Der Vater (Eltern und Kinder 3)

Predigt am 27. August 2000 zu Markus 1, 9-13

9 Zu dieser Zeit geschah es: Jesus kam aus Nazaret in Galiläa zu Johannes und ließ sich von ihm im Jordan taufen. 10 Als er aus dem Wasser stieg, sah er, wie der Himmel aufriss und der Geist Gottes wie eine Taube auf ihn herabkam. 11 Und eine Stimme aus dem Himmel sagte zu ihm: »Du bist mein Sohn, dir gilt meine Liebe, dich habe ich erwählt.« 12 Gleich danach trieb der Geist Gottes Jesus in die Wüste. 13 Dort blieb er vierzig Tage und wurde vom Satan auf die Probe gestellt. Er lebte mit den wilden Tieren zusammen, und die Engel Gottes versorgten ihn.

Heute geht es also um die Rolle des Vaters, und als ich darüber nachdachte, da verstand ich ganz neu die Geschichte von der Taufe Jesu durch Johannes, die ja gleichzeitig eine Geschichte von der Annahme Jesu durch Gott ist. Als Jesus aus dem Wasser stieg, da hörte er eine Stimme, die Stimme Gottes: »du bist mein Sohn, dir gilt meine Liebe, dich habe ich erwählt.«

Ist das nicht etwas, was immer und immer wieder auch dann gesagt wird, wenn ein menschlicher Vater sein neugeborenes Kind zum ersten Mal auf dem Arm hat oder es im Säuglingszimmer zum ersten Mal in seinem Bettchen liegen sieht? Vielleicht wird es nicht laut ausgesprochen, vielleicht fehlen die Worte, aber es ist das, was Väter immer wieder empfinden, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal richtig vor sich haben: »Du bist mein Kind!«

Was bei uns vielleicht nur im Herzen empfunden wird, das wurde in anderen Kulturen sogar im Rahmen einer Zeremonie ausgedrückt. Ich glaube, z.B. bei den Römern, aber auch bei den alten Germanen war es so. Der Vater nahm das Neugeborene auf den Arm, und er nahm es damit in die Familie auf, er erkannte es an als sein Kind und neues Mitglied der Familie. Bei der Mutter ist das Kind ganz selbstverständlich von Anfang an – der Vater muss das Kind sozusagen erst adoptieren, auch wenn es sein leibliches Kind ist, er muss es annehmen, und das ist nicht selbstverständlich.

Und als Jesus getauft wurde, da erlebte er so eine Annahme durch Gott: der Vater im Himmel sagte Ja zu ihm, ein völlig eindeutiges und starkes Ja. Und in der Kraft dieser Gewissheit ging Jesus dann in die Wüste und konnte dem Teufel mit all seinen Verlockungen widerstehen, und dann ging er unter die Menschen, und die einen verehrten ihn, und die anderen beschimpften und verleumdeten ihn, aber er wurde davon nicht hochmütig und er ließ sich nicht einschüchtern, weil er wusste: es kommt auf das Ja Gottes an, das ist es, was wirklich zählt. Und in diesem Ja bin ich mir ganz sicher. Tag für Tag sprach er mit seinem Vater, und er hörte von ihm Ermutigung, Weisung und vor allem immer wieder: mein Sohn! Ganz besonders, wenn man das Johannesevangelium liest, dann merkt man: Jesus ist völlig begeistert vom Vater im Himmel, und er kann den Menschen nicht genug von diesem begeisternden Gott erzählen. »Ich und der Vater sind eins« sagt er.

Natürlich geht es nicht nur um diesen einmaligen Akt der Annahme, weder bei Jesus am Jordan, noch wenn ein Vater ein Neugeborenes auf dem Arm hat. Das ist der Anfang einer Beziehung, die lebendig sein und wachsen soll. So wie wir bis heute kleine und große Menschen taufen, und das ist der Anfang einer Beziehung zu Jesus, die dann Tag für Tag lebendig gehalten werden soll.

Und nun ist ja die Frage: gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen dem Verhältnis eines Kindes zur Mutter, über das wir letzte Woche nachgedacht habe, und dem Verhältnis zum Vater? Wobei es da gar nicht so sehr darum geht, ob es die leiblichen Eltern sind oder Pflegepersonen, die diese Funktionen übernehmen, und man kann sich vielleicht auch vorstellen, dass ein Hausmann mütterliche Funktionen übernimmt und seine arbeitende Frau väterliche Funktionen. Wenn ich jetzt also vom Vater rede, dann rede ich von dem Menschen, der diese Funktion ausübt. Meistens wird das natürlich der leibliche Vater sein – entscheidend ist nur, dass diese Funktion auch wirklich ausgeübt wird.

Was ist also der Unterschied zwischen der mütterliche und der väterlichen Funktion? Die Mutter steht für Nähe, Geborgenheit, Harmonie. Sie ist dem Kind so nahe, dass das Kind in den ersten Monaten die Grenze zwischen den Personen gar nicht so richtig wahrnimmt. Mutter und Kind sind ja am Anfang auch körperlich eine Einheit, und das setzt sich ein Stück weit noch durch die Stillzeit fort. Im Vergleich dazu ist der Vater beinahe ein Fremder. Er gehört zu der fremden Welt, die das Kind nicht versteht. In dieser chaotischen Welt findet das Neugeborene zunächst nur in der Mutter einen festen Bezugspunkt, durch sie lernt der kleine Mensch überhaupt erst das Vertrauen in die Welt, und das ist immer noch schwer genug.

Aber nun taucht in dieser kleinen vertrauten Welt noch ein anderes Gesicht auf, eine andere Stimme, ein anderer Geruch. Nicht immer, aber immer öfter. Dieser Eindruck tritt heraus aus dem unbekannten Hintergrund und wird immer vertrauter. Der Vater – er ist dem Kind fremder als die Mutter, aber er ist dem Kind auch vertrauter als alle anderen fremden Gesichter und Stimmen. Und so wird der Vater für das Kind die Brücke in die unbekannte, große Welt jenseits von Bettchen und Wickeltisch.

Denn das Kleinkind muss ja heraus aus dieser ganz engen Bindung an die Mutter. Sie ist ja für das Kind am Anfang allmächtig; sie sorgt für Essen und Hygiene und an sie appelliert man, wenn es wehtut, kurzum: sie ist für alles zuständig und wird für alles verantwortlich gemacht.

Aber wenn das auf Dauer so bliebe, dann würde das Kind nie eine eigene Person werden. Wir empfinden es völlig zu Recht als unpassend, wenn ein Erwachsener versucht, andern die Verantwortung für sein Leben zuzuschieben. Natürlich ist es bequem, und Kinder möchten eigentlich nicht heraus aus diesem Paradies, wo die Mutter für alles sorgt. Und es ist mit Ängsten verbunden, in die unbekannte Welt hinauszugehen, bei allen Beteiligten.

Wir kennen wohl alle das Lied von »Hänschen klein, geht allein in die weite Welt hinein, wohlgemut mit Stock und Hut«, wie ein Großer. Da überschreitet einer mutig die Grenze zur unbekannten Welt, und weiß noch nicht, dass ihm Stock und Hut da nicht viel helfen werden. Aber auch für die Mutter ist das ein schwieriger Augenblick, wenn ihr Kind seine ersten Schritte wagt. Sie hat Angst um ihr Kind, sie »weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr«, und das Kind ist davon so erschreckt, dass es sich die Sache schnell anders überlegt, »kehrt nach Haus geschwind«. Schade. Irgendwie ist da der Weg in die Welt schon wieder zu Ende, kaum dass er begonnen hat. Hänschen hat nicht geahnt, in welche Beziehungskrisen man da geraten kann.

Für mich wäre die Frage bei diesem Lied: wo ist da eigentlich der Vater? Mit Vater wäre das nicht passiert! Der hätte das Kind an die Hand nehmen können, und in seinem Schutz hätte Hänschen seine ersten Schritte in die große Welt machen können. Der Vater hätte Hänschen auf die riesig hohe Mauer raufgehoben, wo es toll ist, aber auch irgendwie bröckelig und gefährlich, und wenn Hänschen wieder runtergewollt hätte, dann hätte der Vater die Arme ausgebreitet und gesagt: »Spring«. Die Mutter wäre tausend Tode gestorben, wenn sie das gesehen hätte, aber die beiden waren ja zum Glück allein weg.

Für so was braucht man den Vater. Er ist immer noch vertraut, aber er ist nicht so nah wie die Mutter. Deshalb hat er nicht so viel Angst um sein Hänschen und traut ihm zu, dass Hänschen mit der Welt schon fertig wird.

Also: wo war der Vater? War er bei der Arbeit oder in der Kneipe? Hatte er keine Zeit für seinen Sohn? War er sowieso nur Zahlvater, oder hat die Mutter ihn lieber ferngehalten, damit sie ihr Hänschen möglichst lange für sich allein behalten kann?

Die traurige Geschichte von Hänschen und seinem gescheiterten Versuch der Selbständigkeit ist eine Geschichte vom fehlenden Vater. Es hat schon seinen Grund, dass Kinder normalerweise zwei Eltern haben. Es ist eine Überforderung, wenn ein Elternteil allein für beides zuständig sein soll: für Nähe und Trennung, für Geborgenheit und für Freiheit. Ein Kind braucht beides, es braucht zwei Eltern, und wenn es bei einem Elternteil aufwächst, dann ist es wichtig, dass es andere Menschen kennt, die die fehlende Funktion wenigstens ein Stück weit übernehmen. Sonst fehlt etwas.

Denn der Vater, der dem Kind hilft auf dem Weg in die Welt, der kennt auch die Regeln der Welt. Der steht für die Ordnung, für das, was man darf und was nicht. Mit der Mutter kann man vielleicht eher noch handeln, der Vater sagt irgendwann: Schluss, jetzt gehst du ins Bett. Das ist für das Kind nicht immer angenehm. Aber es muss sein. Zur Vaterrolle gehört es stärker, Grenzen zu setzen, und auch die Anliegen der größeren Gemeinschaft gegenüber dem Kind zu vertreten. Das Kind wird ja eines Tages nach den Regeln der Gesellschaft leben müssen. Es kann die Regeln aber nicht lernen im Gegenüber zu einer anonymen Gesellschaft, sondern nur in Auseinandersetzung mit konkreten Menschen, denen es vertraut, und die ihm helfen, zu verstehen, warum man in der Welt manche Dinge nicht darf und andere muss. Nur so kann sich ein lebendiges Gewissen entwickeln.

Wenn wir 60 oder 100 Jahre zurückschauen, dann sehen wir da Väter, die häufig wie kleine Herrscher in ihrer Familie lebten, viel Kälte und Distanz vermittelten und ihre Kinder nicht selten mit Angst und Schrecken erzogen. Das ist eine Karikatur der Vaterrolle, und das hat viel, viel Schaden angerichtet. In Reaktion darauf ist nun aber häufig die Vaterfunktion überhaupt fragwürdig geworden: Väter nehmen die Rolle gar nicht mehr wahr, gesellschaftlich wird sie wenig unterstützt, es gibt kaum Leitbilder dafür, oder Mütter signalisieren den Kindern, das man das nicht so ernst nehmen muss, was Vater erzählt. Und andersrum erleben alleinerziehende Mütter, die die Vaterrolle mitübernehmen müssen, wie manchmal ausgerechnet der Vater bei Besuchen das unterläuft und den Kindern alles erlaubt.

Und die Konsequenz der geschwächten Vaterfunktion ist, dass wir immer mehr Kinder bekommen, die überhaupt nicht gelernt haben, mit Grenzen umzugehen. Ihnen fehlte ja das Gegenüber dazu. Sie haben es nicht erlebt, dass jemand ihnen mit Konsequenz, Engagement und Dialogbereitschaft die Regeln des Lebens gezeigt hat, sondern sie haben vielleicht nur erlebt, dass sie erst machen können, was sie wollen, und auf einmal werden sie aus heiterem Himmel angebrüllt, wenn die elterlichen Nerven blank liegen. So kann man aber kein positives Verhältnis zu Regeln bekommen. Und viele Schwierigkeiten von Jugendlichen hängen damit zusammen, dass die Vaterfunktion zu wenig wahrgenommen wird.

Und nun muss man sagen, dass die Aufgabe des Vaters erst dann beendet ist, wenn sich das Kind auch von ihm abgelöst hat. Weder soll die Mutter die Göttin sein, die für alles verantwortlich ist, noch soll der Vater der Gott sein, dem man strikten Gehorsam schuldet. Deshalb gehört es auch zur Vaterrolle, dem Kind den Weg zum Vater im Himmel zu öffnen, und damit den Weg zur Freiheit.

Meistens heißt es ja: für Religion ist die Mutter zuständig. Aber man hat das mal untersucht, und es ist herausgekommen, dass Kinder im Bereich der Religion und der Wertentscheidungen sich stärker den Vater als Orientierung nehmen. Der Vater steht für die Ordnung und die Regeln, die in der Welt gelten, und deshalb ist seine Haltung zum Glauben so wichtig. Und mit seiner ganzen Art macht er es dem Kind leichter oder schwerer, dem Vater im Himmel zu vertrauen.

In der Bibel wird Gott ja mit mütterlichen und väterlichen Bildern beschrieben. Aber es ist tatsächlich so, dass die väterlichen Bilder überwiegen. Vielleicht können wir das jetzt verstehen. Der Vater ist für das Kind zuerst der Fremde, der dann zum Vertrauten wird. Die Beziehung zu ihm ist nicht selbstverständlich wie die zur Mutter, sondern sie muss extra begründet werden. So ist Gott ja zunächst auch der ganz andere, er ist nicht wie wir, er ist heilig und hoch erhaben. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir eine Beziehung zu ihm haben. Die muss erst gegründet werden. Der Herr des Weltalls sagt zu Staubkörnern: du bist mein geliebtes Kind! Als erster hat das der Mensch Jesus bei seiner Taufe gehört. Und jetzt lädt er uns ein zu diesem Vater. Und wenn wir dem Ruf folgen, dann wird aus dem stummen Weltall oder aus dem unberechenbaren Schicksal der Vater im Himmel, und er nimmt uns an der Hand und zeigt uns die Welt und wie man in ihr leben kann. Wir können ihn nicht manipulieren oder seine Regeln mal eben außer Kraft setzen, aber wenn wir ihm vertrauen, dann werden wir den Sinn dieser Regeln verstehen, und wir werden uns an ihnen freuen.

Wer für ein Kind Vater ist, der bereitet es mit seiner Art schlecht oder recht vor auf die Begegnung mit diesem Vater im Himmel, gegenüber dem wir, wenn wir ihn lieben, alle Kinder sind. Vor ihm stehen wir auf einer Stufe, ob wir nun Eltern oder Kinder, Mütter oder Väter sind.