Jesus in der Pubertät (Die Kindheit Jesu III)

Predigt am 12. Januar 2003 zu Lukas 2,41-52

41 Die Eltern von Jesus gingen jedes Jahr zum Passafest nach Jerusalem. 42 Als Jesus zwölf Jahre alt war, nahmen sie ihn zum erstenmal mit. 43 Nach den Festtagen machten die Eltern sich wieder auf den Heimweg, während der junge Jesus in Jerusalem blieb. Seine Eltern wussten aber nichts davon. 44 Sie dachten, er sei irgendwo unter den Pilgern. Sie wanderten den ganzen Tag und suchten ihn dann abends unter ihren Verwandten und Bekannten.

45 Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie am folgenden Tag nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. 46 Endlich am dritten Tag entdeckten sie ihn im Tempel. Er saß mitten unter den Gesetzeslehrern, hörte ihnen zu und diskutierte mit ihnen. 47 Alle, die dabei waren, staunten über sein Verständnis und seine Antworten.

48 Seine Eltern waren ganz außer sich, als sie ihn hier fanden. Die Mutter sagte zu ihm: »Kind, warum machst du uns solchen Kummer? Dein Vater und ich haben dich überall gesucht und große Angst um dich ausgestanden.« 49 Jesus antwortete: »Warum habt ihr mich denn gesucht? Habt ihr nicht gewusst, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?« 50 Aber sie verstanden nicht, was er damit meinte.

51 Jesus kehrte mit seinen Eltern nach Nazaret zurück und gehorchte ihnen willig. Seine Mutter aber bewahrte das alles in ihrem Herzen. 52 Jesus nahm weiter zu an Jahren wie an Verständnis, und Gott und die Menschen hatten ihre Freude an ihm.

Diese Geschichte wird in den Bibeln traditionell überschrieben mit dem Titel: »Der 12jährige Jesus im Tempel«. Um das Ganze griffiger zu machen, könnte man es natürlich auch überschreiben »Jesus in der Pubertät«. Denn hier geht es um die Problemlage, die Eltern und Kinder bei uns heute erleben und erleiden unter dem Titel »Pubertät«.

Welches Problem ist das? Das Ende der Kindheit und der Beginn des Alters, in dem Menschen auf eigenen Füßen stehen. Das ist ja eine menschliche Grundvoraussetzung, dass wir zuerst schwach und abhängig von unseren Eltern sind, aber wir wachsen, und eines Tages sind wir genauso stark oder stärker als unsere Eltern.

Im Vergleich zu früheren Zeiten ist diese Spanne des Übergangs zum vollen Erwachsenenstatus heute viel länger und dauert oft bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein. Erst wenn einer mit 30 noch unverheiratet ist, muss er die Rathaustreppe fegen als sanfte Mahnung: nun sieh mal zu, dass du in die Pötte kommst! Deswegen ist die Überschrift »Jesus in der Pubertät« eigentlich eher irreführend, weil das Selbständigwerden damals anders ablief als heute. Auch bei uns war ja früher die Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsensein kürzer und viel von diesen Übergängen hat sich bei der Konfirmation gebündelt, weil die mit der Schulentlassung zusammenfiel, und die meisten Konfirmierten traten gleich anschließend ins Erwerbsleben ein. Ältere Leute können das noch erzählen, wie sie vor den Osterferien aus der Schule entlassen wurden, dann kam die Konfirmation und am Montag drauf begannen sie mit der Lehre. Sie waren dann noch nicht endgültig erwachsen, aber doch schon ziemlich nahe dran am sogenannten Ernst des Lebens.

So ähnlich muss man sich das auch in der Zeit Jesu vorstellen. Mit 13 wurden die Jungen als vollgültige Mitglieder der Synagoge aufgenommen und begannen ernsthaft mit der Berufsarbeit. Und die Mädchen kamen dann langsam ins heiratsfähige Alter. Wenn die Eltern Jesu ihn also mit 12 zum erstenmal nach Jerusalem zum Passafest mitnahmen, dann war das die Vorbereitung auf seinen künftigen Status als anerkanntes Vollmitglied der Synagogengemeinschaft. Und es hatte natürlich auch ganz praktisch damit zu tun, dass Jesus jetzt kräftig genug war für den weiten Fußweg nach Jerusalem.

Wenn wir sie in diesem weiteren Sinne verstehen, dann können wir die Geschichte vom 12jährigen Jesus auch lesen als eine Pubertätsgeschichte, oder sagen wir: als eine Momentaufnahme vom Selbständigwerden Jesu. Und ich finde es faszinierend, dass die Bibel hier so eben nebenbei mal in 11 Versen sagt, wie eine geglückte Pubertät aussieht. Was hören wir da?

1. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Das finde ich bis heute faszinierend, wie Kinder trotz aller Abgrenzung sich am Ende doch meistens in eine sehr ähnliche Richtung entwickeln wie ihre Eltern. Natürlich werden sie anders als ihre Eltern, und insbesondere die Eltern selber haben oft das Gefühl: Wo hat er das nur her? Das kann sie von uns nicht haben! Aber aus einigem Abstand kann man oft gut sehen, wie die Kinder sich aus dem Verhaltensfundus ihrer Eltern bedienen, auch daraus ihre Grundeinstellungen übernehmen, aber im Rahmen dieser Vorgaben die Schwerpunkte dann ganz eigenständig setzen.

Genau das sehen wir auch bei Jesus. Seine Eltern pilgern jedes Jahr zum Passafest nach Jerusalem. D.h., die Familie Jesu war eine fromme Familie, die die Vorschriften des Alten Testaments befolgte. Wir wissen auch, dass Jesus am Sabbat regelmäßig in die Synagoge ging. Diese Gewohnheit wird er nicht erst mit dreißig angenommen haben, sondern die hat er von zu Hause mitgebracht. Und dass er dann im Tempel Fragen stellt, die die Lehrer aufhorchen lassen, zeigt, dass er weiß, wie man über die Bibel diskutiert. Er kennt solche Diskussionen von zu Hause.

Aber wo unterschiedet sich Jesus von seinen Eltern? Antwort: in der Leidenschaft und Konsequenz, mit der er sich in diese Diskussionen vertieft. Bei seinen Eltern ist klar: wir gehen nach Jerusalem, wie das Gesetz es will, diese Tage stellen wir Gott zur Verfügung als eine Unterbrechung, in der er zu uns sprechen und uns segnen kann, aber danach geht das Leben normal weiter. Jesus dagegen sagt: das möchte ich immer, nicht nur ein paar Tage im Jahr. Ich möchte jeden Tag dieser Frage nachgehen: wie ist Gott? was ist sein Wille?

D.h., Jesus wächst auf in der frommen Tradition seiner Familie, aber bei ihm wird daraus eine leidenschaftliche Liebe zu Gott. So haben Maria und Josef das nicht gekannt, bei aller gesunden Frömmigkeit, die anscheinend in ihrer Familie lebendig war. Da mussten sie zum ersten Mal lernen, was sie noch öfters spüren sollten: Wenn du deine Kinder zu Gott bringst, hast du sie nicht mehr in der Hand. Er macht dann vielleicht Dinge mit ihnen, mit denen du vorher nicht gerechnet hast. Maria hat lange gebraucht, bis sie dazu Ja sagen konnte.

2. Kinder brauchen geistige und geistliche Nahrung

Das Gottesvolk Israel hatte den anderen Völkern etwas ganz Wichtiges voraus: es gab dort eine Kultur des engagierten Nachdenkens über Gott und des konzentrierten Hörens auf die Bibel. Da gab es geistliche Substanz, die dieses Volk auch für Fremde attraktiv machte. Im Tempel wurde diese Substanz gepflegt und in den Synagogen des Landes wurde sie weiter verteilt an das ganze Volk. Jesus ist aufgewachsen in dieser Kultur des ernsthaften Nachdenkens über Gottes Willen. Das war nicht das Anliegen einiger frommer Spinner, sondern das war das Ideal eines ganzen Volkes. Das ist auch der Grund, warum das kleine jüdische Volk immer wieder Denker hervorgebracht hat, die mit ihren Gedanken die ganze Welt bewegen. Man braucht nur an Albert Einstein denken. Ganz weltlich gesehen liegt das an der breiten jüdischen Tradition des gründlichen Nachdenkens und der Freude an der geistigen Auseinandersetzung, die nicht das Privileg von Eliten bleibt, sondern ein ganzes Volk geprägt hat.

Das ist einfach ein Unterschied, ob die ganz normalen Leute sich Gedanken darüber machen, wann der Messias kommt, und wie es dann sein wird, oder ob sie bewegt werden von der Frage, mit wem der Kanzler fremdgeht. Es ist eine Frage des Niveaus. Und es ist so wichtig, dass unsere Kinder Zugang haben zu geistiger Auseinandersetzung mit Niveau. Gerade in der Pubertät brauchen sie diesen Zugang zu guten Inhalten, die das Nachdenken lohnen. Und ob sie dazu Lust haben oder nicht, das liegt vor allem an den Erwachsenen, ob die ihnen das vormachen. Wo können Kinder und Jugendliche das miterleben: spannende, leidenschaftliche Diskussionen unter Erwachsenen über die Grundfragen von Gott und der Welt – und nicht nur Klatsch und Tratsch?

Ich weiß, dass einzelne Eltern da nur begrenzt Einfluss haben, aber ich will doch darauf hinweisen, wie nötig unsere Kinder das brauchen. Ein Ergebnis der Pisa-Studie war ja, dass es um das Leseverständnis unter den Schülern schlecht bestellt ist, d.h. um die Fähigkeit, komplizierte Texte zu verstehen und zu verarbeiten. So etwas können aber die Schulen auch nicht schaffen, wenn das ganze Land auf Bildzeitungsniveau denkt (ich bitte um Entschuldigung für diese grobe Vereinfachung – Sie sehen, das hat auch schon auf mich abgefärbt!).

Auch wenn Jesus sicher ein ganz besonderes Kind war: er konnte das nur sein, weil er in seinem Volk eine Kultur des Nachdenkens vorfand, die ihn ermutigte und stützte. Und als der erwachsene Jesus dann predigte, da waren Zuhörer da, die seinen nicht einfachen Ausführungen folgen konnten, weil sie auch in dieser Kultur groß geworden waren. Und die Juden haben auch unter Not und Verfolgung immer daran festgehalten. Das ist beeindruckend.

Allerdings muss man auch sagen, dass in genau dem Tempel, in dem Jesus Bibelauslegung studiert hat, später der Beschluss fiel, ihn zu töten. Ich weiß nicht, ob das daran lag, dass Jesus am Ende zu radikale Schlussfolgerungen aus dem gezogen hat, was er da lernte, oder ob sich im Tempel im Lauf der Jahre das Klima geändert hat. Vielleicht waren ja auch für die Lehre andere Leute zuständig als für die Politik. Frömmigkeit und Gelehrsamkeit schützen eben auch nicht automatisch vor Irrwegen.

Auf jeden Fall hat Jesus sich nicht gescheut, in dem Tempel sein geistiges Rüstzeug zu finden, aus dem er später die Händler und Wechsler vertreiben würde. In der Überlieferung seines Volkes hat er die Waffen gefunden, mit denen er später die Bedrückung bekämpfte.

3. Auch Jesus und seine Eltern erlebten die Probleme der Pubertät.

Neulich ist durch alle möglichen Zeitungen gegangen, dass Hirnforscher jetzt auch die Pubertät erforscht haben. Sie wissen, das sind diese Leute, die Menschen in eine Röhre schieben und mit so einem großen Magnetsensor dem Gehirn beim Denken zuschauen. Die Versuchspersonen müssen z.B. Rechenaufgaben lösen, und die Forscher sehen dann, welche Regionen des Hirns dabei in Betrieb sind.

Mit der Methode haben sie jetzt auch Menschen in der Pubertät untersucht. Und sie haben herausgefunden, dass das eine Zeit ist, in der die Hirnregionen, die das zwischenmenschliche Verhalten steuern, völlig umgebaut werden. Hätte man sich auch so denken können, weil es in diesem Alter ja eben um gravierende Änderungen im zwischenmenschlichen Bereich geht. Aber erstaunlich ist schon, dass die Forscher festgestellt haben, dass der ganze Bereich, der unser Verhalten und seine Folgen überdenkt und steuert, zeitweise wegen Umbau beinahe völlig außer Betrieb ist. Das bedeutet: man hat es in dieser Zeit tatsächlich schwer, die Folgen seines Handelns zu übersehen.

Genau das beobachten wir hier auch an Jesus: der denkt nicht daran, was mit seinen Eltern los ist, wenn sie merken, dass er verlorengegangen ist. Er glaubt, was mir völlig klar ist, muss meinen Eltern natürlich ebenso klar sein. Eltern können doch Gedanken lesen, oder? Aber stellen Sie sich vor, Ihr Kind wäre in einer Großstadt verlorengegangen und Sie hätten schon drei Tage nach ihm gesucht und keine Spur von ihm gefunden. Und keine Polizei, an die man sich wenden kann, dafür war die damals nicht zuständig. Und zufällig finden Sie Ihr Kind nach drei Tagen, wie es ganz harmlos in der Uni sitzt und mit den Professoren diskutiert.

Also, ich finde, es ist echt bewundernswürdig, wie Maria trotzdem die Nerven behält, ihr Kind nicht anschreit oder schlägt, sondern – pädagogisch völlig richtig – ihm einfach schildert, was das für die beiden Eltern bedeutet hat. Wir haben drei Tage lang Angst um dich gehabt, wir dachten schon, du wärest gekidnapt worden, in die Sklaverei verkauft oder so. Es ist wichtig, dass Jugendliche durch solche ehrlichen Rückmeldungen lernen, was sie bei anderen auslösen. Genau das ist ihnen nämlich schlicht nicht klar. Und dafür sind die Erwachsenen da, ihnen freundlich zu helfen, sich in der Realität zu orientieren.

Und Jesus antwortet wie jeder Jugendliche, der viel zu spät von der Party zurückkommt: ach, war euch das nicht klar, dass es mir hier so gut gefallen hat und dass ich deswegen einfach hier bleiben musste? Jesus ist noch nicht so weit, dass er die Folgen seines Handelns richtig einschätzen kann. Jesus tut etwas ganz tolles, über das sich Maria und Josef wahrscheinlich später wirklich gefreut haben – wer von uns würde sich nicht freuen, wenn sein Kind so hingebungsvoll über Gott nachdenkt? Aber er ist noch ganz bei sich selbst und ist noch nicht so weit, dass er abschätzen kann, was das für andere bedeutet. Das gehört zur Pubertät dazu, selbst bei Jesus, und in diesem Alter ist das keine Sünde.

4. Der Vater im Himmel ermöglicht es Kindern, tatsächlich selbständig zu werden

Jesus setzt sich wie alle Menschen in diesem Alter von seinen Eltern ab und geht buchstäblich eigene Wege. Das ist richtig und gesund, auch wenn es für Eltern mit Bauchschmerzen und Luftanhalten verbunden ist. Die Frage ist nur: auf welche Wege gerät ein Kind dann? Ganz oft wird die Abhängigkeit von den Eltern ersetzt durch eine neue Abhängigkeit von der Gruppe der Gleichaltrigen. Oder durch die Orientierung an anderen Erwachsenen. Das kann gut und hilfreich sein, es können aber auch Leute sein, die die jungen Menschen auf schiefe Wege bringen, Drogenabhängigkeit oder Kriminalität. Und davor fürchten sich Eltern zu Recht.

Hier an Jesus können wir sehen, was die eigentliche Aufgabe der Pubertät ist: hinter den Erwachsenen, besonders den Eltern, den Vater im Himmel zu entdecken. Solange wir Kinder sind, können wir noch nicht richtig zwischen Gott und unseren Eltern unterscheiden. Unsere Eltern vertreten da die Stelle Gottes an uns. Und deshalb haben es Menschen mit schwierigen Eltern auch oft schwer mit Gott, weil sie sich Gott so vorstellen wie ihre Eltern waren. Aber wenn wir erwachsen werden, dann sollen wir aufhören, uns in Unterwerfung oder Rebellion auf Menschen zu beziehen und stattdessen lernen, im Kern unserer Person im Gegenüber zu Gott selbst zu leben.

Deshalb sagt Jesus am Ende: »Habt ihr nicht gewusst, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?« Ja, genau, das ist die Aufgabe dieser Lebensphase. Wohl den Kindern, die dafür von zu Hause aus gutes Rüstzeug mitbekommen haben. Und weil Jesus diese Aufgabe tatsächlich gelungen ist, deshalb »nahm [er] weiter zu an Jahren wie an Verständnis, und Gott und die Menschen hatten ihre Freude an ihm.«