dem die Jünger des Täufers Johannes und die Pharisäer fasteten, kamen Leute zu Jesus und fragten ihn: »Wie kommt es, dass die Jünger des Täufers und die Jünger der Pharisäer regelmäßig fasten, aber deine Jünger nicht?« 19 Jesus antwortete: »Können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam unter ihnen ist? Unmöglich können sie das, solange er bei ihnen ist! 20 Die Zeit kommt früh genug, dass der Bräutigam ihnen entrissen wird; dann werden sie fasten, immer an jenem Tag.«

Von einer berühmten Heiligen des Mittelalters – ich glaube, es war Hildegard von Bingen – wird erzählt, dass sich jemand darüber verwunderte, dass sie mit großem Genuss eine gebratene Gans verspeiste. Er verstand gar nicht, wie eine fromme Frau sich so offensichtlich solch einem weltlichen Vergnügen hingeben konnte, wie das Verzehren eines leckeren Bratens es doch darstellt. Ob es ihr denn nicht besser anstünde, zu fasten und sich auf Gott zu konzentrieren? Aber die heilige Hildegard, die ganz tiefe Begegnungen mit Gott hatte und dafür in ihrem Leben sicher oft genug gefastet hat, antwortete kurz und bündig: »Wenn Fasten, dann Fasten. Wenn Gans, dann Gans.«

Man sieht, vor Leuten, die sich zu viele Gedanken über andere machen und dann auch schnell was zu meckern haben, ist niemand sicher. Jesus war es jedenfalls nicht. Da gibt er sich nun redlich Mühe, Kranke zu heilen, mitreißend zu predigen, Dämonen auszutreiben, Jünger zusammenzusuchen – aber nein, irgendein Haar in der Suppe finden die Zuschauer doch: ist ja alles gut und schön, was du machst, aber – wieso fastest du nicht?

Vielleicht tue ich den Leuten ja auch Unrecht und sie waren einfach nur verwundert, weil alle religiös profilierten Gruppen damals in ihrem Programm das Fasten hatten, nur Jesus nicht. Vielleicht war es auch eine Mischung aus Meckerern und ehrlich interessierten Leuten, wie es ja oft ist.

Und die Antwort Jesu ist gar nicht weit weg von dem, was Hildegard von Bingen ein Jahrtausend später antwortete: Alles zu seiner Zeit. Die Kunst ist, die richtige Sache im richtigen Moment zu tun, auch wenn das natürlich Gespür braucht.

Fasten war zu Jesu Zeit eine Übung, die zur Frömmigkeit dazugehörte. Wir können natürlich sagen, dass das nun schon längst überholt ist, aber wenn man dran denkt, wieviele Menschen wenigstens für eine Zeitlang mal probieren, Vegetarier zu sein, oder wieviele Zeitschriften wöchentlich die neue todsichere Diät in ihrem Themenplan haben, oder dass es, wie ich gestern las, in Peine eine Fastenlehrerin gibt – also, ich glaube, so sehr haben sich die Zeiten nicht geändert. Die Begründungen wechseln, aber Fasten, ganz oder teilweise, das gibt es heute auch nicht viel seltener als damals.

Was ist der Sinn hinter dem Fasten? Es geht immer darum, sich durch den Nahrungsentzug selbst zu schwächen und dadurch trotzdem stärker zu werden. Das klingt widersinnig, aber wenn z.B. im Augenblick einer sagt »ich esse kein Rindfleisch«, dann meint er damit: ich verzichte auf diese Zufuhr an Lebenskraft, aber damit schütze ich mich und meine Gesundheit vor möglichem Rinderwahnsinn und bleibe so gesünder. Oder jemand sagt: ich verzichte eine Zeitlang auf das Essen, nehme ab und werde dadurch gesünder oder attraktiver. Und wer aus religiösen Gründen fastet, der sagt damit: ich schwäche meinen Körper durch Nahrungsentzug und gewinne dadurch eine größere Nähe zu Gottes Kraft, weil der nämlich besonders in den Schwachen mächtig ist.

Funktioniert das? Ja. Übrigens hat auch Jesus am Anfang seines öffentlichen Wirkens 40 Tage gefastet. 40 Tage ist ungefähr die Zeit, die man ohne bleibende gesundheitliche Schäden auf Nahrungszufuhr verzichten kann, danach wird es langsam gefährlich. Und auch Paulus und die ersten Christen haben immer wieder gefastet und haben das als sinnvoll und als Stärkung erlebt. Weil nämlich unser voller Bauch nicht nur ungern studiert, sondern auch viele Probleme und auch viele Leere in uns überdecken kann. Die Leute, die nachts zum Kühlschrank schleichen und dann alles mögliche in sich hineinstopfen, die haben nicht selten das Gefühl, dass es in ihnen irgendwie leer ist und dass sie das mit Essen ausfüllen müssen. Und ich glaube, irgendwann hat das jeder auch schon mal weniger dramatisch erlebt: wenn man lauter Frust hat und keine richtige Freude, dann ist Essen ein Versuch, sich wenigstens so ein bisschen Freude und Erfüllung zu schaffen.

Wenn aber einer sagt: ich faste und verzichte damit für eine Zeit auf diese Stärkung, die das Essen mit sich bringt, dann wird er erleben, wie all das in ihm, was bisher das Essen überdeckt hat, auf einmal viel deutlicher zu spüren ist. Körper und Seele hängen so massiv zusammen! Wenn der Blutzuckerspiegel runtergeht, dann fühlt man sich hundsmiserabel und elend und sieht die Welt nur noch schwarz. Und weil man das dann eben nicht schnell mit einer Tafel Schokolade wegmampfen kann, deswegen muss man anderswo nach Hilfe suchen. Und dann bittet man Gott, einem zur Seite zu stehen, und er tut es, und man erlebt Gottes Beistand mitten in der Niedergeschlagenheit und manchmal mitten im klappernden Elend.

Was ist der Sinn davon? Wenn wir das erst einmal durch Fasten erleben, also durch eine selbst herbeigeführte Stresssituation, dann haben wir viel mehr Zutrauen dazu, dass Gott uns auch in anderen Drucksituationen beistehen wird, die wir nicht herbeigeführt und noch viel weniger uns gewünscht haben. Wir sind dann viel stärker mit Krisen und Druck vertraut, und wir haben weniger Angst davor, weil wir nämlich nicht nur wissen und glauben, dass Gott uns in der Not zur Seite steht, sondern weil wir es wirklich mit Haut und Haar erlebt haben. Je öfter wir den Beistand Gottes so spüren, um so weniger machen uns reale Angriffe und Krisen Angst. Und um so öfter erleben wir die deutliche Nähe Gottes und lernen immer besser, wie es in seiner Gegenwart ist.

Das ist der Sinn von Fasten, aber das Fasten selbst ist nicht das Ziel, sondern der Weg, und wer Weg und Ziel verwechselt, wer vielleicht sogar glaubt, dass der Weg schon das Ziel ist, der bringt alles durcheinander. Wie die Frager, die bei Jesus das Fasten einforderten. Denn die Jünger bei Jesus, die waren ja am Ziel, die lebten in der Gegenwart Jesu, also in der Gegenwart Gottes, was sollen die noch Fasten? Die erlebten jeden Tag, wie Gott nahe war und ihnen zur Seite stand, und geholfen hat und wie Jesus immer wusste, was zu tun war. Das erlebten sie so hautnah, dafür brauchten sie nicht erst fasten. »Können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam unter ihnen ist?« fragte Jesus. Natürlich wäre das Unsinn. Vor einer Feier, da kann man natürlich fasten, damit danach mehr Platz im Magen ist, aber wenn das Büffet eröffnet ist, dann heißt es nur noch: die Gabel fest in die Hand genommen und los!

Warum also sollten die Jünger fasten, um Gott näher zu kommen, wenn er doch in seinem Sohn Jesus gerade präsent ist? Die Frage zeigt, dass die Frager weder vom Fasten noch von Gottes Gegenwart etwas verstehen. In Variation des Spruches der Hildegard von Bingen könnte man sagen: »wenn Fasten, dann Fasten; aber wenn Gegenwart Gottes, Gegenwart Jesu, Gegenwart des Heiligen Geistes – dann wird gelebt und gefeiert.«

Aber nun gilt es daran zu denken, dass die Antwort Jesu eben nicht war: »Fasten ist überflüssig, vergesst es!« Wie gesagt, Jesus selbst und so ziemlich alle prominenten Christen der ersten Stunde haben gefastet. Und Jesus hat ja gesagt: der Moment, wo der Bräutigam ihnen wieder genommen sein wird, kommt früh genug, und dann ist die Zeit zum Fasten wieder gekommen.

Das heißt, Jesus sieht eine Zeit voraus, wo er nicht so deutlich spürbar bei seinen Jüngern ist. Viele Ausleger glauben, dass damit die Zeit zwischen seiner Kreuzigung und seiner Auferstehung gemeint ist, also vor allem Karsamstag. Und ich kann mir auch vorstellen, dass die Jünger da so niedergeschlagen waren, dass sie keinen Appetit hatten. Aber nirgendwo wird behauptet, dass sie da regelrecht gefastet hätten. Nein, ich denke, dass Jesus überhaupt all die Situationen vorausgesehen hat, in denen Christen bis heute sich sehnen nach der deutlichen Gegenwart Jesu im Heiligen Geist, aber nichts passiert. Situationen, wo wir die Bibel lesen, und sie sagt uns nichts; wo wir im Gottesdienst sitzen und uns ärgern, dass wir nicht im warmen Bett geblieben sind; wo wir beten, aber am anderen Ende der Leitung läuft nur der Anrufbeantworter. Manchmal erleben wir dann eine Krise, die uns neu zu Gott hintreibt, aber wir müssen das ja eigentlich nicht erst abwarten, dass wir schwer krank werden oder der Ehepartner wegläuft oder der Fernseher über Weihnachten ausfällt.

In so einer Lage, sagt Jesus, wenn wir uns weit weg von ihm fühlen, sind geistliche Übungen wie das Fasten sinnvoll und hilfreich. Zu den geistlichen Übungen gehört nicht nur das Fasten, sondern z.B. auch Beten, Einsamkeit, Bibelstudium, Gespräche mit einem Seelsorger, Dienen, Opfern und noch mehr. Diese Übungen haben keinen Wert in sich, sie sind der Weg, nicht das Ziel. Sie sind auch keine Garantie dafür, dass wir Gott begegnen. Gott ist eine lebendige Person, wir können ihn mit keiner Methode zu irgendetwas zwingen, genausowenig wie unsere Ehepartner oder unsere Kinder z.B. Aber wenn wir solche geistlichen Übungen praktizieren, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Gott zu uns spricht. Mit solchen Übungen begeben wir uns dorthin, wo er uns besser erreichen kann. Wer Sehnsucht nach Gott hat und fastet, der öffnet sich stärker für die Wirklichkeit Gottes, nicht mehr und nicht weniger. Es kann auch sein, dass gar nichts passiert, aber die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, weil Gott auf ehrliche und engagierte Sehnsucht antwortet.

Natürlich ist es Unsinn, zu glauben, dass man von viel Fasten und Beten in den Himmel kommt, genauso wie es Unsinn ist, zu meinen, dass man um so klüger wird, je mehr Zeit man in einer Schulklasse verbringt. Man hat die Chance, in dieser Zeit in der Schule etwas zu lernen, aber ob das dann auch passiert, ist eine ganz andere Frage. Die Schule ist der Weg, aber nicht das Ziel, und wenn man am Ziel ist, spielt es keine Rolle mehr, wie man da hingekommen ist.

Gegenüber der Zeit Jesu hat sich heute einiges verschoben. Die Weisheit der geistlichen Übungen ist uns weitgehend abhanden gekommen. Wer heute fasten will, braucht ja anscheinend sogar eine Fastenlehrerin. Man muss heute eher Mut machen, sich regelmäßig durch Fasten und andere geistliche Übungen dorthin zu begeben, wo Gott besser zu uns reden kann. Es ist sicher nicht das Einzige, was wir tun müssen, aber wer Sehnsucht nach einem Leben hat, das tiefer in Gott verankert ist, der kommt um solche Wege wohl nicht herum. Schließlich ist selbst Jesus, damals, als er fastete, diesen Weg gegangen und hat in den 40 Tagen in der Wüste die Stärke gefunden, die ihn anschließend davor bewahrte, dem Teufel in die Falle zu gehen.