Gott finden im Augenblick

Predigt am 10. September 2006 zu Lukas 10,38-42 und 1. Korinther 6,1-2

38 Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. 39 Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. 40 Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! 41 Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. 42 Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.

Ich fange mal an mit der Geschichte, die wir eben als Evangelium gehört haben, die Geschichte von Maria und Martha, den beiden Schwester, deren spannungsreiches Verhältnis ausgerechnet an dem Tag so richtig auf den Tisch kam, als Jesus bei ihnen zu Besuch war. Naja, man muss wohl sagen, dass das kein dummer Zufall war, sondern die Dinge haben sich zugespitzt, gerade weil Jesus zu Besuch war.

Maria und Martha sind Menschen, die beide unter Druck leben, so wie die meisten von uns auch. Wobei der Unterschied ist: Maria steht unter dem Druck ihrer älteren Schwester, und Martha setzt sich selbst unter Druck. Und als Jesus kommt, da schafft es Maria, diesen Druck abzuschütteln, und Martha schafft es nicht – zumindest nicht im ersten Anlauf.

Es geht in dieser Geschichte nicht darum, dass Ruhe generell besser wäre als Aktivität. Wenn es so wäre, dann müsste man sich fragen: warum sind Jesus und die Jünger in vielen Geschichten der Bibel immer so beschäftigt? Manchmal wird über sie gesagt, dass sie noch nicht mal Zeit zum Essen hatten, weil sie mit den ganzen Menschen beschäftigt waren. Man kann sich vorstellen, wie Johannes sich manchmal durchgedrängelt hat zu Jesus und ihm gesagt hat: hier, wir haben vom Imbiss ein Döner bekommen, beiss wenigstens zwischendurch mal rein! Und Jesus hat den Kopf geschüttelt und gesagt: nein, ich kann jetzt nicht essen, ich muss reden! Jesus war jemand, der selbst sehr beschäftigt war, und er hat seine Jünger oft mit Aufträgen losgeschickt, die sie genauso beschäftigt haben. Deswegen hat er nichts gegen Arbeit.

Aber Jesus war auch jemand, der wusste, was jeweils dran war. Er wusste, wann die Zeit zum Arbeiten war, und er wusste, wann er sich ganz allein zurückziehen musste, um von Neuem den Kontakt mit Gott zu suchen. Und er wusste, wann einfach nur Schlafen dran war. Jesus konnte die Zeit verstehen. So wie es im Alten Testament im Buch des Predigers diese Sätze gibt, wo er sagt: alles hat seine Zeit, Schweigen und Reden, Geborenwerden und Sterben, Streiten und Friedenschlieüen, alles hat seine Zeit, und es bringt nichts, wenn du mit Gewalt versuchst, gegen die Zeit zu leben.

Und in der Geschichte von Maria und Martha geht es darum, wie eine von den Schwestern versteht, welche Zeit jetzt ist, und die andere, mindestens vorerst, nicht.

Beide Schwestern haben Jesus in ihr Haus eingeladen, es sind enge Freunde von Jesus, sie wissen, was sie an ihm haben, und jetzt ist er da, und die Chance ist, dass diese Begegnung, auf die sie sich so lange gefreut haben, jetzt wirklich zustande kommt. Und trotzdem gelingt es nur Maria, diese Gelegenheit wahrzunehmen. Maria geht ins Wohnzimmer, um bei Jesus zu sitzen, Martha geht in die Falle. Martha geht in eine Falle namens »nachher«. Natürlich will sie mit Jesus sprechen, aber nicht jetzt, sondern nachher. Jetzt ist erstmal Essenvorbereiten dran. Aber das stimmt nicht. Genau andersrum: jetzt ist Jesus dran, und nachher die Küche.

Beide Frauen stehen unter Druck: Martha unter dem Druck der scheinbar einleuchtenden Alltagslogik: du musst dies, du musst das, und dann kommt auch noch das. Maria unter dem Druck ihrer Schwester: du musst dies, du musst das, und dann machst du auch noch das. Aber als die beiden sich Jesus ins Haus holen, da holen sie sich mit ihm auch die Alternative ins Haus, die ihre einleuchtende Alltagslogik aufbricht. Und die eine ergreift diese Alternative, und die andere nicht, weil sie versucht, da irgendwie einen Kompromiss zwischen zu finden, und dieser Kompromiss heißt »nachher«. Bei manchen von uns heißt dieser Kompromiss nicht »nachher«, sondern »morgen« oder »wenn mir danach ist« oder »wenn ich mal Zeit habe« oder »wenn dieser ganze Stress hinter mir liegt« oder »wenn ich in Rente bin«.

Und wir sagen damit Gott: »Du kommst wirklich immer im falschen Moment, jetzt nicht, warte bitte noch ein bisschen!«.

Aber dazu müssen wir jetzt zwei Verse hören, die Paulus geschrieben hat, im 2. Korintherbrief, Kapitel 6, und man kann die glatt hören als Kommentar zur Maria- und Martha-Geschichte:

6,1 Als Gottes Mitarbeiter rufe ich euch also auf: Verspielt nicht die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt! 2 Gott sagt (Zitat aus Jesaja 49,8): »Wenn die Zeit kommt, dass ich mich über euch erbarme, erhöre ich euch; wenn der Tag eurer Rettung da ist, helfe ich euch.« Und jetzt wieder Paulus: Gebt acht: Jetzt ist die Zeit der Gnade! Jetzt ist der Tag der Rettung!

Paulus sagt damit: Gott kommt nie im falschen Moment. Und wenn wir ihn noch ein bisschen warten lassen, dann verlieren wir ihn. Paulus erinnert hier an einen Vers des Propheten Jesaja. Jesaja hat einmal gesagt: es gibt eine Zeit der Gnade, da braucht man nur zu beten, und Gott hört und rettet und steht uns zur Seite. Und Paulus macht mit diesem alten Spruch das, was er eigentlich immer mit solchen Verheißungen macht – er bezieht ihn auf die Gegenwart und sagt: damit ist die Zeit Jesu gemeint! Jetzt ist diese Zeit der Gnade gekommen! Wir erleben sie!

Aber er verbindet das mit einer Warnung. Er sagt: nutzt diese Zeit der Gnade auch! Verspielt diese Gelegenheit nicht! Wörtlich übersetzt heißt das: empfangt diese Gnade nicht ins Leere! Wenn Gott seine Gnade sendet, dann soll was daraus werden, wir sollen nicht ein Fass ohne Boden sein, in das Gott eimerweise Gnade hineinschüttet, und es macht keinen Unterschied. Wir sollen aber diese Zeit nutzen, wir sollen mit dieser Gnade etwas anfangen, es soll etwas wachsen, es soll etwas zurückkommen zu Gott.

Und dann erzählt Paulus davon, wie er diese Zeit der Gnade nutzt, und man kriegt erstmal einen Schreck, weil er von lauter Drucksituationen erzählt: wie er verprügelt worden ist, wie er einer aufgehetzten Menge gegenübergestanden hat, er erinnert kurz an die Gefängnisse, in denen er gesessen hat, an seine Arbeit und seine Belastungen, die er genauso wie Jesus und die Jünger dauernd gehabt hat. Lauter Sachen, gegenüber denen man sich mit seinem privaten Stress ganz klein vorkommt. Aber es ist nicht gerade das, was man sich spontan als Beispiel für eine Zeit der Gnade vorstellen würde. Trotzdem nennt er das tatsächlich »Zeit der Gnade«, weil er gerade im größten Stress diese Gnade Gottes so deutlich erlebt hat: er hat das alles überlebt, ganz äußerlich, aber auch innerlich. Er hat sich nicht verbittern lassen, er ist geduldig geblieben, er ist freundlich geblieben, er hat sich die Freude nicht nehmen lassen, er hat immer noch Menschen etwas geben können. Und er hat trotz allem weitergemacht.

Paulus hat es geschafft, dass die Gnade Gottes in seinem Leben Gestalt annimmt, und er hat das gerade im Kontrast zu dem äußeren Druck besonders deutlich erlebt. Er hat erlebt, dass es immer mindestens zwei Möglichkeiten gibt, dass wir nicht gezwungen sind, ein böses Spiel mitzumachen oder seine wehrlosen Opfer zu sein. In allen Situationen war irgendwo die Gnade verborgen. Immer gab es Gottes Alternative. Und wann begegnen wir dieser Alternative? Jetzt. Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag der Rettung. Wann sollte er sein, wenn nicht heute?

Deswegen ist dieses Wort »nachher« so eine Falle. Weil es so tut, als wären nachher die Bedingungen besser. Aber wenn dieser Augenblick nicht Gottes Zeit ist, welcher ist es dann? Diese Sekunde, dieser Herzschlag, dieser Moment. Nicht, weil er so schön und glücklich ist, auch nicht, weil wir jetzt gerade in der Kirche sind, sondern weil das der einzige Moment ist, der uns wirklich gehört. Die Vergangenheit ist vorbei, daran können wir nichts mehr ändern. Auf die Zukunft können wir ein Leben lang warten. Aber leben können wir nur jetzt, in diesem Augenblick, und wenn der nicht die Zeit der Gnade ist, warum sollte dann jemals irgendein anderer Moment Zeit der Gnade sein? Wenn Gott nicht jetzt auf uns zukommt, wann sonst? Paulus sagt: wartet nicht auf bessere Zeiten, jetzt ist die Zeit der Gnade.

Dieser Augenblick ist Gottes einmaliges, unersetzliches Geschenk an uns. In diesem Augenblick ist Jesus gegenwörtig, in ihm will uns Gott begegnen, in diesem Augenblick ist er verborgen und wartet auf uns. Und es geht darum, ihn in den kleinsten und banalsten Augenblicken genauso zu entdecken wie in den groöen lebensentscheidenden Momenten, an die wir uns ein Leben lang erinnern. In Wirklichkeit sind wahrscheinlich die banalen Alltagsmomente die lebenslange Vorbereitung für die paar wirklich entscheidenden Augenblicke, die wir möglichst nicht verpatzen sollten.

Die Praxis des Glaubens besteht deshalb darin, in den groüen und in den kleinen Momenten die Alternative Gottes zu entdecken und sich nicht durch äußeren oder inneren Druck davon abbringen zu lassen. Es geht dabei manchmal darum, dass wir andere Dinge tun und uns unterbrechen lassen – das wäre für Martha richtig gewesen. Oft geht es aber auch nur darum, dass wir das, was wir sowieso tun, anders machen. Dass wir es mit Gott tun, mit der Kraft seiner Gnade, dass wir die Alternative entdecken, die Gott in diese Situation hineingelegt hat.

Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon mal aufgefallen ist, dass zwei unterschiedliche Menschen die gleiche Sache völlig anders tun können. Zwei Lehrer haben den gleichen Lehrplan, und beim einen stöhnen die Kinder, und beim andern sind sie begeistert. Zwei Busfahrer fahren die gleiche Strecke, und der eine verbreitet gute Laune und der andere schnauzt rum. In einem Krankenzimmer liegen zwei Patienten mit der gleichen Krankheit, und der eine beklagt sich nur, und der andere tröstet ihn.

Es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Das Problem ist, dass unsere Gewohnheiten meist in eine andere Richtung laufen. Wir merken das an diesen Formulierungen, wenn wir sagen »ich muss aber« oder »ich kann jetzt nicht«, und wir vermitteln uns und anderen immer den Eindruck, dass wir gar keine Wahl haben. Es gehört nicht zu unseren Gewohnheiten, in jeder Situation nach Gott und seinem Weg Ausschau zu halten. Es ist eine lebenslange Aufgabe, das zu lernen, bis es uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Und die normale Art, wie man das lernt, die geht so, dass man sich kleine Erinnerungshilfen schafft, sozusagen einen Knoten ins Taschentuch macht, so dass man immer wieder erinnert wird: ach ja, nach Gott Ausschau halten! Und auf die Weise werden die Abstände kürzer zwischen den Momenten, wo wir uns an Gott erinnern, und die Zeit, wo wir einfach ungebrochen auf die Alltagslogik hören, nimmt ab.

Die Menschen haben im Lauf der Zeit jede Menge von solchen Erinnerungshilfen erfunden. Im Alten Israel haben sie den Namen Gottes auf die Tore und die Pfeiler geschrieben, die Juden legen bis heute beim Gebet Kapseln mit geschriebenen Bibelversen an. Und es gibt die Gebetszeiten, ob regelmäßig oder nicht, um sich wieder neu in Gott zu verankern. Eine moderne Form davon sind Uhren, bei denen man sich für jede volle Stunde einen Erinnerungspiepton einstellt, um sich davon an Gott erinnern zu lassen, oder die ganze Palette von religiöser Kunst und religiösem Kitsch, um solche Erinnerungszeichen zu setzen.

Und da muss man sich raussuchen, was zu einem passt. Der eine kann mit einem Piepton besser umgehen, und der andere bindet sich ein Armband um die Hand und der Dritte stellt eine Kerze mit einem kitschigen Jesusbild auf. Wichtig ist nur, dass diese Erinnerungszeichen selbst nichts Heiliges sind, sie sind nichts Verdienstliches, man sammelt nicht Punkte, wenn man bestimmte Gebetszeiten einhält, sondern es sind schlicht Erinnerungszeichen, Hinweise, damit wir uns daran erinnern, dass Gott hier und jetzt in dieser Situation präsent ist mit seiner Gnade, und damit wir nach ihm Ausschau halten. Wenn dir dazu ein Rosenkranz hilft, dann ist das ok, und wenn du ein Typ bist, dem all solche äußerlichen Sachen auf die Nerven gehen und du es wirklich auch ohne schaffst, dann ist das genauso ok.

Es gibt aber eine Art von solchen Erinnerungszeichen, die anders ist als alle anderen, weil es lebendige Zeichen sind: nämlich Menschen. Und ich glaube, dass das die wichtigsten Zeichen sind. Wir sollen für uns gegenseitig solche Erinnerungszeichen sein, und ich glaube, da müssen wir noch das meiste lernen, dass wir das wirklich nutzen und das auch voreinander zugeben, dass wir uns gegenseitig als Erinnerung brauchen.

Für heute soll das genug sein. Nächste Woche mehr dazu.

Es gibt noch mehr solcher Anlässe, die uns wieder zurückholen zu dem, was wir schon längst wussten: dass dieser Augenblick Gott gehört, dass er die Zeit der Gnade ist, und dass wir diese Zeit restlos nutzen sollen.