Jesu Probleme mit der Öffentlichkeit

Predigt am 28. August 2005 mit Markus 1,40-45

40 Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. 41 Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein! 42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein.
43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich 44 und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.
45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekanntzumachen, so dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

Stellen Sie sich mal für einen Augenblick vor, bei uns würde so ein Wunder geschehen, wie es hier erzählt wird! Nun, bei uns wäre es dann wahrscheinlich kein Aussätziger, sondern vielleicht ein Krebskranker. Ein schwer an Krebs Erkrankter, den die Ärzte schon aufgegeben haben, und er wäre vielleicht nach einem Segnungsgottesdienst geheilt. Solche Dinge passieren, auch heute, nicht alle Nase lang, aber sie passieren durchaus. Lasst uns das mal vergleichen mit dieser Geschichte hier!

Würden wir dem dann sagen »aber erzähl keinem davon!«? Jesus macht das, im Originaltext klingt das noch viel ruppiger als in den Übersetzungen. Wenn man ungefähr wiedergeben will, wie Jesus mit dem Mann redet, dann müsste man übersetzen: »Hau bloß ab – und kein Wort davon, verstanden?« Es klingt fast, als ob Jesus ärgerlich ist, dass der Mann bei ihm die schwache Stelle gefunden hat, sein Mitleid. Jesus kann einfach nicht mitansehen, wie da ein Ebenbild Gottes durch den Aussatz zerstört wird, der einen Menschen bei lebendigem Leibe verfaulen lässt. Aber er ahnt schon, was er sich damit eingebrockt hat, und deshalb vergattert er den Mann: »kein Wort davon, verstanden?«. Aber das klappt natürlich nicht, und was Jesus befürchtet hat, passiert: der Mann erzählt überall davon, und Jesus kann nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen, weil sie sich da alle auf ihn stürzen würden.

Ich glaube, wir wären eher in Versuchung genau das Gegenteil zu tun und womöglich extra noch die Zeitung zu holen, wenn so was bei uns passieren würde. In die Öffentlichkeit zu kommen, vielleicht sogar ins Fernsehen, das wünschen sich heute ganz viele Leute, und sie tun alles dafür, sie legen sich in Kakerlaken, breiten ihre Beziehungsprobleme aus oder fressen 64 Würstchen auf einmal um ins Buch der Rekorde zu kommen. Es ist, als ob manche Menschen das Gefühl haben, es gäbe sie eigentlich erst richtig, wenn sie im Fernsehen sind. Auch Christen sind davon nicht frei.

Vorhin in der Lesung (Johannes 7,1-9) haben wir von den Brüdern Jesu gehört, die ihm raten: »Geh nach Jerusalem und mach auf dich aufmerksam! Dräng dich in die Öffentlichkeit! Besser ein schlechter Ruf als gar keiner! Man muss doch jede Gelegenheit ergreifen, um in die Presse zu kommen! Und Jesus sagt einfach: ja, so denkt ihr, aber meine Zeit ist noch nicht gekommen.

Es gab zu Jesu Zeiten noch keine Massenmedien, aber die Kommunikation der Leute untereinander, das Stadtgespräch, das war damals die Öffentlichkeit, und Jesus war in aller Munde, aber er war überhaupt nicht glücklich darüber. Das war bei ihm keine gezierte Bescheidenheit, so nach dem Motto: »ach, an mir ist doch gar nichts Besonderes, ich möchte nicht so im Mittelpunkt stehen.« Jesus wusste, dass er der wichtigste Mensch auf der Welt war. Er war Realist. Der wirkliche Grund dafür, dass er nicht zum Stadtgespräch werden wollte, war ein anderer: wer erst mal in den Blickwinkel der Öffentlichkeit geraten ist, der kann nur noch schwer beeinflussen, was die aus ihm machen. Wer erst mal in einer Schublade drinsteckt, der kommt da nur mit größter Mühe wieder raus, wenn überhaupt.

Wenn Sie z.B. an den Papst denken, als er jetzt in Deutschland war, fast überall tauchte in Berichten und Artikeln und Kommentaren die Frage auf, was er denn nun von der Pille und Kondomen und dem Zölibat meint. Man hat den Eindruck, bei manchen ist das schon so ein echter Reflex: wenn zu mir einer »Werkzeug« sagt, dann fällt mir »Hammer« ein. Und genauso scheint es manchen Journalisten zu gehen, wenn die »Papst« hören, fällt ihnen nur »Kondom« ein oder »Zölibat«. Dabei hat der ja beim Weltjugendtag gerade versucht, nicht so doll auf diesem Moralklavier zu spielen. Aber er ist einfach in dieser Schublade drin, und egal, was er sagt, die Journalisten denken immer nur an das eine. Sicherlich nicht ganz ohne Grund, aber man sieht daran, wie wenig Kontrolle man noch über sein Bild bei den Menschen hat, wenn man erstmal in der Öffentlichkeit ist.

Und so möchte Jesus vermeiden, dass den Leuten beim Wort »Jesus« immer nur »Wunder« einfällt. Er tut Wunder, ja, aber er möchte nicht, dass sein Bild nur von Wundern geprägt wird. Er möchte nicht, dass da vor ihm lauter Leute sitzen, die im Stillen sagen: »red nicht so lange rum, dieser ganze Krimskrams mit Gott interessiert mich nicht, fang endlich an mit den Wundern, dafür bin ich schließlich gekommen.« Gerade vorher ist Jesus aus Kapernaum weggegangen, weil er da kaum noch eine Chance hatte, mit seinem eigenen Wort gehört zu werden. »Gott kommt euch ganz nahe, deshalb kehrt um und ändert euer Leben, jetzt ist es möglich« – diese Botschaft drohte unterzugehen, weil alle nur an Heilungen dachten.

Die Öffentlichkeit versucht immer, erstmal alles Neue in bekannte Schubladen einzusortieren. Deswegen hat Jesus es grundsätzlich schwer mit der Öffentlichkeit, weil er eine neue Art von Menschen schaffen will. Es geht Jesus nicht darum, bessere Menschen der alten Art hervorzubringen. Das würde jeder verstehen. Jeder versteht, dass Menschen gesünder werden wollen, schlanker, glücklicher in ihren Beziehungen, klüger in ihren politischen Entscheidungen, dass sie ihr Geld besser anlegen und im Beruf erfolgreich sein wollen. Viele wollen bessere Menschen der alten Art werden, das ist normal. Inzwischen haben sogar viele verstanden, dass Menschen auch eine religiöse Ader haben, und es gibt eine Schublade auch für Leute, die auf eine religiöse Suche gehen, und auf dieser Schublade steht heute nicht mehr unbedingt »Spinner« drauf oder »Fanatiker«.

Aber dass Jesus eine neue Art von Menschen hervorbringen will, das passt in keine Schublade. Menschen, die im Kern ihrer Person erneuert sind, weil sie in Freundschaft mit Gott leben, in vertrauter Nähe, weil sie ihn hören und verstehen. Die aus Gottes Kraft leben, die in der Auferstehung Jesu am stärksten sichtbar wurde. Das können die Menschen im Grunde nicht gedanklich fassen, wenn sie es nie erlebt haben. Es bleibt bestenfalls eine leere Worthülse, unter der man sich nichts Konkretes vorstellen kann. Jedenfalls solange das einer nicht an sich selbst oder anderen miterlebt hat. Auch die Jünger haben das erst nach und nach und mit großer Mühe verstanden. Nur weil sie den Weg Jesu mitgingen, deshalb zerbrachen eins nach dem anderen ihre Klischees, mit denen sie ihn zu begreifen versuchten, und sie begannen ihn selbst zu erkennen.

Und die Frage ist ja: verstehen wir das eigentlich mit den Menschen neuer Art? Nicht nur die Medien haben ihre Klischees, mit denen sie das Christentum wahrnehmen. Vom Papst habe ich schon geredet. Wir als Ortsgemeinde sind anders eingeordnet, irgendwo zwischen Schützenverein, Wohltätigkeitsorganisation und Heimatmuseum. Ist ja ganz in Ordnung und auch nicht ganz ohne Grund, aber die wichtigste Frage ist doch, wie wir selbst uns sehen und vor allem wie wir Jesus sehen.

Natürlich tut Jesus Wunder, bis heute. Natürlich gibt Jesus Gebote. Ja, Jesus vergibt Sünde. Ja, Jesus bereitet für uns einen Platz im Himmel vor. Ja, Jesus gibt äußerst sinnvolle Anweisungen für den Umgang mit Geld, Familie, Politik, Beruf und so weiter. Ja, in vielen Fällen wird sich der Segen Gottes einstellen, wenn wir auf diese Anweisungen hören. Und wenn viele es täten, wäre es noch besser.

Aber das ist alles noch nicht der Kern, sondern das sind die Folgen, das fließt alles aus diesem Zentrum heraus, all diese guten Dinge stellen sich dort ein, wo Jesus in einem Herzen seinen Raum bekommt, wo wir mit ihm so verbunden sind, dass er auf uns einwirken kann und unser Leben durchdringt. Jesus will unser menschliches Ich so durchdringen und sich mit allen Fasern unseres Seins verflechten, dass das nicht mehr auseinander zu nehmen ist, dass unsere spontanen Reaktionen von ihm geprägt sind, dass das, was ihm gehört auch uns gehört, dass unsere Probleme seine Probleme sind, und dass diejenigen, die so mit ihm verbunden sind, nie mehr allein sein werden.

Versteht ihr, dass das in der Öffentlichkeit eigentlich nicht mehr zu vermitteln ist? Versteht ihr, dass die Leute normalerweise viel handfester denken? Aussatz geheilt, von wunderbarem Brot satt geworden, darunter kann man sich etwas vorstellen. Aber was sind neue Menschen? Und Jesus musste sich schon damals dauernd Strategien ausdenken, wie er mit dem gehört wird, was für ihn das Zentrum ist.

Etwas später leiht er sich deswegen ein Boot und spricht vom Boot aus zu den Menschen, dann können sie ihn nicht erdrücken oder überfluten mit ihren Erwartungen. Dann ist die Chance größer, dass sie verstehen, worum es ihm geht, weil sie erstmal hören müssen. Und er kann auch wegfahren und ist dann im Boot mit den Jüngern allein, und denen kann er dann besser erklären, worum es ihm geht. Und selbst das war noch schwer genug.

Aber das heißt, dass Jesus erst dann ein Chance hat, einigermaßen verstanden zu werden, wenn wir uns mit ihm auf den Weg machen. Die Jünger haben ihn eben nicht nur erlebt, wenn er Kranke heilte und Dämonen vertrieb. Sie hörten ihm immer wieder zu, sie fragten nach, und in dieser kleinen Gruppe redete er auch Klartext, da deutete er die Dinge nicht nur an, sondern er sagte unter 26 Augen ganz direkt: »hört nicht auf die Pharisäer und Schriftgelehrten«. Und sie erlebten ihn im Garten Gethsemane, als er schreckliche Angst hatte, sie erlebten seinen Tod, und am Ende waren sie es, zu denen er kam nach seiner Auferstehung. Sie klebten nicht an einzelnen Erfahrungen, sondern sie bekamen nach und nach Zugang zum ganzen Jesus, und schließlich hatten sie ihn so verstanden, dass sie reden konnten wie er und Wunder taten wie er.

Wenn wir Jesus selbst kennenlernen wollen und uns nicht mit Klischees begnügen wollen, dann müssen wir seinen Weg mitgehen, weil er uns nur so Stück für Stück zeigen kann, wie er wirklich ist. Natürlich haben wir heute die Evangelien und wissen, worauf es hinauslief mit Jesus. Und trotzdem werden das für uns Worthülsen bleiben, wenn wir uns nicht mit Jesus auf den Weg machen. Auch aus richtigen, klaren, biblischen Begriffen können Schablonen werden, die für den lebendigen Jesus nicht passen. Die erschließen sich erst, wenn wir mit ihm aufbrechen, immer wieder in neue Situationen hinein. Das ganze Elend der Christenheit hängt auch damit zusammen, dass wir etwas von Jesus begriffen haben, aber dann bleiben wir sitzen und gehen nicht weiter. Und wir wundern uns, weshalb es alles nicht so ist wie früher. Aber Jesus ist schon längst weitergegangen und wartet darauf, dass wir mitkommen. Und wir werden unser Leben lang nicht an den Punkt kommen, wo wir am Ziel sind. Wir haben sogar Hinweise darauf, dass uns auch im Himmel nicht nur ein sanftes Ruhekissen erwartet, sondern auch Aufgaben.

Das ist eine Art von Erfahrung, die grundsätzlich nicht durch Medien oder Öffentlichkeit vermittelbar ist. Hier in unserer Kirche haben wir einen geschützten Raum, und der ist extra dafür da, dass davon geredet wird. Aber der allerwichtigste Weg, wie der Glaube weitergegeben wird, ist die lebendige Gemeinschaft von Menschen, die Begegnung von Angesicht zu Angesicht und von Herz zu Herz. Wo das nicht gegeben ist, muss das Evangelium falsch verstanden werden, mindestens unvollständig.

Denn auch, wenn ich jetzt sage: der Kern ist Jesus und sein neues Leben. mit dem er uns zu neuen Menschen machen will, das würde auch als abgebrauchte Formel enden, wenn es nicht gelebt wird. Es hilft nichts, wir müssen bereit sein, mit Jesus aufzubrechen, wir müssen über das hinausgehen, was wir schon von ihm wissen und ihm von neuem begegnen. Wir müssen bereit sein, uns von ihm unser vorläufiges und begrenztes Verständnis umbauen zu lassen. Alle Bilder, die wir uns von ihm machen, müssen wir ihm zurückgeben, damit wir ihn selbst behalten.

Gebet:

Herr Jesus Christus,
wir bekennen, dass wir dich immer wieder festgehalten haben in dem, was wir schon von dir wussten, und dir nur zögernd und manchmal widerwillig gefolgt sind, wenn du mit uns aufbrechen wolltest. Wir bekennen dir, dass wir dich immer wieder missverstehen und dringend darauf angewiesen sind, dass du uns die vorläufigen Bilder wegnimmst, die wir uns von dir machen. Aber darum bitten wir dich heute.

Herr Jesus Christus,
es ist wohl so, dass du über unser begrenztes Verständnis ebenso den Kopf schüttelst, wie du manchmal über deine Jünger geseufzt hast. Es tut uns leid, dass wir so begriffsstutzig sind und dir diese Mühe machen. Wir können dich nur bitten, dass du uns auch weiterhin geduldig erklärst und zeigst, wie du wirklich bist und was du von uns erwartest. Wir sind so dankbar für deine Geduld, mit der du dich immer wieder neu mit uns abgibst. Verdient haben wir das wirklich nicht.

Wir sagen dir heute, dass wir bereit sind, unsere vorläufigen Bilder von dir loszulassen und neu auf dich zu hören und neu zu verstehen, wie das gemeint ist, was wir in deinem Buch von dir lesen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Du bist der Lebendige, und wir kommen zu dir in der Suche unseres Herzens nach Leben. Niemand als du, Herr, kannst uns das geben. Du bist uns wichtiger als unsere Bilder, die wir uns von dir gemacht haben. Du bist jeden Morgen neu. Und auch wir wollen jeden Tag von dir neu gemacht werden.

Herr, wahrscheinlich wissen wir gar nicht, worum wir bitten. Wahrscheinlich würden wir heute zurückschrecken, wenn wir jetzt schon wüssten, was du uns noch zeigen willst. Es sind ja auch bestimmt Tage darunter, die im Zeichen des des Kreuzes stehen. Dein Tempo ist richtig für uns, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Wir vertrauen dir, Herr, dass du uns nichts begegnen lassen wirst, was für uns zu schwer ist. Aber wir möchten dir nicht im Weg stehen, wir möchten ein Herz haben, das nicht träge oder blockiert ist. Darum bitten wir dich. Und wir bitten dich das auch gegen uns und gegen unser hartes Herz.

Wir sind in deiner Hand, Herr, und wir können dir nur sagen, wie sehr wir uns das wünschen, dass unsere Ohren und unsere Herzen offen sind und wir im richtigen Moment aufbrechen und dir dahin folgen, wohin du gehst. Das ist der Ort, wo wir sein möchten.
Amen.