Es ging nicht anders

Predigt am 18. Februar 2007 zu Lukas 18,31-34

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Jesus macht sich auf, um der entscheidenden Konfrontation entgegen zu gehen. Immer wieder stößt man bei Jesus auf den Gedanken: es muss sein. Schon die Propheten haben vorausgesehen, dass Gottes Beauftragter es schwer haben wird, und dann hat Jesus ja tatsächlich von Anfang an immer wieder Ärger gehabt, erst mit den Provinzpharisäern von Galiläa, später kamen sogar die Chef­theologen aus Jerusalem, aber immer gab es Kampf und Konfrontation. Und wenn er jetzt nach Jerusalem geht, ins regionale Macht­zentrum vorstößt, dann geht es um die endgültige Entscheidung in diesem Konflikt. Und er weiß, das dieser Zusammenstoß Gottes Wille ist, wie damals ganz am Anfang, nach seiner Taufe, als der Heilige Geist ihn in die Wüste geführt hatte, in die Auseinandersetzung mit Satan. Er weiß: es muss sein, jetzt ist es soweit. Man kann so etwas nicht endlos aufschieben. Man kann Kräfte sammeln, man kann lernen und üben, aber irgendwann ist der Augenblick gekommen, wo man den Stier bei den Hörnern packen muss. Es ist so weit – jetzt gehen wir!

So weit hätten das wohl auch die Jünger unterschrieben. Aber im Unterschied zu Jesus rechneten sie damit, dass er diesen Konflikt gewinnen würde. Vielleicht stellten sie sich vor, dass er an der Spitze einer großen Menschenmenge die Macht übernehmen würde. Er war ja schließlich jemand, der Menschenmengen um sich versammelte und großen Einfluss auf sie hatte.

Jesus dagegen wusste, dass er sterben würde. Er wusste, wie brutal Machthaber zuschlagen, wenn ihre Macht bedroht ist. Und er wollte ihnen nicht auf ihre Weise antworten, auf keinen Fall. Und er kündigte seinen Tod den Jüngern an. Merkwürdigerweise verstanden sie ihn nicht. Hat er sich so schlecht ausgedrückt? Er redete von der Auslieferung an die Römer, von Spott und Misshandlung, von Auspeitschen und Töten – eigentlich sind diese Worte klar genug. Auch wenn er von Auferstehung redete, dann mussten sie sich eigentlich etwas drunter vorstellen können, denn an die Auferstehung der Toten am Ende der Zeit glaubten damals die meisten.

Warum also verstanden sie es nicht? Weil sie es nicht verstehen wollten und wohl auch nicht konnten: sie mochten sich das nicht vorstellen, dass Jesus in einer Situation nicht siegreich bleiben würde. Das widersprach allem, was sie bisher mit ihm erlebt hatten. Und in gewissem Sinn sollten sie recht bekommen: Jesus ist siegreich geblieben, er ist auferstanden. Aber sie konnten sich nicht vorstellen, dass so ein Sieg durch den Tod hindurch geschieht. Und so prallten seine Worte an ihnen ab. Immer wieder sagt Jesus ihnen, dass er in Jerusalem sterben wird, und sie denken nur: o, Jerusalem, tolle Stadt, mit Jesus wird es bestimmt gut da!

Übrigens, ob Jesus wirklich wusste, wie das in Jerusalem genau gehen würde, da bin ich mir nicht sicher. Ich glaube, er hat sich einfach auf Gott verlassen, ohne alle Einzelheiten vorher zu kennen. So wie wir uns ja auch in schwieriger Lage, wenn wir nicht wissen, wie es im Einzelnen weitergehen wird, auf Gott verlassen sollen.

Als Jesus nach Jerusalem ging, da prallten zwei verschiedene Arten von Macht aufeinander: die Macht, die aus den Gewehrläufen kommt, und die Macht, die aus den Worten kommt. Die erste siegte kurzfristig, die zweite langfristig.

Lassen Sie uns das mal betrachten aus der Perspektive der Feinde Jesu, also aus dem Blickwinkel der Tempelpriester und der Römer! Die hatten eine ganze Menge Energie und Tricks aufwenden müssen, um Jesus am Ende ans Kreuz zu bringen. Da mussten erst intern viele überzeugt werden und es musste viel koordiniert werden, aber am Ende haben sie es geschafft. Jesus war beseitigt. Und mit dem Kopf der Bewegung, so waren sie überzeugt, war auch die ganze Jesusbewegung erledigt. Sie wussten: es hing alles von ihm ab. Und ich bin sicher, an diesem Passahfest knallten bei Hohenpriesters die Sektkorken.

Aber schauen wir uns die Situation drei Monate später an! Da war aus der kleinen Bewegung eine 20 mal so große Gruppe geworden, und jetzt war es nicht mehr ein Haufen Fanatiker aus der Provinz, sondern es waren viele Einwohner der Hauptstadt dabei. Die Jünger, aus der Sicht der Tempelpriester harmlose Mitläufer, zu unbedeutend, um sie wirklich zu verfolgen, die waren zu Anführern einer unaufhaltsamen Bewegung geworden. Die Kreuzigung war ein Schlag ins Wasser, nein, schlimmer, es musste den Feinden Jesu so vorkommen, als hätten sie versucht, das Feuer mit Benzin zu löschen.

Es gab mehrere weitere Anläufe, diese Bewegung auszulöschen, aber jeder führte nur dazu, dass sie sich weiter ausbreitete. Viele von uns kennen das Bild der ersten Gemeinde, wie Lukas es in der Apostelgeschichte schildert: Menschen, die voll Freude und Anbetung miteinander lebten, ihre Häuser, ihr Essen und ihre Güter miteinander teilten und eine enorm anziehende Gemeinschaft waren. So toll das gewesen sein muss, das war nicht das, wozu Jesus sie berufen hatte. Sie sollten ja nicht ein tolles Leben in Jerusalem führen, sondern sie sollten durch die ganze Welt ziehen und allen Menschen das Evangelium bringen. Wie kam es dazu, dass sie es schließlich doch taten? Es war die Verfolgung. Viele mussten aus Jerusalem fliehen, und wohin sie kamen, dahin brachten sie die Jesusgeschichte mit. Und so sorgte die Verfolgung dafür, dass auch in vielen anderen Städten kleine Zellen von Jesusleuten entstanden und wuchsen.

Verstehen Sie das Muster dahinter? Jedes Mal, wenn die Feinde versuchten, das Zentrum der Bewegung zu zerstören, bildeten sich neue Zentren. Die waren noch viel schwieriger zu zerstören, weil es mehr waren. Und wenn man es trotzdem versuchte – na, was denken Sie? Dann bildeten sich noch mehr neue Zentren. Nach drei Jahrhunderten umfasste die Jesusbewegung ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung des römischen Reiches.

Ich habe vor zwei Wochen erzählt vom enormem Wachstum der chinesischen Christenheit im 20 Jahrhundert. Natürlich auch wieder unter Verfolgung. Der Staat hat ihnen verboten, Kirchengebäude zu haben. Also konnten sie sich nur noch in ihren Häusern treffen, als Hausgemeinden. Der Staat hat religiöse Veranstaltungen mit mehr als 15 Personen verboten. Also mussten sich die Gemeinden teilen, wenn sie gewachsen waren. Der Staat hat Ausbildungsstätten für Gemeindeleiter verboten. Also mussten sie ihren eigenen Nachwuchs ausbilden, ganz nah an der Praxis und den Bedürfnissen der Gemeinden. Der Staat hat sozusagen alles getan, damit die chinesischen Christen in urchristliche Verhältnisse gerieten. Und das Ergebnis war enormes Wachstum.

Was ist da passiert? Auch da stoßen zwei unterschiedliche Arten von Macht aufeinander, genau das gleiche Muster wie in der Zeit Jesu: auf der einen Seite politisch-militärische Macht, effektiv, schlagkräftig und vor allem hoch zentralisiert. Und auf der anderen Seite eine Bewegung, die von einfachen Menschen getragen wird, ohne große Ausbildung, ohne viel Geld, ohne politischen Einfluss, ohne zentrale Leitung. Kein Gemeindeleiter hätte seiner Gemeinde so befehlen können, wie Pilatus das mit seinen Soldaten konnte.

Und trotzdem erweist sich diese Bewegung von armen Leuten immer wieder als unbesiegbar. Von Anfang an kostete jede Verfolgung Menschenleben, es war grausam und schrecklich, aber am Ende ging die Jesusbewegung gestärkt daraus hervor. Was war ihr Geheimnis? Einmal gerade diese dezentrale Struktur. Es gab keinen Kopf, den man ausschalten oder unter Kontrolle bringen konnte. Jesus konnte man kreuzigen, aber er sandte als Leiter der Christenheit den Heiligen Geist, und der war nicht mehr zu beseitigen. Und so konnte durch den Heiligen Geist jeder ein Apostel oder Gemeindeleiter werden, und so ist es auch immer wieder geschehen.

Noch wichtiger aber war, dass die Christenheit durch Gedanken angetrieben wurde. Alles, was Jesus gesagt hatte, wie er gelebt hatte, wie es sich angefühlt hatte, bei ihm zu sein, all das war die eigentliche Basis der ersten Christen. Und es wurde real in Gruppen, in denen man alltäglich erleben konnte, wie das Leben anders wurde in der Kraft des Heiligen Geistes: begeisternder. leichter, weniger Sorgen. Ein Ort, wo man mit Menschen auf eine tiefe Art und Weise verbunden ist, wie man das sonst kaum erleben kann. Aber sie hatten keine Gebäude, kein Geld, keinen gesellschaftlichen Status. Um es in einem heutigen Bild zu sagen: sie setzten nicht auf die Hardware, sondern auf die Software. Sie setzten auf Personen statt auf Organisationen. Ihre Armut entfaltete mehr Kraft als der Reichtum ihrer Feinde. Und jede Verfolgung machte sie stärker. Das römische Reich hat in seiner Geschichte mächtige Feinde besiegt, aber das waren Mächte von der gleichen Art – zentralisiert, organisiert, mehr oder weniger reich. Gegen diese neue Art von Macht kam es nicht an. Erst als Kaiser Konstantin die Kirche anerkannte und sich mit den Leitern arrangierte, da verlor die Christenheit ihre attraktivsten und dynamischsten Seiten. Eine Bewegung wie die Christenheit kann man nicht von außen besiegen, sondern höchstens von innen kontrollieren, wenn man die Kontrolle über die Gedanken übernimmt.

Die Jünger haben damals nicht verstanden, was Jesus meinte, wenn er sagte, dass sein Tod und all das andere geschehen »musste«. In diesem »Muss« steckt viel drin: einmal die ganz einfache Aussage, dass ein entscheidender Zusammenstoß zwischen Jesus und seinen Feinden unvermeidlich war. Dann, dass die alten Propheten das schon längst vorausgesagt hatten. Und außerdem war es Gottes Wille, warum auch immer. Aber schließlich »musste« Jesus auch deshalb sterben, damit die Jünger an seinem Leben und seinem Tod ablesen konnten, dass die Kraft Gottes in Menschen stärker war als jede menschliche Machtentfaltung. Sie sollten aber auch verstehen: es ist eine ganz andere Art von Macht, die nach anderen Regeln funktioniert. Sie lebt aus der Kraft der Auferstehung.

Immer wenn die Christen das vergessen haben, dann wurden sie ohnmächtig und schwach, dann wurden sie unglaubwürdig und zum Gegenstand des Spotts. Wenn sie sich auf die Hardware verlassen haben statt auf die Software, auf weltliche Macht, auf Geld, auf Gebäude, manchmal sogar auf Waffen, dann hatten sie vielleicht noch einen gewissen zivilisierenden Einfluss, aber der Glanz und die Freude gingen verloren.

Jesus wusste, dass seine Art zu leben nur zu haben war in Verbindung mit einer großen Verletzlichkeit und Schwäche: kurzfristig siegt fast immer die Macht, die aus den Gewehrläufen kommt. Deswegen musste Jesus leiden und sterben. Das gehörte zu seinem ganzen Leben dazu, es war der Schlussstein des Gebäudes, es war der schwerste Teil seiner Mission.

Ich glaube, das kann man nur dann wirklich verstehen, wenn man es miterlebt hat. Wenn man gesehen hat, wie einer es vormacht. Jesus musste mit seinem Tod auch eine Bahn brechen in unser Unverständnis und unsere Begriffsstutzigkeit. Was wir nie gesehen und erlebt haben, das können wir uns nicht vorstellen, genau wie die Jünger. Aber Gott hat dafür gesorgt, dass deren Unverständnis durchbrochen wurde, und also gibt es auch für uns Hoffnung.