Jesu Regierungserklärung (Das Reich Gottes I)

Predigt am 3. August 2003 zu Lukas 4,14-21

14 Erfüllt mit der Kraft des Heiligen Geistes kehrte Jesus nach Galiläa zurück. Die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend. 15 Er lehrte in den Synagogen, und alle sprachen mit höchster Achtung von ihm.
16 So kam Jesus auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war. Am Sabbat ging er wie immer in die Synagoge. Er stand auf, um aus den Heiligen Schriften vorzulesen, 17 und der Synagogendiener reichte ihm die Buchrolle mit den Worten des Propheten Jesaja. Jesus rollte sie auf und wählte die Stelle aus, an der es heißt: 18 »Der Geist des Herrn hat von mir Besitz ergriffen, weil der Herr mich gesalbt und bevollmächtigt hat. Er hat mich gesandt, den Armen gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen zu verkünden, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen werden. Den Mißhandelten soll ich die Freiheit bringen, 19 und das Jahr ausrufen, in dem der Herr sich seinem Volk gnädig zuwendet.«
20 Jesus rollte das Buch wieder zusammen, gab es dem Synagogendiener zurück und setzte sich. Alle in der Synagoge blickten gespannt auf ihn. 21 Er begann und sagte: »Heute, da ihr dieses Prophetenwort aus meinem Mund hört, ist es unter euch in Erfüllung gegangen.«

Das ist so etwas wie die erste Programmrede, die Jesus hält. Er stellt sich in seiner Heimatstadt vor und beschreibt, was sein Auftrag ist. Und er greift dazu zurück auf eine Hoffnung, die schon vor langer Zeit beim Propheten Jesaja zu hören war: Gute Nachricht für die Armen und Gefangenen, begründete Hoffnung für die Blinden und die Gequälten, und ein Gnadenjahr Gottes.

Jesus lebte mit und in seiner Bibel, unserem Alten Testament. Dort hat er seine Berufung gefunden. Und nun ist das Alte Testament etwas ganz Besonderes. weil das kein Buch mit Göttergeschichten und Mythen ist, wie viele andere Religionen sie haben; stattdessen findet man dort die Geschichte des Volkes Israel hier auf der Erde. Es ist aber auch kein Geschichtsbuch, wie wir es kennen, weil da nicht einfach nur menschliche Geschichte erzählt wird, sondern eine Geschichte, in die sich Gott dauernd einmischt, und zwar zu Gunsten genau der Armen und Gefangenen und Unterdrückten, von denen Jesus in Nazareth redet. Der Höhepunkt ist die Befreiung der hebräischen Sklaven aus Ägypten, das ist das Zentralereignis des Alten Testaments, was die Juden bis heute mit dem Passafest feiern.

Aber ein Gott, der sich so zentral mit dem Wohlergehen dieses kleinen Volks aus befreiten Sklaven verbindet, der wird sehr angreifbar. Denn gerade dieses Volk haben die Stürme der Geschichte schrecklich zugerichtet. Immer wieder Kriege und – nicht nur, aber nicht selten – Niederlagen. Immer wieder fragen seine Leute ihren Gott: Warum hilfst du uns denn nicht? Warum lässt du das zu, Gott? Und die Propheten, z.B. Jesaja, haben die Hoffnung aufrechterhalten: Ja, Gott wird es tun, er wird euch befreien von Unterdrückung und Unglück.

Die letzten drei Jahrhunderte vor Jesus waren ganz besonders schlimm. Fast immer war Israel von fremden Reichen unterworfen: die Griechen, die Ägypter, die Syrer und zum Schluss die Römer. Alle kamen sie und holten aus dem Land heraus, was sie konnten. Sie legten Plantagen an und machten aus selbständigen Bauern Tagelöhner.

Aber vor allem nahmen sie dem Volk die Möglichkeit, nach seiner eigenen politischen Ordnung zu leben. Auch die Gesellschaftsordnung war ja in Israel durch Gott geprägt. Z.B erinnert Jesus, wenn er vom Gnadenjahr spricht, das er bringt, an das alttestamentliche Erlassjahr. Das ist eine Bestimmung aus dem Gesetz, dass alle 50 Jahre die Schulden erlassen werden sollen und jeder, dem sein Land gepfändet worden ist, es wiederbekommt. Alle 50 Jahre wurden die inzwischen entstandenen Ungleichheiten durchgestrichen, und jeder bekam die Chance, unbelastet wieder neu anzufangen.

Aber das passierte nicht mehr. Stattdessen drang immer stärker die griechische Kultur und die griechische Sprache nach Israel ein, die Oberschicht arbeitete mit den Besatzungsmächten zusammen, Könige wie Herodes tyrannisierten ihr Volk, und durch das Zollsystem wurde den Menschen ihr Geld geraubt. Immer kleiner wurde ihr Spielraum, immer ohnmächtiger wurden sie.

Es gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, wenn einem die Kontrolle über das eigene Leben geraubt wird. Menschen können auch mit vergleichsweise wenig Geld glücklich leben, Menschen können sich auch in schwierigen Lagen zurechtfinden, aber wenn ihnen der Spielraum genommen wird, für ihr eigenes Leben Entscheidungen zu treffen, das ist wirklich schlimm. Davon kann man regelrecht krank werden.

Deswegen sind wir alle so ungern im Krankenhaus oder im Heim, und noch viel weniger gern in der Kaserne oder gar im Gefängnis, weil man da selbst so wenig entscheiden kann, weil man sich da ohnmächtig fühlt und wenig Spielraum hat, den man selbst gestalten kann.

Forscher haben mal untersucht, was geschieht, wenn man in einem Seniorenheim, in dem bis dahin alles vorgegeben war und die Bewohner alles vorgesetzt bekamen, ein paar kleine Spielräume schafft. Die Senioren durften sich z.B. das Mittagessen aussuchen und bekamen nicht mehr automatisch das Einheitsessen vorgesetzt. Solche kleinen Änderungen, nichts Großes. Und was war das Ergebnis? Die Sterblichkeit halbierte sich. Die alten Leute bekamen wieder Freude am Leben, wurden aktiver und gesünder. So wichtig ist das sogar für unsere Gesundheit, dass wir nicht das Gefühl haben, wir könnten an unserem Leben gar nichts ändern.

Können Sie sich vorstellen, was das dann bedeutet, wenn einem ganzen Volk der Gestaltungsspielraum genommen wird? Das kommt richtig auf den Hund, die Menschen werden mutlos und krank, und sie werden tatsächlich auch schlechter. Die Probleme lasten so auf ihnen, dass sie sich irgendwie Entlastung schaffen wollen, auch auf ganz kaputten Wegen. Sie öffnen sich der Zerstörung, sie dröhnen sich zu mit Alkohol und anderen Drogen, sie suchen sich billige Vergnügungen, sie werden aggressiv, verhaltensgestört und psychisch krank.

Deswegen gab es in Israel damals diese ganze Schicht der sogenannten Sünder, in denen sich das Elend des ganzen Volkes am deutlichsten spiegelte, die Prostituierten und die Leute, die krumme Geschäfte machten, und auch wenn es damals noch keine richtigen Drogen gab, haben viele wohl mehr Wein getrunken, als ihnen gut tat. Und dann die von Dämonen Besessenen, in denen die Zerstörung schon bis in der Kern der Seele hinein vorgedrungen war.

Jahr um Jahr wurden die Probleme schlimmer. Und wo war Gott? Er hatte doch versprochen, Israel zu helfen! Er wollte ihnen doch ein gutes Leben in ihrem Land schenken! Er hatte ihnen durch die Propheten immer wieder Wege gezeigt. Diese Hoffnung bewahrte das Volk vor dem endgültigen Absturz. Sie malten sich aus, wie es sein würde, wenn Gott am Ende sein Reich auf der Erde aufrichtet, die Bösen bestraft und sein Volk rettet. Aber Gott war stumm. Seit Jahrhunderten gab es keine Propheten mehr. Kein Weg war in Sicht, der die Menschen wirklich überzeugt hätte.

Mitten in diesem elenden und heruntergekommenen Volk steht Jesus auf, liest die alte Verheißung Jesajas vor, wo den Armen und Unterdrückten Hilfe versprochen wird, und sagt: jetzt ist es soweit. Jetzt ist die Hilfe da.

Und er meint damit: jetzt bin ich da. Auf mir ruht der Heilige Geist. Ich habe das erlebt, wie er auf mich gekommen ist, und ich komme jetzt in seiner Kraft, um die Wunden zu heilen und die Ohnmächtigen aufzurichten, ich bringe denen, die keinen Spielraum haben, Freiheit, und mit mir beginnt das Gnadenjahr, in dem die Schulden erlassen werden und jeder wieder neu anfangen kann.

In den anderen Evangelien ist das noch kürzer überliefert. Da ist seine Kernbotschaft: »Jetzt ist es soweit: Das Reich Gottes ist nahe!« (Markus 1,15). Lukas hat es ausführlich mit Hinweis auf das Alte Testament wiedergegeben, vielleicht, weil er für Heiden schreibt, die diese Vorgeschichte nicht so gut kennen.

Bis dahin hatten die Menschen ihre Hoffnung in der Zukunft gesucht: wenn irgendwann mal das Reich Gottes anbricht, wenn Gott am Ende der Zeiten Gericht halten wird, wenn wir erst mal die Römer aus dem Land getrieben haben, wenn wir irgendwann mal alle das Gesetz halten werden … dann wird sich das Blatt wenden. Jesus sagt dagegen: nicht bis dahin warten! Heute ist es soweit. Heute ist diese Verheißung eingetroffen. Die Gegenwart ist voller Hoffnung! Kehrt um und glaubt an dieses Evangelium! Geht diesen neuen Weg, den ich euch bringe!

Mit Jesus ist die Kraft Gottes gekommen, die unter uns den neuen Weg schafft. Jesus bahnt diesen Weg, damit wir alle ihm nachfolgen können. Er nennt das: das Reich Gottes oder das Reich der Himmel. Endlich ist der Himmel mit seiner Kraft auf die Erde gekommen, weil Menschen anders nicht geholfen werden kann. Gott lässt sein Volk und seine Welt nicht im Stich. Er startet eine Invasion, um uns zu befreien aus der Macht des Bösen, die die Welt im Griff hat.

Aber dieses Reich, das Jesus bringt, ist kein Reich wie das Römische Reich. Jesus verwendet viel Zeit darauf, den Menschen den Unterschied zu erklären. Viele dachten ja: wenn wir nur militärisch stärker wären und die Römer vertreiben könnten, dann ist alles in Ordnung. Jesus bringt dagegen ein Reich, das auch unter widrigen äußeren Bedingungen bestehen kann. Es kann entstehen unter zweien oder dreien, die in seinem Namen beieinander sind. Es kann in einer Gefängniszelle sein.

Die Geschichte der ersten Gemeinde, die wir vorhin als Epistel gehört haben, zeigt das ganz deutlich: die Römer sind noch im Land, der Hohe Rat ist an der Macht, politisch hat sich nichts geändert, aber da gibt es immer mehr Menschen, die davon überhaupt nicht beeindruckt sind, sondern ein Leben leben, das deutlich von der Handschrift Gottes geprägt ist. Und das bedeutet eine Freude und Intensität, die auch ein normales Leben in einem freien Land wie dem unseren weit in den Schatten stellt. Es ist noch nicht der Himmel, aber es ist ein so deutlicher Vorgeschmack des Himmels, dass Menschen alles geben, um dabei zu sein. Und sie sagen: wenn das hier schon so toll ist, wie wird es dann erst im Himmel sein! Da gewinnen die Menschen plötzlich wieder eine Stärke und einen Entscheidungsspielraum zurück, da herrscht so viel Freude, da kommt so viel wieder in Ordnung, das ist einfach begeisternd, dabei zu sein.

Das Reich Gottes ist so etwas wie ein Kraftfeld, unter dessen Einfluss man sich stellt, und dann ist die Aufmerksamkeit ganz anders verteilt als vorher. Stellen Sie sich vor, hier würde plötzlich mit Krach ein Fenster zerspringen und ein irritierter Rabe hereinfliegen. Der dreht ein paar Runden und lässt sich dann auf dem Altar nieder. Was würde passieren? Würden Sie einfach weiter der Predigt zuhören, als ob nichts gewesen wäre? Natürlich nicht, wir alle würden höchst gespannt gucken, was der jetzt macht. Der wäre dann auch der Mittelpunkt eines Kraftfeldes, das auf uns alle massiven Einfluss hat.

So funktioniert auch das Reich Gottes, das Jesus bringt: Gott baut ein Kraftfeld auf, das unsere Aufmerksamkeit auf uns zieht und uns beeinflusst. Ein Kraftfeld, das unser Leben neu sortiert. Und zwar so stark, dass andere Einflüsse dagegen keine Chance mehr haben. Jedenfalls wenn es gut geht. Aber das hängt stark von uns ab.

Deswegen folgt bei Jesus auf die Ankündigung: Das Reich Gottes ist nahe! sofort die Aufforderung: kehrt um und glaubt dem Evangelium! Wir alle können uns entscheiden, für welches Kraftfeld wir uns öffnen, und wofür nicht. Unter welchem Einfluss unser Leben stehen soll und unter welchem nicht. Manchmal kostet das Kraft, aber es geht. Um das noch mal mit dem Raben deutlich zu machen: zuerst, wenn das Glas zersplittert, dann werden wir alle dahin gucken. Das geht nicht anders. Aber wenn er am Altar sitzt, dann ist es unsere Entscheidung, wie wichtig er uns ist.

So war Jesus auch nicht zu ignorieren, jeder wusste von ihm und seinen Wundern, aber ob man dann hinging, um ihn predigen zu hören, oder ob man sich gar ihm anschloss, das war die Entscheidung, die jeder fällen musste.

Aber genau dazu hat Jesus aufgerufen: dass wir dazu Ja sagen, uns bewusst in das Kraftfeld des Reiches Gottes hineinzustellen, damit unser Leben davon gestaltet wird und nicht von den Mächten der Welt. Dass wir uns öffnen für den Heiligen Geist, der diese Kraft Gottes ist, und den Jesus uns bringt.

Das ist jedem möglich, auch wenn er äußerlich gesehen unter ganz schwierigen Bedingungen lebt. Das Reich Gottes gibt uns sogar Möglichkeiten, solche Bedingungen von innen heraus zu verändern. Gott will nicht ein zusätzlicher Stein im Mosaik unseres Lebens sein, sondern er will die ganzen Steine in seinem Kraftfeld neu arrangieren, damit es das Bild ergibt, was er schon immer für uns geplant hat.