Werdet wie Gott: barmherzig

Predigt am 31. Dezember 2020 (Silvester) zur Jahreslosung 2021, Lukas 6,36

Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!

Dieser Satz ist eine Fundamentalaussage über Gott: Der Vater im Himmel ist barmherzig. Gott erbarmt sich. Das ist die Voraussetzung für alles, was Jesus sagt: diese Welt ist von einem gütigen, freundlichen, gnädigen, mitleidenden, barmherzigen Gott ins Leben gerufen worden.

Eine Fundamentalaussage über Gott

Das kann man schon im Alten Testament lernen, und da hat Jesus es ja auch her, aber er bringt das hier und anderswo immer wieder konzentriert auf den Punkt: Gott ist barmherzig. Gott gibt und schenkt, auch den Undankbaren und Bösen. Gott verbindet sich so mit seinen Geschöpfen, dass er ihre Schmerzen und Ängste mit-leidet, er hält an ihnen fest, auch wenn sie sich von ihm abwenden, er liebt sie, auch wenn sie seine Liebe nicht erwidern. Und das macht ihn verletzlich. Liebe macht verwundbar; nur wer sich an nichts bindet, wer sich von allem und jedem innerlich zurückzieht, der ist auf der sicheren Seite. Aber auf der sicheren Seite ist es kalt und einsam.

Es gibt viele unterschiedliche Worte, die verschiedene Nuancen von Gottes Barmherzigkeit ausdrücken, aber es ist immer die gleiche Fundamentalaussage. Der 1. Johannesbrief, den wir vorhin in der Lesung gehört haben, drückt das aus, indem er sagt: Gott ist Liebe. Gott liebt nicht nur, er ist Liebe. Es ist nicht so, dass er neben vielem anderen, was er sonst noch tut, auch lieben würde. Sondern sein ganzes Wesen ist Liebe. Sein ganzes Herz ist barmherzig.

Jesus verkörpert Gottes Barmherzigkeit

Und Jesus verkündet das nicht nur, sondern er verkörpert Barmherzigkeit. Er ist Gottes Liebe in Aktion. Was Güte wirklich ist, das kann man an Jesus sehen:

Jesus heilt einen Dämonisierten
Jesus heilt einen Dämonisierten

  • Die Barmherzigkeit Gottes nimmt in Jesus Gestalt an, wenn er Kranke heilt, Traumatisierten Frieden schenkt und Frauen von den Spuren der Unterdrückung befreit.
  • Die Freundlichkeit Gottes nimmt in Jesus Gestalt an, wenn er mit einem korrupten Zöllner isst und einen kriminellen Terroristen in seine Gemeinschaft aufnimmt.
  • Der liebende Blick Gottes nimmt in Jesus Gestalt an, wenn er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf den verachteten fremden Samaritaner als Menschen voller Barmherzigkeit lenkt.
  • Die Gnade Gottes nimmt in Jesus Gestalt an, wenn er seine Jünger warnt, sie mögen sich hüten vor den Priestern, dem König und den Pharisäern.
  • Und die Verwundbarkeit des liebenden Gottes nimmt in Jesus Gestalt an, wenn er angegriffen, verleumdet und am Ende zu Tode gebracht wird. Hätte er weniger geliebt, dann wäre ihm das erspart geblieben.
Es geht nicht um Nettigkeit

Wir brauchen diese Rückbindung an die Praxis Jesu, weil wir Gottes Liebe sonst schnell verwechseln mit Nettigkeit, also mit unserer süßlichen, harmlosen, gefühlsbetonten Version von Liebe. Aber Jesus war nicht nett. Er hat die Händler und Wechsler mit der Peitsche aus dem Tempel gejagt. Er hat seine Jünger damit konfrontiert, dass sie sich um die besten Plätze in seinem Reich gestritten haben. Selbst die Krankenheilungen brachten ihn in Konflikte mit Aufpassern und Kontrollettis jeder Art. Niemand wird dafür gekreuzigt, dass er nett ist.

Man darf deshalb die Barmherzigkeit Gottes nicht mit Nettigkeit verwechseln. Gottes Liebe sucht nötigenfalls die Konfrontation: sie wendet sich gegen alle Unbarmherzigkeit, mit der Menschen Menschen behandeln, in Taten, Worten und Gedanken. Gott widersteht den Unbarmherzigen und lässt sich durch korrekte religiöse Formulierungen nicht täuschen. Aber auch diese konfrontative Energie hat ihre Quelle in Gottes Barmherzigkeit, in seinem Mitleiden mit den Geschöpfen, die er liebt. Gott kämpft gegen Unbarmherzigkeit in jeder Gestalt, nicht obwohl er barmherzig ist, sondern gerade weil er barmherzig ist.

Revolutionäre Barmherzigkeit

Die Antike, die Welt Jesu, war ja eine Welt, in der Liebe kein wichtiger Wert war. Israel war eine Ausnahme; die kannten Gottes Liebe eigentlich schon aus dem Alten Testament. Aber sie waren ein unterworfenes Land, und die Hartherzigkeit des Imperiums drang auf vielen Kanälen auch nach Israel vor. Einer dieser Wege war das römische Zollsystem; ein anderer war das Geld überhaupt, das auch in Israel immer mehr Bedeutung bekam. Und schon lange vorher waren die bäuerlichen Familienbetriebe vom Großgrundbesitz aufgefressen worden. Der Egoismus zerstörte den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Außerhalb Israels waren die Armen und Schwachen schon immer wenig wert. Sklaverei hielt man für etwas Natürliches. Frauen waren Menschen zweiter Klasse. Behinderte Kinder ließ man nach der Geburt oft sterben. Man hatte Spaß daran, wenn sich im Zirkus Menschen und Tiere gegenseitig abschlachteten. Denkmäler wurden für siegreiche Feldherren errichtet. Stärke wurde bewundert, Schwäche verachtet.

In dieser Welt war die Barmherzigkeit Gottes, die Jesus verkörperte, etwas Revolutionäres und Neues. Sie war das Erkennungszeichen der frühen christlichen Gemeinden. Die wuchsen, weil Menschen dort eine Atmosphäre der Güte und Freundlichkeit erlebten, die sie bis dahin nicht kannten. Sie machten dort erst Bekanntschaft mit Gottes Barmherzigkeit. Diese Kraft der Liebe hat die Welt und unser Denken im Laufe der Zeit grundlegend verändert und tut es bis heute. Solidarität steht zwar immer wieder unter Beschuss, aber fast niemand möchte heute noch kalt und herzlos erscheinen.

Gibt es eine Grundlage für Barmherzigkeit?

Aus dem Blick geraten ist dagegen das Fundament der Liebe. Barmherzig zu sein macht nur Sinn, wenn die Welt dafür eingerichtet ist. Wenn die Welt von Natur aus ein Schlachtfeld wäre, auf dem nur die Fittesten und Aggressivsten überleben, dann wäre Barmherzigkeit sinnlos und gefährlich. Es gibt genug Denker, die meinten, dass das Grundgesetz der Welt der Kampf aller gegen alle ist: Nation gegen Nation, Kultur gegen Kultur, Konzern gegen Konzern, Familie gegen Familie, der Einzelne gegen alle anderen.

Dagegen sagt Jesus: euer Vater, der Schöpfer der Welt, ist barmherzig. Und er hat die Welt zur Gemeinschaft geschaffen. Ihr seid füreinander keine Feinde. Im Netzwerk des Lebens haben alle einen sinnvollen Platz. Erst durch den Versucher kamen Misstrauen und Feindschaft in die Welt. Ihr aber sollt euch am barmherzigen Vater im Himmel orientieren! Vertraut ihm, dass Barmherzigkeit nicht sinnlos ist! Vertraut seiner Welt, dass sie trotz allem auf Freundlichkeit, Solidarität und Güte positiv reagiert! Weil euer Vater im Himmel barmherzig ist, deshalb sollt ihr es auch sein.

Sein wie Gott?

Ich weiß nicht, ob es schon jemandem aufgefallen ist: hier bewegt sich Jesus ganz nahe an dem, was schon die Schlange im Paradies gesagt hat: Esst vom Baum der Erkenntnis und werdet wie Gott! Ja, in der Tat, wir sollen so werden wie Gott, wir sollen ihm nacheifern, aber seinem Erbarmen. Seiner Liebe. Weil das der Kern seines Wesens ist.

Erkenntnis bringt Menschen schnell in Gefahr, kalt und hart zu werden. Erkenntnis bläht auf, sagt Paulus. Wir vergessen schnell, dass unsere Erkenntnis immer Stückwerk bleibt und nur Gott die Welt wirklich begreift. Er begreift sie, weil er liebt. Er mag seine Geschöpfe, und dann richtet es auch keinen Schaden an, dass er uns kennt bis in unser innerstes Wesen.

Deswegen warnt uns die Bibel vor dem Wunsch, Gott in seinem Wissen gleich sein zu wollen. Deshalb ist sogar die Bibel selbst so geschrieben, dass man sie nie endgültig und abschließend versteht. Wenn du nach einem Jahr dieselbe Stelle wieder liest, dann stößt du wieder auf etwas Neues, was du beim ersten Lesen noch nicht gesehen hast. Das hält uns demütig und gleichzeitig neugierig.

Aber in seinem Erbarmen, da dürfen wir Gott so energisch nacheifern, wie wir nur wollen. Da dürfen wir gern nach Vollkommenheit streben. Und in dem Maß, wie wir in der Barmherzigkeit wachsen, wird uns dann wohl auch Erkenntnis geschenkt werden. Je mehr wir das Leiden der Geschöpfe unser Herz erreichen lassen, um so mehr werden wir dann auch lernen, die Welt mit Gottes Augen zu sehen und zu erkennen.