Heilige Hektik

Predigt am 25. Dezember 2002 (Weihnachten I) zu Lukas 2,15-20

15 Als die Engel in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: »Kommt, wir gehen nach Betlehem und sehen uns an, was da geschehen ist, was Gott uns bekanntgemacht hat!« 16 Sie liefen hin, kamen zum Stall und fanden Maria und Josef und bei ihnen das Kind in der Futterkrippe. 17 Als sie es sahen, berichteten sie, was ihnen der Engel von diesem Kind gesagt hatte. 18 Und alle, die dabei waren, staunten über das, was ihnen die Hirten erzählten. 19 Maria aber bewahrte all das Gehörte in ihrem Herzen und dachte immer wieder darüber nach. 20 Die Hirten kehrten zu ihren Herden zurück und priesen Gott und dankten ihm für das, was sie gehört und gesehen hatten. Es war alles genauso gewesen, wie der Engel es ihnen verkündet hatte.

Ich sage ja öfter mal was darüber, dass wir viel zu hektisch leben, und dass es Weihnachten nicht gut bekommt, wenn wir am Heiligen Abend völlig fertig sind von den letzten Geschenkeinkäufen und der Vorbereitung des Festes.

Aber heute muss ich sagen: es gibt eine Geschwindigkeit, die zu Weihnachten passt, und davon haben wir gerade gehört: das ist das Tempo der Hirten. Sie kamen eilig nach Bethlehem, und es war richtig, dass sie dieses Tempo vorlegten. Wenn Gott kommt, ist Eile geboten. Es wäre unpassend, wen sich die Hirten nach dem Engelsbesuch erst mal ans Feuer gesetzt hätten, um die Sache in Ruhe zu besprechen und den Morgen abzuwarten. Was sie gehört haben, das ist wichtig genug, um sofort loszugehen. Sie können es nicht abwarten, das angekündigte Kind mit eigenen Augen zu sehen, und das ist der Sache durchaus angemessen.

Der Engel hatte ihnen Freude angekündigt. Aber Freude und Gewissheit gibt es für sie nur, wenn sie sich auf den Weg machen. Gott überrascht und überwältigt uns am Anfang ganz gerne, aber dann sorgt er immer dafür, dass wir als ganze Menschen dabei sind. Und das heißt als tätige Menschen. Der Mensch ist ein Wesen, dass von dem geprägt wird, was es tut. Und deswegen könen wir bei nichts richtig dabei sein, wenn wir nicht aktiv und tätig sind. Das gilt in allen Bereichen: was wir uns nicht aktiv zu eigen machen, das bleibt uns auf die Dauer fremd. Keine Freundschaft kann bestehen, wenn nur einer sie aktiv betreibt. Keine Organisation oder Firma oder Institution kann auf die Dauer funktionieren, wenn die Leute da nur noch äußerlich ihre Zeit absitzen und innerlich gekündigt haben. Und auch die Beziehung zu Gott funktioniert nur, wenn sie auch von uns ausgeht. Deshalb übernimmt Gott nur begrenzt auch Verantwortung für unseren Anteil. Wie gesagt, am Anfang schubst er uns ein bisschen und überwältigt uns auch manchmal, so wie die Hirten überwältigt dastanden, als der Himmel aufging und die Engel kamen.

Aber auch so ein überwältigendes Erlebnis muss man sich dann persönlich aneignen, man muss den Empfang sozusagen mit dem eigenen Verhalten quittieren. Und die Art wie die Hirten das tun, ist eben: sie laufen los.

Frage: Warum müssen sie das eigentlich tun? Weil Gott nicht überall in gleicher Weise zu finden ist. Dass 1 und 1 zwei sind, das kann man überall und zu jeder Zeit mit den eigenen 10 Fingern herausfinden. Aber Gott ist kein Prinzip und kein Naturgesetz, das man überall gleich leicht oder gleich schwer herausfindet. Gott begegnet uns, und er begegnet uns da, wo er will, nicht überall.

Also: wenn damals in Bethlehem jemand Gott finden wollte, dann musste er zu Jesus gehen, in den Stall, wo er in der Krippe lag. Da und nirgendwo anders war Gott. Die Engel waren nur Hinweise und Wegweiser. Aber auch die waren nicht überall, sondern an einer bestimmten Stelle.

Und genauso gibt es bis heute solche Orte, an denen sich Hinweise auf Gott finden lassen. Haben Sie schon mal ein Buch gelesen und gemerkt: hier steht etwas Wahres über Gott, und es hilft mir, ein Gespür für ihn zu bekommen? Oder mit einem Menschen geredet und gemerkt, dass der aus Kenntnis über Gott spricht?

Und als die Hirten so einen Hinweis bekommen, da tun sie das einzig Richtige: sie gehen sofort los, um ihn zu überprüfen. Es nützt ja nichts, wenn sie überzeugt sind, dass der Engel bestimmt Recht hatte. Was nützt ihnen die Botschaft, dass in Bethlehem ein besonderes Kind zur Welt gekommen ist und dass es in einer Futterkrippe untergebracht ist? Sie müssen hin und es überprüfen, sie müssen sich überzeugen, dass das wirklich eine realitätshaltige Sache ist und nicht eine Einbildung. Sie hätten ja auch einer Gruppenhysterie verfallen sein können, oder noch einfacher: es hätte ja auch falsch sein können, was sie da gehört haben.

Man tut Gott Ehre an, wenn man seine Botschaften auf ihren Realitätgehalt überprüft. Genau dazu bekommen wir sie. Und sie brauchen diese Überprüfung nicht zu scheuen. Gott will genau das, dass wir seine Worte nehmen und sie dem Realitätstest unterziehen. Gott will nicht, dass wir sagen: o, wie beeindruckend! o, was für tolle Worte! und es dabei belassen. Sondern er will, dass wir seine Botschaften mit der Realität in Verbindung bringen. Deswegen steht am Ende der Hirtengeschichte dieser Satz: Es war alles genauso gewesen, wie der Engel es ihnen verkündet hatte. In Bethlehem war ein neugeborenes Kind, dessen Eltern das Platzproblem dadurch gelöst hatten, dass sie ihr Kind in eine Futterkrippe gelegt haben. Das war auch damals ungewöhnlich, genauso ungewöhnlich wie wenn wir heute ein Baby in einer Küchenschublade unterbringen würden. Aber: sie fanden das Kind in der Krippe, und das heißt: der Realitätstest war bestanden, es war kein leeres Gerede gewesen.

Es geht im Glauben immer um reale Vorgänge, nicht um eine schöne Traumwelt für Leute, die sich mal Urlaub von der harten Wirklichkeit gönnen wollen. Wäre es den Hirten um eine religiöse Traumwelt gegangen, dann hätten sie sitzenbleiben können. Dann hätten sie sich erzählen können von dem Glanz des Engels und von der himmlischen Musik, und dass selbst die Schafe die Ohren gespitzt haben und so weiter. Sie könnten dann sogar jedes Jahr die Erinnerung an den Engelsbesuch feiern, mit Kerzen und Engelsfiguren, sie würden Engelsgeschichten erzählen und für ein paar schöne Stunden ihren armseligen Alltag vergessen.

Aber das war nicht die Absicht Gottes, als er den Engel schickte. Und das ist kein Christentum. In einer Fantasiewelt zu leben, das überlassen wir lieber den Fernsehbegeisterten. Das biblische Christentum ist voll von der Sehnsucht, in der Realität etwas mitzuerleben von Gottes großen Taten. Das biblische Christentum teilt Gottes Liebe zur materiellen Welt. Gott wollte uns als Wesen, die in der materiellen Welt genauso verankert sind wie in der geistigen Welt. Und deswegen sagt er: schaut die Hoffnung der Welt, in Windeln, in einer Krippe. Geht und überzeugt euch. Gottes Wort ist zuverlässig.

Warum aber kommt das Christentum so leicht in Verdacht, auch nur eine Fantasiewelt zu sein? Eben weil es um die Begegnung von zwei Wirklichkeiten geht, um die Wirklichkeit Gottes, die in unsere Welt einbricht, manchmal eindrucksvoll und fast unübersehbar, manchmal leise und nur zu verstehen für den, der Ohren hat zu hören. Und wenn man diese Wirklichkeit Gottes isoliert, dann wird daraus eine religiöse Traumwelt, und die Reaktion ist, dass die einen sagen: o ja, das ist was für mich, ich bin so ein romantischer Typ, und die anderen sagen: ja das ist eben nur was für die Spinner!

Aber in Wirklichkeit geht es um die Begegnung von zwei Wirklichkeiten, und in dieser Begegnung verändert sich unsere Welt. Das ist Gottes Ziel dabei. Und deshalb ist es richtig, dass die Hirten sofort und mit Tempo aufbrechen: nur wenn wir mit dabei sind, wie Gott unsere Welt verändert, nur so wächst unser Vertrauen in sein Reich und eine Kraft.

Es sind die entscheidenden Momente unseres Lebens, wenn wir uns trauen, loszugehen, aufzubrechen, und dann merken: Gottes Verheißung trägt. Wenn wir etwas wagen und sehen: er kommt uns entgegen. Wenn wir ihm ein Problem geben und sehen: es kommt wirklich in Ordnung. Wenn wir vor ihm stehen und merken, dass hinterher die Welt anders aussieht.

Und es ist wichtig, dass wir diese Momente festhalten, so wie Maria intensiv darüber nachdenkt und es festhält, weil es ja sein kann, dass es etwas dauert, bis uns so etwas das nächste Mal widerfährt.

Die Hirten, die dieses überwältigende Erlebnis mit den Engeln hatten und dann tatsächlich das Kind fanden, die haben ja anschließend dreißig Jahre lang nichts Besonderes erlebt. Man kann sich gut vorstellen, dass einige von den Hirten es später noch selbst miterlebt haben, wie Jesus als Erwachsener öffentlich auftrat. Und vielleicht haben sie sich an ihr Erlebnis mit dem Krippenbaby erinnert. Vielleicht haben sie zu seinen Anhängern gehört, ich würde mich darüber nicht wundern. Aber bis dahin mussten sie dreißig Jahre warten! Dreißig Jahre sind lang! Wer schon über dreißig ist, soll sich mal erinnern, was vor dreißig Jahren war. Geht das noch? Das ist schwer. Und über dreißig Jahre so eine Hoffnung festzuhalten, auch wenn sie von einem Erzengel stammt, das kostet Beharrlichkeit!

So wird es auch in unserem Leben Zeiten des Wartens geben, wo uns keine großen und leuchtenden Gotteszeichen begegnen, Zeiten, wo wir aus der Erinnerung an seine großen Taten leben und auf neue Taten warten. Aber das heißt nicht, dass wir auf dem Abstellgleis gelandet wären. Gott vergisst uns nicht, er ist an der Arbeit, aber er nimmt sich manchmal nach unserem Eindruck erstaunlich viel Zeit. Während die Hirten dreißig Jahre lang Schafe hüten, wächst Jesu heran und wir eines Tages ein Mann, der dem ganzen Land neue Hoffnung gibt.

Und wenn er dann vorbeikommt, ist für die Hirten wieder der Moment gekommen, ihre Schafe stehen zu lassen und eilig wie in der Heiligen Nacht zu ihm zu laufen. Es gibt Zeiten, in denen man ruhig und unbeirrbar warten können muss, und es gibt Momente, wo man alles stehen- und liegenlassen muss, um dabeizusein. Und man braucht zu beidem Entschiedenheit.

Die Hirten verschwinden mit Kapitel 2 des Lukasevangeliums aus der Bibel, und nirgendwo finden wir noch etwas über sie. Es ist lediglich ein schöner Gedanke, dass sie später vielleicht unter den Anhängern Jesu gewesen sein könnten.

Wichtiger ist ja auch die andere Frage: sind wir brauchbar für Gott? Haben wir diese Leidenschaft für die Wirklichkeit, die sich mit einer Traumwelt nicht zufrieden gibt? Werden wir warten können, ohne ungeduldig zu werden und ohne uns dann mit dem Zweitbesten zufriedenzugeben? Und werden wir im richtigen Moment alles loslassen und mit Tempo bei Jesus sein?