Sehen lernen

Predigt am 19. August 2007 zu Lukas 7,36-50

36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und Jesus ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. 37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl 38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl.

39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. 40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? 43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.

44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.

49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? 50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Siehst du diese Frau? fragt Jesus seinen Gastgeber. Siehst du, was mit der los ist? Hast du Augen für das, was da gerade passiert? Direkt neben Simon ist Gott an der Arbeit, und Simon sieht nichts, gar nichts. Er hat keine Augen dafür, wie da jemand das ganze Elend seines Lebens zu Jesus bringt, und er hat keinen Zugang zu der wahnsinnigen Freude, von der sie erfüllt ist denn die Tränen dieser Frau sind mehr Tränen der Freude und des erlösten Schicksals als Trauer und Reue.

Überall da, wo Menschen mit ihrem Elend und ihrem Schmerz zu Jesus kommen, da gibt es früher oder später diesen Umschlag, wo sich etwas löst und etwas Neues anfängt, wo Menschen der Liebe Gottes begegnen, der Gnade, der unerwarteten Zuwendung. Und diese Erfahrung der Gnade ist es vor allem, die die Tränen fließen lässt. Wenn ein Herz so lange gehungert hat, nirgendwo zu Hause gewesen ist, nirgendwo jemanden gefunden hat, der freundlich und gnädig gewesen wäre, und dann macht es die Erfahrung der Gnade, und es ist wie Tau auf einem ausgetrockneten Land – wenn ein Mensch diese Zuwendung Gottes erlebt, dann fließen Tränen der Freude vermischt mit den ganzen alten ungeweinten Tränen, die zu lange nicht fließen durften.

Da ist ein Mensch, der so oft nutzlos, böse, sündig und schlecht genannt worden ist, dass er es schon beinahe selbst glaubt, ein Mensch, der immer wieder verraten und herumgestoßen worden ist, und wenn so ein Mensch auf Freundlichkeit, Erbarmen und Annahme stößt, das gehört zu den schönsten Dingen auf der Welt. Irgendwie muss das bei dieser Frau passiert sein, als sie auf Jesus gestoßen ist – mag sein, dass er sie geheilt hat oder etwas ähnliches, vielleicht hat sie ihn auch nur gehört, aber da hat sie etwas erlebt, was sie vorher nicht kannte. Da hat er in ihr ein Licht angezündet, das schon für immer ausgelöscht schien. Und jetzt kommt sie, um sich zu bedanken, und um dem nahe zu kommen, der das bei ihr getan hat.

Und sie traut sich da wirklich hinein, mitten in diese feindliche Umgebung, wo die Verachtung und Ablehnung mit Händen zu greifen ist, und sie macht sich mit ihren Gesten derart verletzlich. Dass man jemandem die Füße küsst, das war damals ein Zeichen der Verehrung, das gehörte zu den möglichen Verhaltensweisen; dass sie ihm die Füße salbt ebenfalls. Auch das mit den Tränen war noch grünen Bereich. Aber das Haar zu lösen, Jesus damit die Füße zu berühren, das war eine ganz erotisch aufgeladene Geste, das war nichts für die Öffentlichkeit, und erst recht nicht von einer, die das vielleicht schon bei vielen Männern getan hatte. Es tut beinahe weh, zu spüren, wie schutzlos sie sich damit macht. Jede Menge Worte, die wie Messerstiche wirken, sind jetzt möglich. Vielleicht wird man sie einfach rauswerfen. Aber sie wagt es, sie bringt Jesus ihr Bestes, und anscheinend fühlt sie sich bei ihm selbst in dieser Umgebung sicher, sie traut ihm blind zu, dass er richtig reagiert, dass er sie schützt vor all den Pfeilen, die jetzt auf sie abgeschossen werden könnten.

Sie hat Jesus richtig eingeschätzt. Sie gut zu behandeln, ihr die richtigen Worte zu sagen, dass ist Jesus viel wichtiger, als bei Simon Punkte zu machen.

Jesus hat viel Zeit mit Leuten vom Rand der Gesellschaft verbracht. Und das war keine Pflichtübung, sondern es sieht so aus, als sei er gerne mit ihnen zusammen gewesen. Was das für sie bedeutet hat, das sehen wir z.B. hier an dieser Frau. Wir können aber auch überlegen, was das für Jesus bedeutet hat. Sein Kontakt mit den Menschen am Rande war ein Gegengewicht zu den starken Erwartungen, denen er von den Vertretern der anständigen Leute ausgesetzt war. Natürlich war seine erster Bezugspunkt Gott, aber ich glaube, es waren auf der menschlichen Ebene auch seine Erfahrungen mit diesen verlorenen Leuten, die ihm geholfen haben, seinem Weg treu zu bleiben.

Denn natürlich gibt es einen starken Druck auf Jesus, sich den Regeln der so genannten anständigen Leute anzupassen. Gerade jetzt hat der Pharisäer Simon Jesus eingeladen, und man merkt deutlich: der will ihm auf den Zahn fühlen. Er will testen, ob Jesus noch auf Parteilinie ist. Das ist, wie wenn der Freund der Tochter zum ersten Mal auf Besuch ist, und die Familie mustert intensiv den möglichen künftigen Schwiegersohn. Wir wissen alle, wie unbehaglich und defensiv man sich in solchen Augenblicken fühlt. Aber dass genau jetzt diese Frau vorbeikommt, das gibt Jesus Sicherheit; da wird auch für ihn selbst ganz deutlich, worum es geht: Menschen aufzurichten, Menschen in ihr wahres Leben zu rufen, ihr Herz zu heilen.

Es gibt wenig, was uns so wirkungsvoll auf der richtigen Linie hält, wie wenn wir in Kontakt sind mit den Menschen, die auf irgendeine Weise arm sind und das nicht verbergen können. Das bringt in unser Leben Echtheit, Sinn für die Realität, einen angemessenen Maßstab. So wie heute Menschen zurückkommen aus Ländern, in denen Armut, Gewalt und Krankheit herrschen und sagen: jetzt merke ich erst, wie gut es uns geht, und wie läppisch doch viele von unseren Problemchen hier sind.

Es gibt eine Geschichte aus der frühen Christenheit, wo ein römischer Kaiser einem christlichen Bischof befahl, ihm die Kirchenschätze herauszugeben. Und der Bischof kam mit den ganzen Armen, die von der Gemeinde unterstützt wurden zum Kaiser und sagte: die hier sind der Schatz der Kirche! Die Armen helfen der Kirche, nahe bei Gott zu bleiben.

Natürlich sind alle Menschen irgendwo arm, aber einige können das besonders gut verbergen. Simon, Jesu Gastgeber, gehört dazu. Er selbst steht nicht zur Diskussion, so denkt er jedenfalls, sondern Jesus wird auf Rechtgläubigkeit überprüft. Deshalb bekommt Jesus auch nur einen kühlen Empfang; es war schon hart an der Grenze zur Unhöflichkeit, wenn man dem Gast kein Wasser für die Füße gab. Aber Simon wollte erst schauen, ob Jesus das Wasser auch verdient hat.

Und deshalb ist Simon blind für das, was da wirklich passiert, in seinem Haus, mit dieser Frau. Simon schaut nicht hin, was wirklich passiert. Er hat ein Raster aus Punkten, die abcheckt, und wenn die erfüllt sind, dann ist die Sache ok, und wenn sie nicht erfüllt sind, dann geht der Daumen nach unten. Es kommt nicht darauf an, was wirklich passiert zwischen den Menschen, Hauptsache, man kann die entsprechenden Punkte abhaken:

  • Es kommt nicht darauf an, ob Menschen sich mögen, solange sie mit ihren Gemeinheiten die Höflichkeit wahren.
  • Es kommt nicht darauf an, ob einer frei und glücklich ist, solange er nur alles hat, was man braucht, um glücklich zu sein.
  • Es kommt nicht darauf an, ob in einer Familie Misstrauen oder Druck herrschen, solange beim Geburtstag nur alle gekommen sind.
  • Es kommt nicht darauf an, ob in einer Gemeinde der Heilige Geist weht, solange nur die richtigen, rechtgläubigen Worte gebraucht werden.

Man könnte das fortsetzen, aber ich glaube, Sie verstehen, was ich meine: da lebt einer nicht mit dem Herzen, sondern mit einem System von Richtigkeiten. Er hört nicht auf sein Herz, sondern er überprüft, ob es alles mit dem System übereinstimmt.

Bei dieser Frau ist der Daumen natürlich sowieso schon lange unten, aber Jesus hat bei Simon durchaus noch eine Chance bekommen. Aber die ist jetzt natürlich verspielt. Diese Frau – es heißt nur, dass sie eine Sünderin ist, aber es spricht einiges dafür, dass sie wirklich eine Prostituierte war. Und stellen Sie sich vor, in einem Haus, in dem niemand auch nur das Wort Nutte in denn Mund genommen hätte, hat jetzt genau so eine einen Auftritt. Und Jesus tut nichts dagegen. Also schließt Simon messerscharf, dass der kein Prophet sein kann, denn ein Prophet muss uns doch bestätigen, dass unser System richtig ist, oder?

Aber die Aufgabe eines Propheten ist es gerade, dieses System zu zerstören. Und es soll nicht durch ein anderes System ersetzt werden, sondern durch eine neue Lebensweise. Wo Menschen sich ihr Urteil nicht mit einem System von Richtigkeiten bilden, sondern selbst hinschauen, sich immer wieder neu überraschen lassen. Offen bleiben für die Wirklichkeit, die Gott ihnen schickt, für Überraschungen, für Neues. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Alle Raster und Systeme sind Hilfsmittel, die man wie ein Werkzeug mal benutzen kann, aber dann legt man sie wieder weg und probiert ein anderes Werkzeug.

Es gibt zu wenige Menschen, die wirklich in Verbindung mit ihrer Seele leben, so dass sie auch die Dinge wahrnehmen können, die nicht in ihre Erfahrungen und ihr Raster hineinpassen. Zu viele Menschen haben sich an den Schein gewöhnt, an die Oberfläche, an das, was alle sagen. Und sie können es sich gar nicht erklären, dass ihr Herz dabei verhungert. Nein, so würden sie es nie sagen, aber man merkt ihnen so eine Unzufriedenheit an, so eine Enttäuschung über das Leben, so als ob sie sagen würden: so habe ich mir das alles nicht vorgestellt, ich hatte mir mehr Glück, mehr Glanz, mehr Freude vorgestellt, und ich verstehe nicht, warum es so anders gekommen ist, ich habe doch alles getan! Wieso hat es nicht funktioniert?

Aber quer zu allen Rastern geschieht Freude, geschieht Glück, holt Gott Menschen heraus aus gescheiterten Lebenswegen. Wer Augen hat zu sehen, der soll hinschauen. Mitten unter feindlich gesinnten, ahnungslosen Männern weint diese Frau vor lauter Freude, und sie erlaubt es sich, weil dieser eine es versteht und es erlaubt. Jesus erlaubt es uns, all die Systeme und Masken hinter uns zu lassen. Es wird ihn am Ende das Leben kosten, aber er macht uns diesen Raum frei. Lasst uns ihn nutzen!