Mit brennender Geduld

Predigt am 28. Dezember 2008 zu Lukas 2,25-38

25  Damals lebte in Jerusalem ein Mann namens Simeon; er war rechtschaffen, richtete sich nach Gottes Willen und wartete auf die Hilfe für Israel. Der Heilige Geist ruhte auf ihm, 26  und durch den Heiligen Geist war ihm auch gezeigt worden, dass er nicht sterben werde, bevor er den vom Herrn gesandten Messias gesehen habe. 27  Vom Geist geleitet, war er an jenem Tag in den Tempel gekommen. Als nun Jesu Eltern das Kind hereinbrachten, um mit ihm zu tun, was nach dem Gesetz üblich war, 28  nahm Simeon das Kind in seine Arme, pries Gott und sagte: 29  »Herr, nun kann dein Diener in Frieden sterben, denn du hast deine Zusage erfüllt. 30  Mit eigenen Augen habe ich das Heil gesehen, 31  das du für alle Völker bereitet hast – 32  ein Licht, das die Nationen erleuchtet, und der Ruhm deines Volkes Israel.« 33  Jesu Vater und Mutter waren erstaunt, als sie Simeon so über ihr Kind reden hörten. 34  Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: »Er ist dazu bestimmt, dass viele in Israel an ihm zu Fall kommen und viele durch ihn aufgerichtet werden. Er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird – 35  so sehr, dass auch dir ein Schwert durch die Seele dringen wird. Aber dadurch wird bei vielen an den Tag kommen, was für Gedanken in ihren Herzen sind.«
36  ´In Jerusalem` lebte damals auch eine Prophetin namens Hanna, eine Tochter Penuels aus dem Stamm Ascher. Sie war schon sehr alt. Nach siebenjähriger Ehe war ihr Mann gestorben; 37  sie war Witwe geblieben und war nun vierundachtzig Jahre alt. Sie verbrachte ihre ganze Zeit im Tempel und diente Gott Tag und Nacht mit Fasten und Beten. 38  Auch sie trat jetzt zu Joseph und Maria. Voller Dank pries sie Gott, und zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten, sprach sie über dieses Kind.

Gott fügt die Puzzleteile zusammen, die er von langer Hand vorbereitet hat. Maria und Josef, die Volkszählung des Augustus, die Hirten und die Magier aus dem Osten: lauter Menschen, die er lange vorbereitet hat, schon durch Generationen hindurch. Hier kommen zwei weitere Menschen hinzu, an denen ganz besonders deutlich wird, wie lang der Weg ist, den Gott mit Menschen geht, bis er mit ihnen ans Ziel kommt.

Simeon und Hanna haben mitten in der Hauptstadt Jerusalem nie aufgehört, auf den Messias Israels zu warten. Beide sind sie vermutlich alt, Hanna 84, und Simeon wahrscheinlich auch nicht viel jünger. Man muss sich mal vorstellen, was die beiden schon erlebt haben: als Hanna geboren wurde, regierte der jüdische König Alexander Jannäus, ein grausamer Mann, der sein Reich mit harter Hand zusammenhielt und seine Gegner zu Hunderten kreuzigen ließ. Als junges Mädchen lebte Hanna unter der Regierung der Witwe dieses Königs, und das war eine Zeit des Friedens, in der das Land gedieh. Aber ihre Söhne wiederum kämpften um die Thron, und in diese Kämpfe griffen die Römer unter Pompeius ein. Er eroberte Jerusalem und betrat sogar das Allerheiligste im Tempel. Als Hanna heiratete, war das Land eine römische Provinz.

Dann kam der römische Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Cäsar; in dieser Zeit starb Hannas Mann, man könnte spekulieren: vielleicht sogar als Soldat bei den Kämpfen in Ägypten. Damals richtete Cäsar das Amt eines Prokurators, also eines römischen Statthalters von Judäa ein. Kurz darauf wurde er ermordet und wieder gab es einen römischen Bürgerkrieg rund ums Mittelmeer. In dieser Zeit fielen aus dem Osten die Parther in Jerusalem ein. Sie schnitten dem Hohen Priester die Ohren ab, so dass er als Verstümmelter nicht mehr Priester sein konnte und setzten einen anderen Hohenpriester und König ein. Wieder ein paar Jahre später kam Herodes mit römischer Hilfe nach Jerusalem, richtete den neuen Hohenpriester hin und wurde ein König von Roms Gnaden. Auch Herodes herrschte mit Terror, sogar seine Frau und einige seiner Söhne ließ er töten, aber gleichzeitig ließ er zu Propagandazwecken den Tempel gewaltig ausbauen.

All das haben Hanna und Simeon miterlebt: so viel menschlichen Wirrwarr, so viel Machtkalkül rund um den Tempel Gottes, und trotzdem haben sie durch all die Jahre hindurch beharrlich auf Gottes Hilfe gehofft. Mitten in dem Tempel, der jetzt glanzvoll ausgebaut wurde, neben der Burg Antonia, in der die Soldaten des jeweiligen Herrschers lagen, lebte unauffällig Hanna und betete Jahr für Jahr zu dem einen Gott Israels. Ob es wohl einen Punkt gegeben hat, an dem Simeon und Hanna sich endgültig von der Hoffnung verabschiedet haben, durch den Wechsel der Machthaber könne sich irgendwann doch noch einmal das Schicksal Israels zum Guten wenden? Und es muss noch andere gegeben haben, die wie diese beiden auf die Erlösung Jerusalems warteten, eine mehr oder weniger große Gruppe von Menschen, die sich kannten und sich gegenseitig bestärkten, auf das Handeln Gottes zu warten.

Und auch sie sind nun ein Teil im großen Mosaik Gottes. Denn Maria und Josef brauchten anscheinend noch einmal eine Ermutigung und Bestätigung für ihre Aufgabe, für Jesus zu sorgen und seine Eltern zu sein. Schon zweimal hatten sie gehört, was mit ihrem Sohn geschehen sollte; hier hören sie es ein drittes Mal. Simeon nimmt Jesus auf den Arm, was sonst eigentlich Aufgabe des Priesters gewesen wäre, und begrüßt ihn so im Volk Gottes. Und durch ihn wird Jesus vom Heiligen Geist begrüßt. Der regt sich schon, jetzt, wo die Zeit des Messias herankommt. Der Heilige Geist hat Simeon versprochen, dass er noch mit eigenen Augen den Messias Gottes sehen werde. Der Heilige Geist schickt Simeon zum Tempel, der Heilige Geist zeigt ihm das Kind.

Stellen Sie sich mal Maria und Josef vor: die kommen in den Tempel, und auf einmal stürzt jemand auf sie zu, schnappt sich ihr Kind und spricht eine gewaltige Prophezeiung. Und anschließend kommt noch die alte Hanna, etwas weniger besitzergreifend, aber nicht weniger überzeugt. Das muss wirklich ganz schön eindrucksvoll gewesen sein. Maria hat das bestimmt nicht vergessen, und wahrscheinlich hat sie es dann viel später Lukas erzählt, und der hat es für uns aufgeschrieben.

In Simeon und Hanna konzentrieren sich die besten Traditionen Israels. Da hat es einen kleine Gruppe von Menschen gegeben, die durch alle Wirren der Zeit ein Gespür dafür behalten haben, was von Gott ist und was nicht. Und die in allem Auf und Ab der Zeit lieber diese geringe, unscheinbare Hoffnung festgehalten haben als sich von irgendwo anders Trost zu holen. Menschen, die über Jahrzehnte gewartet haben. Und deren Gespür für das, was von Gott kommt, in dieser Zeit immer klarer geworden ist, bis Simeon dann in großer Sicherheit auf ein wildfremdes Paar mit einem Säugling zugehen und sagen konnte: der ist es!

Wir können uns hier vor Augen führen, wie wichtig in der Geschichte Gottes mit den Menschen immer wieder das Warten gewesen ist. Alle großen Menschen Gottes mussten durch Zeiten hindurch, in denen scheinbar nichts passierte, wo sie nichts machen konnten und einfach warten mussten. Zeiten, in denen sie zwar meistens schon eine Zusage Gottes hatten, aber wo eigentlich nichts passierte, das darauf hindeutete, dass diese Zusage eingelöst würde. Mose und David waren jahrelang in der Wüste, Abraham wartete Jahrzehnte auf den verheißenen Sohn, und das ganze Volk Israel hatte eigentlich zu Jesu Zeiten schon seit über 500 Jahren gewartet, seit der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, dass es wieder eine klare Richtung bekam. Jesus selbst hat sich dreißig Jahre lang im Verborgenen auf seine drei Jahre öffentlichen Wirkens vorbereitet, und von den ersten 15 Jahren, in denen der Apostel Paulus schon Christ war, wissen wir auch so gut wie nichts.

Aber wenn es eine Weltmeisterschaft im Warten gäbe, dann wären Simeon und Hanna die Anwärter auf den Titel. Jahr für Jahr durch all die wechselnden äußeren Umstände hindurch haben sie daran festgehalten: Herr, du hast es mir versprochen, dass ich deinen Messias noch sehen werde. Ja, ich gebe mich mit keinem Ersatz zufrieden, ja, ich hänge meine Hoffnung an nichts anderes, ja, auch wenn ich merke, wie ich alt werde und nur noch wenig Zeit habe, ich vertraue dir. Ja, du machst es richtig.

Lassen Sie uns offen fragen: worauf warten alte Menschen normalerweise? Nach meinem Eindruck sind es zumeist erst die Enkel und dann die Urenkel, um die die Gedanken alter Menschen kreisen. Auf die richtet sich die Sehnsucht und die Aufmerksamkeit. Da geht es um die Frage: wird es mit der Familie weitergehen?

Hier haben wir zwei alte Menschen, deren Gedanken um die Frage kreisen: wann wird es endlich anders werden? Wann wird es endlich nicht mehr so weitergehen? Simeon wartet auf den »Trost Israels«. Das erinnert an die Stelle in Jesaja 40, wo es heißt: »Tröstet mein Volk! Sagt Jerusalem, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat!« Das bezieht sich auf das danieder liegende Jerusalem nach der Zerstörung durch die Babylonier. Aber 500 Jahre später wartet ein Simeon immer noch darauf, dass die Ohnmacht und Wirkungslosigkeit des Gottesvolkes zu Ende geht.

Schauen Sie, in den großen Zeiten, wenn ein David das Reich Israel eint oder wenn Jesus Wunder über Wunder tut, dann liegen die Dinge einigermaßen klar. Aber was ist in den Zeiten, in denen scheinbar nur Nebel ist, wo noch nicht einmal klar ist, worin denn die Hilfe bestehen wird? Ich glaube, dass wir heute eher in solchen Zeiten leben. In solchen Zeiten warten zu können und nicht vorschnell »hier« zu rufen, ist eine große Tat. Und trotz der langen Zeit immer noch ausgerichtet zu sein auf Gottes Handeln.

Prüfen Sie sich mal: was bewegt Sie mehr? Die Enkel und Urenkel oder die Hoffnung, dass Gottes Volk aus der Ohnmacht und Ratlosigkeit herausfindet? Worum drehen sich Ihre Gedanken und Ihre Worte?

Bei Simeon und Hanna merkt man, wie wenig ihre Leidenschaft durch all die Jahre des Wartens müde geworden ist. Als der Tag kommt, an dem sich ihre Hoffnung erfüllt, der Tag, an dem alles anders wird, da sind sie sofort voll da.

Das gibt es, dass ein Mensch sich gegen allen Augenschein Jahr für Jahr beharrlich auf das kommende Handeln Gottes ausrichtet. In so einer langen Zeit kristallisiert sich heraus, was für einen Menschen wirklich wichtig ist, woran ihm wirklich liegt.

Wir erleben Warten als eine ärgerliche Unterbrechung beim Arzt oder an der Kasse im Supermarkt, oder als eine quälende lange Zeit der Ungewissheit, wo wir nichts tun können. Aber aus Gottes Sicht sind das die Zeiten, wo sich die wirklich wichtigen Dinge vorbereiten. Und die eigentliche Frage ist: sind wir bereit, diese Wartezeiten innerlich anzunehmen und echten Gewinn daraus zu ziehen?

Wenn wir Warten nur als eine störende Zeit wahrnehmen, die wir am liebsten irgendwie totschlagen, die wir mit Hintergrundmusik oder Fernsehen oder Essen oder Aktivität zukleistern, dann bringen wir uns um den Gewinn des Wartens. In der Zeit des Wartens fallen die Täuschungen von uns ab und wir werden nach und nach an die Stelle geführt, an der Gott uns erreichen kann. Wir lernen Geduld. Wir lernen das Echte und die Fassade zu unterscheiden. Wir werden mit uns selbst konfrontiert, mit unseren Wünschen nach Ehre, Besitz und Macht, und erst wenn wir das alles hinter uns gelassen haben, kommen wir langsam in Bereiche, in denen Gott mit uns etwas anfangen kann.

Das geht aber nur, wenn wir bereit sind, Gott die Regie zu überlassen und das Warten anzunehmen und zu begrüßen und es Gott zu widmen. Sonst werden wir uns am Ende mit dem Zweit- oder Drittbesten zufrieden geben und nicht das bekommen, was Gott für uns bereithält.

Ich vermute, erst das Warten und die vielen Enttäuschungen vorher haben Simeon und Hanna so demütig gemacht, dass sie bereit waren, auch in einem neugeborenen Kind den Messias Israels zu entdecken. Zehn Jahre vorher hätten sie das wahrscheinlich noch für einen schlechten Scherz gehalten, hätten gedacht: »das kann der Heilige Geist doch wohl nicht gemeint haben«. Aber jetzt waren sie so weit, dass sie sich auch das sagen ließen. Jetzt waren sie so weit, dass sie Maria die Worte sagen konnten, die ihr dreißig Jahre später geholfen haben, sich nach und nach ihrem so ungewöhnlichen Sohn anzunähern. Ein ganzes Leben haben sie gewartet, aber jetzt sind sie genau da, wo Gott sie braucht.