Die kostbare Gegenwart Jesu

Predigt am 27. März 2005 (Ostern I) zu Lukas 24,36-49

36 Als sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! 37 Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist. 38 Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? 39 Seht meine Hände und meine Füße, ich bin’s selber. Fassl mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe. 40 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und Füße.
41 Als sie aber noch nicht glaubten vor Freude und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen? 42 Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. 43 Und er nahm’s und aß vor ihnen.
44 Er sprach aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen. 45 Da öffnete er ihnen das Verständnis, so dass sie die Schrift verstanden, 46 und sprach zu ihnen: So steht’s geschrieben, dass Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; 47 und dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Fangt an in Jerusalem, 48 und seid dafür Zeugen.
49 Und siehe, ich will auf euch herabsenden, was mein Vater verheißen hat. Ihr aber sollt in der Stadt bleiben, bis ihr ausgerüstet werdet mit Kraft aus der Höhe.

Was die Jünger in diesem Augenblick wohl gefühlt haben, als Jesus plötzlich unter ihnen stand, das muss so konfus gewesen sein, da kommt auch die Bibel an die Grenze ihrer Möglichkeiten. »Sie glaubten nicht vor Freude« das ist ein verrückter Satz, das geht eigentlich gar nicht, aber genauso muss ihnen zu Mute gewesen sein. Furcht vor dem, was da plötzlich passiert, andererseits sehen sie, dass es Jesus ist; sie trauen ihren Augennicht, aber andererseits freuen sie sich schon und sind aus dem Häuschen, alles gleichzeitig, es dauert eine Zeit, bis sie sich sortiert haben. Und auch dann sind sie immer noch in einem Ausnahmezustand.

Sie machen ja eine atemberaubende Berg – und Talfahrt mit. Eben noch beherrschte der Gedanke ihr Herz: »wir werden Ihnen nie wieder sehen. Nie wieder seine Stimme hören, nie wieder mit ihm zusammen an einem Tisch sitzen, nie wieder seine Gegenwart erleben: diesen Blick bis in die Tiefen des Herzens, dieses Gefühl der Sicherheit, dass er auf alles die richtige Antwort hat; dieses wunderbare Gefühl, dass bei ihm alles in Ordnung ist., dass man vor nichts Angst haben muss, er hat die Lage unter Kontrolle – nie wieder werden wir das haben.« Was nützen denn die ganzen Erinnerungen, wenn der Mensch selbst nicht da ist? Fotos und Geschichten können uns an einen Menschen erinnern, aber sie machen uns auch schmerzlich bewusst, was wir verloren haben: wenn ein Mensch nicht mehr da ist, dann fehlt uns seine Gegenwart.

Die Gegenwart eines Menschen ist etwas unvergleichlich Kostbares. Sie ist durch nichts zu ersetzen, durch keine Erinnerung, kein Bild, keine alten Briefe. Wenn man Menschen, die jemanden verloren haben, den sie geliebt haben, fragt, was ihnen jetzt fehlt, dann würden sie im Kern immer antworten: seine Gegenwart fehlt mir! Dass er nicht mehr da ist! Dass ich nur noch vergleichsweise tote Erinnerungen habe.

Diese Gewissheit, dass sie die Gegenwart Jesu unwiederbringlich verloren hatten, die war gerade erst in den Herzen der Jünger angekommen. Und nun wurde das alles wieder auf den Kopf gestellt, sie sahen Jesus, aber sie wussten eigentlich noch gar nicht, was das bedeutete. Obwohl, andererseits wussten sie sofort, das es sehr schön war.

Ihr erster Gedanke war: ein Geist! Das kann einerseits bedeuten: eine abgeblasste Erinnerung, ein Untoter, sozusagen der Schatten eines Menschen. Das wäre ein bisschen wenig, und Jesus bestreitet auch entschieden, dass er sowas ist. Andere Möglichkeit: ein Wunschtraum, ein Produkt ihrer überreizten Fantasie. Das haben ja später immer wieder Leute vermutet: die Jünger waren so durcheinander, die haben sich da kollektiv was eingebildet. Aber auch das will Jesus ausschließen. Deswegen fordert er sie energisch auf, die Probe aufs Exempel zu machen und ihn anzufassen: ja, er hat einen Körper. Er ist wirklich wieder da.

Aber es reicht immer noch nicht. Sie kriegen es immer noch nicht auf die Reihe. Schließlich greift Jesus zum letzten Mittel und fängt an zu essen. Da endlich fangen sie an, es für möglich zu halten, was sie sehen. Ein Geist isst keinen Fisch, allein schon wegen der Gräten.

Was er mit der Aufforderung zum Anfassen und dem Fisch angefangen hat, damit ist Jesus dann eigentlich die ganze Zeit beschäftigt: nämlich die Gedanken der Jünger in klare Bahnen zu lenken. Dafür zu sorgen, dass sie nicht am nächsten Tag doch wieder glauben, sie hätten geträumt. Man kann sagen: diese ganze Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt, wo Jesus immer wieder leibhaftig bei den Jüngern ist, die dient dazu, dass sie nie wieder daran zweifeln, was sie da erleben. Sie sollen nicht nachträglich glauben, sie hätten geträumt.

Und Jesus will, dass all das Neue und Wunderbare, was die Jünger jetzt erleben, nicht eine isolierte Wundergeschichte ist, die irgendwie neben der anderen Realität steht. Jesus stellt Verbindungen her.. Schon als er ihnen seine Hände und Füße zeigte, da haben sie die Nägelwunden gesehen, die Spuren der Kreuzigung. Ja, es ist derselbe Jesus, der kurz vorher ums Leben gebracht worden ist. Er hat eine Geschichte, die bekannt ist. »Erinnert Ihr euch nicht? Ich habe es euch doch vorausgesagt, dass ich sterben werde, aber dass das nicht das Letzte sein wird.« In Wirklichkeit reicht seine Geschichte noch viel weiter zurück. Die ganze Geschichte des Volkes Israel gehört mit dazu. Ein ganz langer Weg, mit vielen Irrungen und Verwirrungen, und man weiß nicht, was der Sinn davon ist, und worauf es hinauslaufen soll. Und jetzt sagt Jesus: das war alles eine Vorbereitung auf diesen Tag. Die ganze Zeit über hat Gott auf diesen Tag der Auferstehung hingearbeitet. Und wer genau hinschaut, kann im Rückblick sehen, wie es da überall Hinweise gibt, mehr oder weniger versteckte Zeichen auf dieses Ziel der ganzen Geschichte.

Deswegen macht Jesus jetzt gleich mit den Jüngern Bibelstudium. Sie sollen lernen, im Licht der Auferstehung die ganze Geschichte Israels neu zu sehen. Da hat es auch früher schon immer wieder solche Momente der Klarheit gegeben, wo Menschen verstanden: Rettung ist nicht möglich ohne Leiden, aber Gott kann auch von den Toten erretten. Jesus ist der Schlüssel für diese ganze Geschichte, er ist ihr aufgelöstes Rätsel. Das ist kein Irrweg geblieben, sondern er ist jetzt an sein Ziel gekommen. Oder mindestens an sein entscheidendes Zwischenziel.

Denn diese Geschichte ist ja noch nicht zu Ende. Die Geschichte Israels öffnet sich. Bis jetzt hatte Gott in diesem kleinen Teil der Menschheitsgeschichte alles vorbereitet. Jetzt ist diese Vorbereitungszeit zu Ende. Jetzt werden alle Menschen eingeladen, sich dieser Geschichte anzuschließen. Und die Jünger haben dabei eine Schlüsselrolle.

Jetzt, wo Gottes Absicht ganz klar ist, jetzt sollen alle aufgerufen werden, umzukehren und sich dem neuen Gottesvolk anzuschließen, das Jesus gegründet hat. Ein Volk aus Juden und Menschen aus allen Völkern, das aus der Kraft der Auferstehung lebt. Umkehren, die gottlosen Wege hinter sich lassen und auf Gottes Wege gehen. Das ist jetzt möglich, weil Jesus lebt, weil sein Einfluss und seine Gegenwart in Zukunft nicht an einem geografischen Ort gebunden sind, sondern er wird die Menschen überall erreichen.

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der das Christentum von all den anderen Religion unterscheidet. Die andern Religionsstifter haben Lehren hinterlassen, an die sich ihre Nachfolger mehr oder weniger gut halten. Allein die Christen behaupten, dass ihr Herr keine Person der Vergangenheit ist, sondern dass er bis heute lebt und wirkt, dass es im Entscheidenden nicht um seine geschichtliche Nachwirkung geht, sondern um seine lebendige Gegenwart, in der er seine früheren Taten fortsetzt. Man kann ja behaupten, dass das alles nur Einbildung sei, ein Geist sozusagen, aber wir sind die einzigen, die überhaupt auf die Idee kommen, dass es so sein könnte. Von anderen großen Menschen wird noch nicht einmal behauptet, dass man ihnen selbst noch heute begegnen kann.

Damit das geschehen kann, dafür kündigt Jesus ihnen den Heiligen Geist an, »die Kraft aus der Höhe«. Auch darauf hat es schon lange vorher Hinweise gegeben, aber jetzt wird es bald so weit sein. Es ist die Aufgabe des Heiligen Geistes, genau dafür zu sorgen, dass die Gegenwart Gottes bei den Menschen ist, dass die Gegenwart Jesu immer wieder neu da ist und ihre Wirkung tun kann.

An dieser Stelle fragen viele: wie kann das sein? Wie können wir Jesus begegnen, wenn wir ihn nicht sehen? Die Jünger haben ihn damals jedenfalls anfassen können. Auch wenn sein Leib irgendwie anders war als vorher, auch wenn er anscheinend in der Lage war, durch verschlossene Türen und durch Wände zu kommen, aber sie konnten ihn jedenfalls sehen und anfassen. Was soll das aber für eine Gegenwart sein, die der heilige Geist bringt?

Ich habe vorhin gesagt, dass es die Gegenwart Jesu war, die den Jüngern fehlte. Wenn ein Mensch tot ist, dann hat man noch Erinnerung an ihn, aber seine Gegenwart fehlt. Auch wenn er weit weg ist, fehlt uns seine Gegenwart, und auch ein Telefongespräch ist kein wirklicher Ersatz dafür. Oder? Doch, es gibt Telefongespräche, in denen man einem Menschen ganz nahe ist, wo man auch durchs Telefon ein Herz und eine Seele sein kann, wo man seine Gedanken miteinander teilt und sich füreinander öffnet. Gut, im Zweifelsfall wäre es mir immer noch lieber, dem andern leibhaftig gegenüberzusitzen, ihn zu sehen und ihn berühren zu können, aber ein Telefonat kann auch schon ganz gut sein, auf jeden Fall besser als ein direktes Gespräch, wo einer mit seinen Gedanken ganz woanders ist.

Ich reite auf diesem Punkt so herum, weil er zeigt, dass es die Gegenwart eines Menschen gibt auch ohne seine körperliche Anwesenheit. Unabhängig von der Art der Kommunikationsverbindung ist die Gegenwart eines Menschen bei mir im Kern eine innere Wirklichkeit: Ich habe für ihn mein Herz geöffnet, und er nimmt in mir Raum ein. Das geschieht aber nicht unabhängig von ihm, es ist nicht so, dass ich mir da etwas nach meinen Ideen zurechtmache. Wenn ich das tue, dann wird man zurecht von mir sagen, dass ich krank bin und mit Wahnvorstellungen lebe. Noch nicht einmal echte Erinnerungen an einen Menschen führen zur Erfahrung seiner Gegenwart. Nein, das Schöne ist ja gerade, dass da in meinem Herzen wirklich jemand anders gegenwärtig ist, ein echter lebendiger Mensch, der anders ist als ich, – unabhängig davon, ob ich ihn sehe oder mit ihm telefoniere.

Diese Überlegung mit dem Telefon zeigt die Richtung: es geht um die Gegenwart Jesu, die nicht an leibliche Gegenwart gebunden ist, aber auch nicht mehr an die Übermittlung durch hörbare Worte, sondern der Heilige Geist sorgt direkt und ohne die Zwischenschaltung äußerer Mittel dafür, dass der lebendige Jesus im Herzen eines Menschen gegenwärtig sein kann. Der Weg, auf dem diese Gegenwart kommt, ist ganz anders als sonst, aber das Ergebnis ist das Gleiche.

Und so wie ich aus der Gegenwart eines leibhaftigen Menschen immer etwas bekomme – Freude, Gemeinschaft, Ermutigung, manchmal aber auch das Gegenteil davon, so bringt Jesus seine Art in mein Herz, seine Liebe und Klarheit, seinen Mut, seine Souveränität, seine Sicherheit und Hoffnung.

Dieser Transfer vom lebendigen Jesus zu den Christen ist der zentrale Motor im Christentum. Und den Jüngern sagt Jesus sogar, dass sie gar nicht mit der Arbeit anfangen sollen, bevor nicht der Heilige Geist zu ihnen gekommen ist. Vorher kann das nur Stückwerk werden.

Eine letzte Frage bleibt: ist denn das Leibliche und Äußere wirklich unwichtig? Ich glaube, wir wissen alle, dass bei einem Telefongespräch trotz allem etwas fehlt. Deswegen ist im Christentum die Gemeinde so wichtig: die ist die äußere Wirklichkeit, die zu der inneren Gegenwart Jesu hinzutritt. Ês sind die Freunde aus der Gemeinde, über die im Normalfall die innere Gegenwart Jesu an uns vermittelt wird. Ohne sie geht es zur Not auch, aber es ist wie der Unterschied zwischen einem Telefongespräch und der leiblichen Gegenwart eines Menschen.

Ich habe jetzt so ausführlich über die Art der Gegenwart Jesu gesprochen, weil für uns heute da die eigentliche Klippe liegt, an der wir denkerisch nicht leicht vorbeikommen. All diese Überlegungen setzen aber das Eine voraus: dass Jesus auferstanden ist. Wenn er das nicht wäre, dann könnte er auch nicht als lebendige Gegenwart in unserem Herzen präsent sein. Er ist aber wahrhaftig auferstanden, er lebt, und in der Kraft des Heiligen Geistes regiert er diese Welt. Vor allem aber bitten wir darum, dass er in uns wohne und uns in seiner Kraft regiere.