Kein Grund mehr für Lügen und Streit (Kolosserbrief VI)

Predigt am 20. Januar 2002 über Kolosser 3,9-16 und Matthäus 17,1-9

Als die Jünger auf dem Berg die Verklärung Jesu beobachteten (Matthäus 17,1-9), da hob sich für einen Augenblick der Vorhang, und sie sahen, dass sie Teil einer Geschichte geworden waren, die viel größer und umfassender war, als sie geahnt hatten. Sie waren mitgegangen mit einem begeisternden und beeindruckenden Menschen, aber in Wirklichkeit waren sie hineingeraten in ein Drama, das vom Beginn bis zum Ende der Welt reicht, und das Himmel und Erde umfasst.

Die Mission Jesu steht in Verbindung mit Menschen, die ihm vor Jahrhunderten und Jahrtausenden den Weg bereitet haben, Mose und Elia, denen es damals schon auf ihre Weise um das ging, was Jesus viel später brachte. Menschen, von denen erzählt wird, dass sie kein Grab haben, sondern sie sind auf geheimnisvolle Weise hinübergegangen in den Himmel, in die unsichtbare Welt Gottes. Aber dieser Himmel ist höchst aktiv und wirkt mit seinen Kräften hierher auf die Erde.

Und die Jünger müssen erkennen: was wir hier erleben und tun, das spielt eine Schlüsselrolle, die weit hinausreicht über unser kleines Leben. Wir sind lebendige Teile einer Geschichte, die Gott geschrieben hat, und die er selbst vorantreibt. Deswegen hat das, was wir erleben und tun, Bedeutung, weit über unseren Horizont und unsere Reichweite hinaus, es hat eine Bedeutung, von der wir bisher noch nicht einmal etwas ahnten. Aber nun, nachdem wir Jesus in seiner eigentlichen Gestalt gesehen haben, im göttlichen Glanz, nun ahnen wir, wie sehr dies alles unseren Horizont weit hinter sich lässt.

Und trotzdem, ja, gerade deshalb, sind unsere Entscheidungen nicht bedeutungslos und nebensächlich, sondern unsere Erlebnisse auf den staubigen Landstraßen und in den kümmerlichen Hütten dieses Landes, sie werden noch in fernen Zeiten erzählt werden, man wird sich an einzelne Worte und Sätze erinnern und sie wieder und wieder hören.

Und es gilt bis heute, dass wir Teil einer viel größeren Geschichte sind, von der wir nur Bruchstücke kennen. Aber deswegen sind unsere Entscheidungen von größter Bedeutung, und ob wir unsere Berufung erfüllen oder verfehlen, das kann den Lauf der Welt auf einen neuen Weg bringen.

Und das gilt nun eben ausdrücklich auch für uns, gerade, wenn wir zu denen gehören, die von Jesus berufen und in seine Nachfolge gerufen sind. Wir sind dann aktiver Teil in der entscheidenden Geschichte. Und es ist nicht nebensächlich, ob wir unsere Rolle gut oder schlecht ausfüllen. Damit wir es gut machen, gibt es die Anleitungen und Beschreibungen, z.B. aus dem Kolosserbrief, auf die wir heute weiter hören wollen:

9 Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen 10 und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat.
11 Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus.
12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!
14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15 Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.
16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.

Etwas entscheidendes ist geschehen: ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen. Da seid ihr zu aktiven Teilnehmern in dieser Geschichte Gottes geworden, und es ist nicht mehr euer privates Vergnügen, wie ihr euer Leben führt. Es ist entscheidend wichtig, ob ihr an eurem Platz in der Welt eurer Berufung treu bleibt oder ob ihr der Lüge, dem Neid und dem Stolz Raum gebt.

Es ist klar, dass Paulus hier nicht behauptet, dass wir mit dem Glauben an Jesus Christus endgültig schon so wären, wie Gott uns haben will. Sonst müsste dieser Brief nicht geschrieben werden. Aber an einem entscheidenden Punkt hat sich etwas geändert: der innere Mensch ist neugeworden, der Geist. Im Zentrum hat sich etwas gewandelt, da ist eine neue Identität entstanden.

Paulus erläutert das an den entscheidenden Gegensätzen, von denen die antike Welt geprägt wurde: Die Sklaven und ihre freien Herren, die zivilisierten Griechen und die wilden, ungehobelten Barbaren, die dumpf und gewalttätig den Norden bevölkerten; die Juden mit ihrer Kenntnis des wahren Gottes und die anderen, die davon nichts verstanden. Und Paulus sagt: diese Einteilungen sind überholt im Vergleich zu der neuen Realität, dass Menschen aus all diesen Gruppen Zugang zu Jesus Christus finden. Die Zugehörigkeit zu Christus ist so tiefgreifend, so umwälzend, dass dagegen die Bindungen an die anderen Gruppen ihre Bedeutung verlieren.

Paulus macht das deutlich am Problem der Lüge: normalerweise sind all diese Gruppen voneinander durch Mauern aus Misstrauen geschieden. Und jede Gruppe schirmt sich ab und entwickelt ihre eigene Kultur und ihre eigene Sicht der Wirklichkeit, und sie ist überzeugt, dass mit den anderen keine ehrliche Kommunikation möglich ist, weil die Interessen so unterschiedlich sind. »Die werden uns nie verstehen, denen wird nie wirklich unser Wohl am Herzen liegen, wir können nur unseren eigenen Leuten trauen, wir müssen zusammenhalten, egal, ob es um Recht oder Unrecht geht«, so ist das Bewusstsein dann. Und so haben die da oben und die da unten ihre eigene Art zu reden, die die anderen nur teilweise verstehen. Es gibt die Einheimischen und die Fremden, die Alten und die Jungen, die Männer und die Frauen, die Mächtigen und die Ohnmächtigen, diejenigen, die noch wissen, wer damals unter Hitler vornewegmarschiert ist und diejenigen, die das nicht wissen, und noch unzählige andere kleine Bruchlinien, und es ist richtig: guter Wille wird diese Grenzen nicht überspringen, weil die Interessen tatsächlich zu verschieden sind. Erst wenn Menschen eine neue Identität in Christus haben, dann ändert sich das. Dann ist es zweitrangig, zu welcher sonstigen Gruppe ich gehöre, weil die Bindung an Jesus das Wichtigste ist. Und dann stimmen meine Interessen mit denen überein, die ebenfalls von dieser Bindung an Jesus her leben.

Man muss sich dann gegenseitig nicht mehr voreinander verbergen, man muss sich nicht mehr belügen, weil man nicht mehr durch unterschiedliche Interessen voneinander getrennt ist. Wenn alle ein Interesse daran haben, in Jesus zu leben und in seine Art hineinzuwachsen, warum sollten sie sich dann gegenseitig verletzen oder zurückstoßen? Es ist das ureigenste Interesse von jedem Einzelnen, dass es den anderen gutgeht und sie in diese Gemeinschaft hineinwachsen, weil man natürlich gemeinsam viel besser vorankommt auf seiner geistlichen Reise.

Deswegen ergibt das dann auch eine Gemeinschaft, in der man geduldig und freundlich miteinander ist, wo man sich ertragen kann, weil man weiß, dass man im entscheidenden Punkt zusammengehört und dass es da keine Interessengegensätze gibt. Deswegen ist das ein Umfeld, in dem wirkliche Liebe gedeihen kann.

Es ist wichtig zu sehen, dass es sich hier nicht um Seelenmassage handelt, nach dem Motto: »seid doch ein bisschen netter zueinander!« Paulus geht von den echten Interessen aus und sagt: orientiert euch an den echten Bruchlinien und nicht an den vordergründigen. Er leitet uns an, den tatsächlichen Konflikt zu sehen und uns nicht von Nebenkonflikten ablenken zu lassen.

Paulus konnte ja an anderer Stelle ganz scharf werden und Abgrenzung verlangen, sogar den Ausschluss von Menschen aus der Gemeinde, wenn sie beharrlich etwas Fremdes da hineinbrachten. Es geht nicht um Frieden und Harmonie um jeden Preis, sondern diejenigen, die im Kern ihrer Identität von Christus her leben, die sollen auf das Potential sehen, das sie alle in sich tragen, und nicht auf die äußere Wirklichkeit, die oft sehr gemischt aussieht. Da soll nicht dies ganze Gemecker und Geschimpfe und Beschuldigen wieder losgehen, mit dem Menschen sonst ihre Interessengegensätze austragen. Sondern es soll ein Klima herrschen, in dem das neue Leben gedeihen und sich entfalten kann.

Wenn Menschen so in der Nachfolge Jesu leben, dann haben sie Zugang zum Frieden Gottes. Wir sollen diesem Frieden die Tür aufmachen, damit er uns prägt und nicht Bitterkeit, Neid, Vorwürfe und Beschuldigungen. Das sind ja Quälgeister, die sich in erster Linie bei denen einnisten, die ihnen Raum geben, und dann in zweiter Linie bei denen, die das abkriegen. Deswegen sollen wir diesen Quälgeistern nicht die Herrschaft in unserem Herzen abtreten. Sie sollen aber auch in der Gemeinde keinen Einfluss haben. Wir sind dazu berufen, im Frieden Gottes zu leben, in uns selbst und im Leib Christi.

Unweigerlich erhebt sich natürlich die Frage, wie es dazu kommen kann. Wir wissen alle, dass es in den Kirchen genug Streit und Probleme gibt, auch wenn es heute bei uns keine Religionskriege und keine Inquisition mehr gibt. Und viele Leute stehen dann dabei und sagen: wie kann das nur passieren, dass es auch in der Kirche so viel Streit gibt?

Darauf ist die Antwort im Grunde ganz einfach: in dem Moment, wo innerhalb der Kirche Menschen nicht von Jesus Christus aus leben, tauchen auch da sofort wieder die üblichen Auseinandersetzungen auf. Da müssen gar nicht alle irgendwie schuld haben, es braucht nur einer ganz stark andere Interessen vertreten. Und da wusste auch Paulus im Einzelfall keinen anderen Rat als zu sagen: dann müsst ihr ihn vor die Tür setzen.

Aber natürlich bleibt die Frage: wie kann das geschehen, dass dies Gute alles auch Realität wird? Muss man sich aufs Hoffen und Beten verlegen, oder was kann man tun?

Und es gibt tatsächlich ein Mittel. Es ist sehr einfach und nicht überraschend. Es kommt eher unscheinbar daher:

16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.

Dies alles wird Wirklichkeit unter dem Einfluss des Wortes Gottes. Wir sind immer wieder in Gefahr, zu vergessen, wer wir sind und welche Erneuerung in uns schon stattgefunden hat. Das Wort Gottes ruft uns immer wieder dorthin zurück. Das ist die Bibel, aber das ist auch das lebendige Wort, das sich aus der Bibel erhebt. Weisheitsworte, Predigten, Loblieder — wir müssten heute sicherlich auch christliche Bücher dazunehmen — alle Bibelworte und alles lebendige Reden, das sich aus dem Geist der Bibel nährt, das holt uns zurück in die Wirklichkeit, die in unserem Geist schon begonnen hat. Und es hilft uns, diese Wirklichkeit auszubauen und sie in unserem Leben zu stärken.

Wir sind darauf angewiesen, dass uns unsere Rolle in der großen Geschichte Gottes immer wieder neu zugesprochen wird. Das Feuer, das da hoffentlich in uns entzündet worden ist, das muss immer wieder von neuem ermuntert und angefacht werden. Es wird nicht von Natur aus immer wieder mit neuem Brennmaterial versorgt. Und wenn das Brennmaterial immer spärlicher kommt, dann kann auch dieses Feuer verlöschen. Es muss äußerlich genährt werden. Deswegen müssen wir äußerlich dahin gehen, wo das Wort lebendig ist. Deswegen ist es wichtig, das zu einem Entschluss zu machen, damit es nicht von Stimmungen abhängig ist. Das Wort soll reichlich vorhanden sein, damit wir immer und jederzeit tiefer hineingezogen werden in unsere Bestimmung.