Menschen, die vor nichts zurückschrecken

Predigt am 18. Oktober 2009 zu Markus 2,1-12

1 Einige Tage später kehrte Jesus nach Kafarnaum zurück. Es sprach sich schnell herum, dass er wieder zu Hause war. 2  Da versammelten sich so viele Menschen bei ihm, dass kein Platz mehr war, nicht einmal vor dem Haus. Während er ihnen das Wort ´Gottes` verkündete, 3  wurde ein Gelähmter gebracht; vier Männer trugen ihn. Sie wollten mit ihm zu Jesus, 4  doch es herrschte ein solches Gedränge, dass sie nicht zu ihm durchkamen. Da deckten sie das Dach über der Stelle ab, wo Jesus sich befand, und machten eine Öffnung, durch die sie den Gelähmten auf seiner Matte hinunterließen. 5  Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: »Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!« 6  Einige Schriftgelehrte, die dort saßen, lehnten sich innerlich dagegen auf. 7  »Wie kann dieser Mensch es wagen, so etwas zu sagen?«, dachten sie. »Das ist ja Gotteslästerung! Niemand kann Sünden vergeben außer Gott.« 8  Jesus hatte in seinem Geist sofort erkannt, was in ihnen vorging. »Warum gebt ihr solchen Gedanken Raum in euren Herzen?«, fragte er sie. 9  »Was ist leichter – zu dem Gelähmten zu sagen: ›Deine Sünden sind dir vergeben‹ oder: ›Steh auf, nimm deine Matte und geh umher!‹? 10  Doch ihr sollt wissen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.« Und er wandte sich zu dem Gelähmten und sagte: 11  »Ich befehle dir: Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause!« 12  Da stand der Mann auf, nahm seine Matte und ging vor den Augen der ganzen Menge hinaus. Alle waren außer sich vor Staunen; sie priesen Gott und sagten: »So etwas haben wir noch nie erlebt.«

Da kommen ein paar Leute, demolieren Jesus das Hausdach, unterbrechen seine Predigt, und er nennt das »Glauben«. Jesus war gut darin, zu sehen, was in Menschen vorgeht und das richtige Wort dafür zu finden. Was hat er hier gesehen? Da sind Leute, die ihren gelähmten Verwandten oder Freund unbedingt zu Jesus bringen wollen, damit der ihn heilt. Der Weg zu Jesus ist aber versperrt, weil da so viele andere zuhören, da kommt keiner durch.

Also kommen sie auf eine Idee. Glaube geht oft mit ungewöhnlichen Ideen einher. Da tun Leute was, was man normalerweise nicht macht. Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Glaube bedeutet Wille und Aktion. Sie tragen den Kranken aufs Dach und machen ein Loch in die Decke und lassen ihn dadurch nach unten, weil sie unbedingt wollen, dass er mit Jesus zusammenkommt. Und dafür schrecken sie vor nichts zurück. So was macht man nur, wenn man wirklich überzeugt davon ist, dass sich die Sache lohnt.

Denn was ist der Normalfall, wenn man auf solche Hindernisse stößt? Wie reagieren Menschen? »Es geht nicht« sagen sie. »Ich würde ja gerne, aber es sind einfach zu viele Hindernisse. Ich kann nicht. Tut mir schrecklich leid, aber das ist doch wohl verständlich, dass ich das nicht hinkriege.« Wenn die vier mit ihrem Freund umdrehen würden und so nach Hause kommen, könnte ihnen einer einen Vorwurf machen? Nein, das würde sofort jeder einsehen, dass es völlig unmöglich war, den Kranken ins Haus zu schaffen, durch all die vielen Menschen hindurch, die sich ihren Platz erkämpft haben und den genauso wenig aufgeben wollen wie einer, der mit dem Schlafsack vor der Kasse übernachtet hat, um ein Ticket für das Michael-Jackson-Gedächtniskonzert zu bekommen. Jeder würde einsehen, dass da nichts zu machen ist.

Aber diese Gruppe zeigt, dass es eben doch geht, wenn man will. Aber eben nicht auf die normale Art. Die drehen nicht resigniert um, sondern sie lassen sich was einfallen. Mit einem Wort von heute würde man sagen: die sind motiviert. Die sagen nicht: motivier mich doch bitte mal! Bring mich in Stimmung, schieb mich an, zieh mich mit! Sondern die motivieren sich selbst, und das nennt Jesus »Glaube«.

Es ist übrigens interessant, dass das Hindernis, was da im Weg steht, aus Menschen besteht. Bis heute ist es so, dass Menschen sich von anderen abhalten lassen, zu Jesus zu kommen. Da hat jemand früher mal schlechte Erfahrungen mit Leuten gemacht, die irgendwie zur Kirche gehörten. Vielleicht ist er in einem strengen Elternhaus aufgewachsen und wurde religiös tyrannisiert. Oder er hat mal was über fanatische Christen gehört. Oder er hat sich über den Papst geärgert. Und schon stehen die wie eine unüberwindliche Mauer zwischen ihm und Jesus. Und er sieht nicht Jesus, sondern er denkt immer nur an diese Leute und er überlegt nicht, wie er trotzdem auch auf ungewöhnlichen Wegen zum echten Jesus vordringen kann, sondern er gibt auf und sagt: es geht nicht.

Und natürlich sind das oft wirklich problematische Leute, die Menschen erlebt haben, und es ist ein guter Instinkt, wenn einer dann sagt: so möchte ich nicht sein! Aber es ist trotzdem immer noch die Frage, ob einer sich davon abhalten lässt, was ihm damals zugestoßen ist, und ob er sein Verhältnis zu Jesus Christus davon abhängig machen will, was mal wieder der Spiegel oder sonst wer über die Kirche geschrieben hat.

Um Jesus herum gibt es immer wieder solche Leute, die mit enormer Energie versuchen, zu ihm heranzukommen, auch gegen alle möglichen Widerstände: der blinde Bartimäus, der so laut nach Jesus schreit, dass es allen peinlich ist; der Zöllner Zachäus, der auf einen Baum klettert, weil ihn keiner durchlassen will; die Frau mit dem zweifelhaften Ruf, die in eine Männergesellschaft eindringt und Jesus die Füße salbt – und hier diese Leute, die nicht darüber nachdenken, ob das Dach denn auch versichert ist, das sie kaputtmachen: immer wieder Menschen, die unheimlich motiviert sind und alles mögliche in Kauf nehmen, um zu Jesus durchzudringen.

Und Jesus hat das immer deutlich wahrgenommen und hat darauf reagiert. Er hat unterschieden zwischen den vielen Menschen, die bei ihm zusammenströmten, weil da was los war, und sie nichts verpassen wollten, und denen, die wirklich unbedingt zu ihm kommen wollten, weil sie wussten, dass das ihr Leben wirklich ändern würde.

Und wenn Jesus so etwas gesehen hat, dann hat er das sofort erkannt und mit Vorrang behandelt. Er hat immer gezeigt: ja, ich habe das wahrgenommen, so etwas übersehe ich nicht. Im Gegenteil, ich warte die ganze Zeit genau darauf, dass da Leute sind, die sich auch auch von Hindernissen nicht abhalten lassen, bis zu mir vorzustoßen. Die kann ich unterscheiden von all den anderen, die einfach so gekommen sind, ohne sich allzu viel Gedanken darum zu machen.

Jesus hat immer wieder betont, wie selten so ein Glaube ist. Man muss sich das mal vorstellen, da lebt Jesus und heilt Menschen an Leib und Seele, er redet beeindruckend, ganz viele Menschen wollen da dabei sein, aber von ganzem Herzen hin wollen und dafür auch Widerstände überwinden, das machen gar nicht so viele. Wir würden ja für heute sofort zugestehen, dass es alles schwierig ist und dass irgendwie alles nicht mehr so ist wie damals bei Jesus, und deswegen dann auch die menschlichen Reaktionen ein Problem sind – aber selbst damals scheint das nicht unbedingt der Normalfall gewesen zu sein, dass Menschen unbedingt und um jeden Preis zu Jesus wollten und dafür auch Hindernisse überwunden haben. Schon damals fiel so ein Glaube aus dem Rahmen.

Und als der Kranke schließlich vor ihm liegt, sagt Jesus zu ihm: deine Sünden sind dir vergeben. Natürlich weiß Jesus, dass sie ihn hergebracht haben, damit die Lähmung geheilt wird, aber er setzt ein Zeichen, dass es ihm um den ganzen Menschen geht und nicht nur um seine Krankheit. Und er macht deutlich: Wo so eine Motivation zu sehen ist, und wo das sogar noch eine Gruppe ist, die so glaubt, da spielen Sünden keine Rolle mehr. Da hat etwas so Neues begonnen, dass die Sündenfrage erledigt ist.

Im normalen religiösen Betrieb spielen natürlich Sünden immer eine große Rolle, das wird man gleich noch merken, aber wenn Menschen so von Jesus bewegt werden, dass sie alle möglichen Hindernisse aus dem Weg räumen, dann ist das Thema »Sünde« vom Tisch. Dann geht es um wesentlich wichtigere Dinge.

Ich will es mal so sagen: Dietrich Bonhoeffer hat in der Zeit, als er sich schon auf den aktiven Widerstand gegen Hitler hinbewegte, sinngemäß geschrieben: die glänzendsten Tugenden von Leuten, die Hitler zufallen, sind nachtschwarz gegen die dunkelsten Schwächen der Treuen (wh). Und er meinte damit, dass die Grundausrichtung des Lebens viel wichtiger ist als einzelne Taten. Ob einer Hitler zugefallen ist oder ob er genug Glauben hat, um ihm zu widerstehen, daran entscheidet sich alles. Bei wem die Grundausrichtung klar ist, bei dem wird es auch immer noch Versagen geben, aber das ist unbedeutend gegenüber dieser Grundausrichtung. Ein Hausdach kaputt zu machen ist natürlich normalerweise verboten, aber wenn einer das tut, weil er glaubt, dann darf er das.

Jesus sieht immer den ganzen Weg, nicht nur den Wegabschnitt, wo wir gerade stehen. Jesus schaut darauf, wo uns die Bewegung, in der wir gerade sind, hinbringt. Und wenn da welche sind, die unbedingt mit ihrem gelähmten Freund zu ihm hin wollen, und die sich dafür alles Mögliche einfallen lassen, dann sieht er, dass das ein Weg ist, auf dem sie geradewegs in die neue Welt Gottes laufen.

Gott nutzt manchmal solche Hindernisse, um den Glauben aufzubauen. Der wächst, wenn er sich etwas einfallen lassen muss. Gott will uns so zu starken und klaren Menschen machen. Er geht dafür auch das Risiko ein, dass wir der Herausforderung ausweichen und sagen: nein, das ist mir doch zu viel. Das kann doch keiner von mir verlangen. Gott schickt uns auch Situationen der Unsicherheit, wo wir uns fragen: lohnt es sich? wird denn am Ende auch wirklich etwas dabei herauskommen?

Aber dann sind da noch die Leute, denen das unheimlich ist. Die Leute, die gern alles klar und eindeutig haben. Die Schriftgelehrten sagen: Moment mal, für Sündenvergebung gibt es eindeutige Regeln, die stehen in der Bibel. Gott hat bestimmt, dass man dann im Tempel ein Sühneopfer bringt, und es ist auch klar, wie teuer das sein muss. Da kann doch nicht einfach einer kommen und sagen: dir sind die Sünden vergeben! Wenn das für alle so billig wird, wo kämen wir dann hin? Die Leute werden leichtsinnig, wenn das so einfach wäre.

Und Jesus weiß natürlich genau, was sie denken; vielleicht hat er ja das mit der Sündenvergebung sogar eigentlich wegen den Schriftgelehrten gesagt, um die ein bisschen aufzumischen. Und dann fragt er: was ist schwieriger? Vergeben oder heilen? Das mit der Vergebung kann jeder behaupten, das kann man nicht überprüfen, aber beim Heilen sieht man, ob es geklappt hat. Und ohne eine Antwort abzuwarten heilt Jesus den Mann, und der nimmt seinen Strohsack und geht erhobenen Hauptes nach Hause.

Und was ist nun größer? Heilen oder vergeben? Weder noch. Beides ist ein Hinweis auf etwas noch Größeres, das hier geschieht. Beides ist ein Zeichen dafür, dass Gott hier die Welt in umfassender Weise heilt. An Körper und Seele, und genauso in den sozialen Beziehungen. Gott ist wieder unter den Menschen. Die Barrieren sind überwindbar geworden. Und Menschen werden zwar von Heilung oder Vergebung angezogen, aber sie sollen dann eine ganze neue Welt finden, das Reich Gottes, die neue Schöpfung, die im Verborgenen schon längst begonnen hat.

Und wer mit so viel Energie und Mut den Weg zu Jesus frei macht, bei dem ist die Chance groß, dass er eben nicht bei Heilung oder Vergebung stehen bleibt, sich nicht nur einmal von diesem Guten berühren und heilen lässt, sondern dass er auch zum Kern vorstößt und ein aktiver und dauerhafter Teil von Gottes neuer Welt wird. Jesus achtet so genau auf diese unscheinbaren Leute mit großer Energie, weil die mit ihrer Unermüdlichkeit und Motivation gute Chancen haben, Bürger der neuen Welt zu werden.

Und für alle anderen sind sie ein Beispiel dafür, zu was entschlossene, motivierte Menschen in der Lage sind, wenn sie sich von niemandem abbringen lassen. Die wirklichen Hindernisse liegen immer im Menschen selbst drin. Deshalb geraten wir alle irgendwann auf Irrwege. Aber nur wer in Bewegung bleibt, der wird auch wieder zurück auf den Weg finden. Jesus weiß: diese Leute, die ihm das Dach demolieren, die haben die besten Chancen auf einen Platz in der neuen Welt Gottes.