Jesus liebt offene Augen

Predigt am 23. Februar 2020 zu Lukas 18,31-43

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.
35 Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da saß ein Blinder am Wege und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. 37 Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Haben Sie eben den heftigen Kontrast zwischen den Jüngern und dem Blinden am Weg gespürt? Diese Geschichten stehen im Evangelium natürlich mit Absicht nebeneinander: der Blinde, der entschlossen zugreift, als er eine winzige Chance auf Heilung hat, und die zögerlichen Jünger, die sich künstlich dumm machen, weil sie von solchen schlimmen Sachen wie Folter und Tod lieber gar nichts wissen wollen. Auf der einen Seite ein Blinder, der die Situation genau erkennt und nutzt, und auf der anderen Seite 12 Jünger, die sich selbst blind machen, weil ihnen nicht gefällt, was sie sehen würden, wenn sie hinsehen würden.

Lieber nicht so genau hinsehen?

Dass Menschen lieber nicht so genau hinsehen, weil sie sonst etwas sehen würden, was ihnen nicht gefällt, das ist ja enorm weit verbreitet. Dass wir in Deutschland inzwischen einen Rechtsterrorismus haben, der immer wieder neue Opfer sucht und findet, das haben die Verantwortlichen auch viel zu lange nicht sehen wollen, und wahrscheinlich gibt es auch jetzt immer noch genügend Leute, die die Morde von Hanau einem verwirrten Einzeltäter zurechnen und die wahre Gefahr links sehen, oder wenigstens paritätisch verteilt.
Das gleiche Problem des Nicht-Hinsehen-Wollens in einem ganz anderen Zusammenhang: Menschen gehen mit Beschwerden nicht zum Arzt, weil sie fürchten, dass es Krebs sein könnte. Sie möchten so lange wie möglich nichts davon wissen.

Die Gefahr dabei ist natürlich jedes Mal: je länger man die Augen vor einem Problem verschließt, desto schwieriger wird die Lösung. Wenn du das Problem ignorierst, dann kannst du dich nicht damit auseinandersetzen. Jesus war klar, was in Jerusalem auf ihn zukommen würde, deshalb konnte er sich vorbereiten, und am Ende hat er kurz vor seiner Gefangennahme noch einmal eine Zeit zum Beten im Garten Gethsemane eingeplant. Die Jünger waren auch da kein Beistand für ihn, sondern wollten immer noch die Gefahr ignorieren und sind deshalb in den Schlaf geflohen. Und als Jesus wirklich gefangen genommen und getötet wird, da sind sie unvorbereitet und laufen in Panik auseinander. Die ganze Zeit ist Jesus der Einzige, der einen klaren Blick für die Realität behält. Und er ist der Einzige, der sich vorbereitet hat auf das, was kommen wird.

Ein Geistesverwandter

Aber als er durch Jericho kommt, da entdeckt er sozusagen einen Geistesverwandten. Dieser blinde Bettler am Weg (aus dem Markusevangelium wissen wir, dass er Bartimäus heißt), der hat auch so einen klaren Blick auf die Realität: wenn ich jetzt nicht ganz laut schreie, dann verpasse ich meine letzte Chance, jemals im Leben wieder richtig sehen zu können! Und deshalb ignoriert er, was die Leute sagen und schreit, so laut er kann, nach Jesus. Und Jesus hört ihn. Jesus hört dieses klare Signal von Entschlossenheit und reagiert. Und anders als die allermeisten Geheilten geht der gesunde Bartimäus nicht einfach nach Hause, sondern er schließt sich Jesus an und zieht mit nach Jerusalem. Und auch das ist kein Zufall – Bartimäus ist eben einer, der klar sieht und entschlossen handelt. Und weil ihm klar ist, dass Jesus der Sohn Davids ist, der Messias, auf den sie schon so lange warten, deswegen ist ihm auch sofort klar: da will ich dabei sein! Das ist die Klarheit, die Jesus liebt.

Natürlich ist Jesus für alle Menschen gekommen, aber er sucht ganz besonders Menschen, die eins und eins zusammenzählen können und sich nicht dümmer machen, als sie sind, nur weil ihnen das Ergebnis nicht gefällt. Jesus schaut auf die Mühseligen und Beladenen, aber in seiner nächsten Umgebung treffen wir vor allem Menschen, die sich einen klaren Blick und ein klares Urteil bewahrt haben und dann auch danach handeln. Die Jünger sind eigentlich solche Leute, die Sachen geregelt kriegen. In ihrem früheren Leben waren sie Fischer, Steuereintreiber, Terroristen und ähnliches – also Unternehmerpersönlichkeiten, Leute, die kompetent sein müssen und sich keine Illusionen leisten können. Aber hier, wo es um ein kommendes Unheil geht, das man nicht vermeiden, sondern nur ertragen kann, da kommen auch sie nicht mehr mit. Da wissen sie auch nichts Besseres, als das Unheil zu ignorieren, so lange es geht.

Gefährliche Ignoranz

Immer, wenn Menschen keinen Handlungsspielraum sehen, dann neigen sie dazu, die Augen zu verschließen. Deswegen haben auch Menschen so lange den Klimawandel ignoriert – weil alle ahnten, dass es große Widerstände geben würde, wenn man da etwas ändern will. Und es ist genau so gekommen, wie es immer kommt: je länger man die Augen verschließt und sich künstlich dumm macht, um so weniger ist man vorbereitet, und um so schwieriger wird es.

30 Jahre lang haben die meisten Menschen die Augen verschlossen, und die Zeit, die uns noch bleibt, wird nicht ausreichen, um all die Katastrophen abzuwenden, die schon angekündigt sind. Sicher wird es zuerst die Menschen in armen Ländern treffen, die nicht reich genug sind, um sich zu schützen. Aber danach kommt es auch bei uns an, und es wird auch bei uns viele Tote geben. Die Einzelheiten wissen wir nicht, und es kommt natürlich im Detail immer anders, als man gedacht hat. Man kann nur mutmaßen, ob es am Ende Unwetter sein werden, die die meisten Zerstörungen anrichten, oder ob die Wirtschaft und die weltweiten Lieferketten zusammenbrechen werden, so dass der Hunger seine Opfer findet, ob es unkontrollierbare Seuchen gibt, oder ob es uns alles auf einmal trifft oder irgendetwas, was wir jetzt noch gar nicht auf dem Schirm haben.

Es ist klar, wir können uns das alles gar nicht vorstellen, weil wir es ja ganz anders kennen. Wir sind genau in der Lage der Jünger, die sich auch nicht vorstellen konnten, dass Jesus sterben würde. Alle Tricks seiner Feinde hatte er bis dahin abgewehrt, mit links sozusagen. Die hatten sich alle die Zähne an ihm ausgebissen, es war unvorstellbar, dass Jesus verlieren könnte. Genauso, wie es für uns alle heute unvorstellbar ist, dass wir hier in Mitteleuropa eines Tages wieder Hunger, Elend und massenhaftes Sterben erleben könnten. Aber ich fürchte, selbst ich werde noch den Anfang davon miterleben, und eine ganze Menge von uns werden noch viel mehr sehen müssen.

Entschlossen zugreifen

Erinnern wir uns an Jesus und die Jünger: nur wer vorbereitet ist, wer die Zeit genutzt hat, wird nicht auf dem falschen Fuß erwischt, wenn das Unheil kommt. Wer möglichst lange die Augen verschließt, der ist am Ende am schlechtesten dran. Wir können uns vielleicht nicht vorstellen, so wie Jesus mit klarem Blick auf unseren Tod zuzugehen, aber den Bartimäus, den können wir uns vielleicht doch als Vorbild nehmen. Bartimäus, der klar seine einzige Chance sieht, und dem es wichtiger ist, gesund zu werden, als den Leuten zu gefallen, die ihn zum Schweigen bringen wollen. So einer, bei dem der Dreischritt von Sehen, Urteilen und Handeln ohne großes Wenn und Aber einfach funktioniert. Ein Blinder, von dessen klarem Blick auf die Situation die anderen lernen könnten.

Also – lasst jedenfalls uns von ihm lernen. Lasst uns jedenfalls nicht die Augen verschließen vor der Lage, die auf uns zukommt. Was würde das für uns bedeuten, wenn wir auf eine Zeit mit viel Leid und wahrscheinlich auch vielen Toten zugehen? Müssen wir nicht ganz neu zu verstehen versuchen, wie man als Christ sich auf die Möglichkeit eines bösen Todes vorbereitet? Müssten wir nicht sehr deutlich dieses Jesuswort aus der Evangelienlesung vorhin in uns aufnehmen und es von vorn bis hinten und wieder zurück bedenken: »Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten.« ? Das ist, soweit ich weiß, das Jesuswort, das im Neuen Testament am meisten zitiert wird, sechs Mal, glaube ich. Dass alle ihr Leben um jeden Preis behalten wollen, auch auf Kosten anderer, dass der reiche Teil der Welt seine Art des Lebens nicht loslassen will, das hat uns in das Schlamassel gebracht, in dem wir jetzt stecken. Für uns ist dran, zu lernen, dass man sein Leben nur behält, wenn man den Sicherheitswahn verabschiedet und der Kraft der Auferstehung vertraut.

Sich rechtzeitig vorbereiten

Aber mindestens so wichtig, wie sich auf das Sterben vorzubereiten ist es, sich aufs Leben vorzubereiten, aufs Leben in einer bedrohten Welt, die vielleicht auch hier bei uns ganz anders sein wird als heute, und wo christliche Solidarität dringend gebraucht wird. Die Welt ist dringend angewiesen auf christliche Gemeinschaften, die zeigen, dass es im Ernstfall nicht notwendigerweise zu einem Krieg aller gegen alle kommen muss, sondern dass Liebe stärker ist als der Tod. Einer der stärksten Gründe, weshalb Menschen zu den frühen christlichen Gemeinden gestoßen sind, war, dass die sich in Zeiten der Not nicht im Stich gelassen haben. Sogar bei Seuchen, die deutlich tödlicher waren als der Corona-Virus, haben die Christen sich nicht allein gelassen, sondern haben die Kranken gepflegt und versorgt, und die heidnischen Nachbarn gleich mit. Und für die Heiden war es ein Wunder, dass die Christen so viel besser durch die Seuchen gekommen sind als alle anderen.

Sind wir auf so etwas vorbereitet? Sind wir darauf vorbereitet, dass Christentum eine Sache auf Leben und Tod sein kann? Ein paarmal haben wir ja hier in unserer Gemeinde schon ein klein wenig davon erlebt, aber vielleicht ist das eigentlich christlicher Normalfall. Die Welt braucht christliche Gemeinschaften, an denen man sehen kann, dass alles Geschaffene in Verbundenheit und Freundschaft miteinander leben soll. Das ist die beste Antwort auf all den Hass und die Mordgedanken, die jetzt dauernd wieder in unserem Land aufpoppen.

Sind wir darauf vorbereitet? Kann Gott damit rechnen, dass wir wenigstens eins und eins zusammenzählen und offene Augen behalten? Kann Gott damit rechnen, dass wir uns in unserer Angst von ihm trösten lassen, anstatt uns mit aller Gewalt an scheinbare Sicherheiten zu klammern?