Der Gott der Freiheit (Kolosserbrief IV)

Predigt am 18. November 2001 zu Kolosser 2,11-23

11 Durch Christus seid ihr auch beschnitten worden – nicht am Körper, sondern so, dass ihr den ganzen Körper, sofern er unter der Herrschaft der Sünde steht, abgelegt habt. Dies geschah in der Christus-Beschneidung, 12 der Taufe. Als ihr getauft wurdet, seid ihr mit Christus begraben worden, und durch die Taufe seid ihr auch mit ihm zusammen auferweckt worden. Denn als ihr euch taufen ließt, habt ihr euch ja im Glauben der Macht Gottes anvertraut, der Christus vom Tod auferweckt hat.

13 Einst wart ihr tot, denn ihr wart unbeschnitten, das heißt in ein Leben voller Schuld verstrickt. Aber Gott hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht. Er hat uns unsere ganze Schuld vergeben. 14 Den Schuldschein, der uns wegen der nicht befolgten Gesetzesvorschriften belastete, hat er für ungültig erklärt. Er hat ihn ans Kreuz genagelt und damit für immer beseitigt. 15 Die Mächte und Gewalten, die diesen Schuldschein gegen uns geltend machen wollten, hat er entwaffnet und vor aller Welt zur Schau gestellt, er hat sie in seinem Triumphzug mitgeführt – und das alles in und durch Christus.

16 Darum soll euch niemand verurteilen wegen eurer Eß- und Trinkgewohnheiten oder weil ihr bestimmte Festtage oder den Neumondstag oder den Sabbat nicht beachtet. 17 Das alles ist nur ein Schatten der kommenden neuen Welt; doch die Wirklichkeit ist Christus, und die ist schon zugänglich in seinem Leib, der Gemeinde.
18 Lasst euch den Siegespreis von niemandem nehmen, der sich in Demutsübungen und Engelverehrung gefällt und das mit irgendwelchen visionären Erlebnissen begründet. Solche Menschen blähen sich grundlos auf in ihrer rein irdischen Gesinnung, 19 statt sich an Christus zu halten, der doch der Herr über alles ist und das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Von ihm her wird der ganze Leib zusammengehalten und versorgt, damit er zur vollen Größe emporwächst, wie es Gott gefällt.

20 Wenn ihr mit Christus gestorben seid, seid ihr den kosmischen Mächten weggestorben. Warum tut ihr dann so, als ob ihr noch unter ihrer Herrschaft lebtet? Ihr laßt euch vorschreiben: 21 »Dies sollst du nicht anfassen, das sollst du nicht kosten, jenes sollst du nicht berühren!« 22 Alle diese Dinge sind doch zum Gebrauch und Verzehr bestimmt! Warum laßt ihr euch dann von Menschen darüber Vorschriften machen? 23 Es sieht nur so aus, als ob diese selbstgewählte Verehrung, die Demutsübungen und die Kasteiung des Körpers Zeichen besonderer Weisheit seien. In Wirklichkeit bringt das alles uns Gott nicht näher, sondern dient nur der Befriedigung menschlicher Selbstsucht und Eitelkeit.

Das Thema dieses Briefabschnittes ist Bindung. Falsche Gewissensbindung. Paulus hat dagegen immer entschieden gekämpft, weil er wusste, dass falsche Gewissensbindungen den Glauben entscheidend schwächen, oder ihn sogar ganz kaputt machen. Deswegen ist diese Frage der Gewissenbindung der rote Faden für den Galaterbrief und auch für den Kolosserbrief.

Lasst uns zuerst einmal überlegen, was das eigentlich ist: Gewissensbindung. Z.B. kann es sein, dass ein Kind zu hören bekommt: »Wenn du deinen Teller nicht leer isst, dann wird die Mama ganz traurig. Da hat sie die ganze Zeit gekocht und dann magst du es nicht.« Das Kind möchte nicht mehr essen, es ist satt, es mag das Essen nicht, oder es hat vorher lauter Süßigkeiten gegessen. Andererseits möchte es nicht, dass Mama traurig ist, weil sie dann vielleicht nicht mehr mit ihm spricht, und es möchte auch nicht hören müssen: es ist deine Schuld, wenn es Mama schlecht geht. Also reißt es sich zusammen und stopft sich doch noch ein paar Löffel rein.

Das heißt, das Kind tut etwas, was es eigentlich nicht will, aber es glaubt, dass es dazu verpflichtet ist. Ein Erwachsener würde vielleicht antworten: wenn du dein Glück daran hängst, dass ich mich überfresse, dann ist das dein Problem und nicht meins! Aber ein Kind ist noch nicht so weit, es akzeptiert die Verantwortung, die ihm da aufgedrängt wird. Und je nachdem, wie es sich entscheidet, hat es hinterher entweder einen zu vollen Magen oder ein schlechtes Gewissen.

Ein kindliches Gewissen ist noch schwach, das heißt, es kann noch nicht gut unterscheiden, wo es wirklich Verantwortung hat, und wo ihm die fälschlich eingeredet wird. Kinder glauben dann manchmal, sie hätten Verantwortung für die Harmonie in der Familie, und in Wirklichkeit kommen die Erwachsenen nicht miteinander aus, und dem Kind wird die Schuld zugeschoben, und es zieht sich den Schuh an, weil es sich nicht dagegen wehren kann. Das geht ja so weit, dass missbrauchte Kinder nicht selten meinen, sie seien die eigentlich Schuldigen.

Aber man kann eben, wenn man es geschickt anstellt, auch Erwachsene in eine falsche Gewissensbindung hineinziehen. Die Nationalsozialisten hatten z.B. den Soldaten einen Treueid auf Hitler abgenommen. Deswegen fühlten sich gerade ehrliche Menschen verpflichtet, im Krieg für Hitler zu kämpfen, auch dann, wenn sie eigentlich den Krieg nicht richtig fanden. »Eid ist nun mal Eid« sagten sie sich.

An dieser Stelle ist die Sache noch relativ einfach. Seit altersher gilt der Grundsatz, dass ein Eid, der zu einer Sünde verpflichtet, ungültig ist. Man braucht ihn nicht halten, man darf ihn nicht halten. Aber auch das muss man erstmal wissen!

Schwierig wird es bei den Dingen, die nicht eindeutig falsch sind. Vielleicht haben Eltern ihre erwachsenen Kinder lange finanziell unterstützt und fordern jetzt bei gewissen Dingen ein Mitspracherecht in der Familie. »Die ganze Zeit haben wir euch unterstützt, jetzt müsstet ihr eigentlich auf unseren Rat hören.« Da wird es schon schwieriger zu entscheiden, ob die Eltern wirklich ein Recht darauf haben. Oder was man jetzt manchmal hören kann: »Fünfzig Jahre haben uns die Amerikaner beschützt, da können wir sie jetzt nicht in Afghanistan allein die Dreckarbeit machen lassen.« Ja, wirklich? Kann uns tatsächlich der Hinweis auf die Bündnistreue die Entscheidung abnehmen, ob so ein Militäreinsatz richtig ist oder nicht?

Merken Sie, wie diese Frage nach der Gewissenbindung ganz große, praktische Bedeutung hat? Wer Zugang zum Gewissen eines anderen hat, der hat Macht über ihn. Der kann ihn dazu bringen, dass er Dinge tut, die er freiwillig nicht tun würde, höchsten unter Druck von starken Machtmitteln. Aber wenn jemand ihn über sein Gewissen unter Druck setzen kannst, dann geht es auch so.

Wieso funktioniert das? Es liegt daran, dass wir alle eine Ahnung davon haben, dass wir vor Gott nicht so sind, wie wir sein sollten. Wir haben alle ein chronisch schlechtes Gewissen. Einige von uns haben deswegen gelernt, nicht auf ihr Gewissen zu hören. Aber auch ein abgeschaltetes schlechtes Gewissen bleibt ein schlechtes Gewissen, und ganz zum Schweigen bringen kann man es doch nicht. Deswegen fühlen wir uns unter Druck, irgendetwas zu tun, um ein besseres Gewissen zu bekommen. Und dadurch sind wir anfällig dafür, dass jemand kommt und sich sozusagen zum Sprecher Gottes macht und unsere Schuldgefühle anspricht. Sie kennen vielleicht diesen Trick, dass da ein Mann vor der Tür steht und sagt: ich mache eine Umfrage und würde gerne von ihnen hören, ob Sie finden, dass man entlassene Strafgefangene unterstützen soll. Und wenn Sie dann antworten: ja, die sollte man natürlich unterstützen, dann sagt er: ich bin einer, und jetzt unterstützen Sie mich doch, indem Sie bei mir ein Zeitschriftenabo bestellen.

Er nutzt aus, dass wir das dumpfe Gefühl haben, uns nicht genug um Menschen mit Problemen zu kümmern. Die meiste Zeit denken wir da nicht groß dran, aber der Zeitschriftenwerber hat einen Weg gefunden, zu diesem wunden Punkt vorzustoßen und uns damit unter Druck zu setzen. Und wer das Abo nicht bestellt, hat irgendwie ein schlechtes Gewissen, und wer es bestellt, hat das dumpfe Gefühl, übers Ohr gehauen worden zu sein. Falsche Gewissensbindung hinterlässt immer einen schalen Geschmack.

Diese lange Vorrede war nötig, damit wir verstehen, was in Kolossä passierte. In die dortige Gemeinde kamen Menschen, die sagten: wenn ihr wirklich und mit Ernst Christen sein wollt, dann müsst ihr aber auch – dies und jenes tun. Heute würden die wahrscheinlich sagen: dann müsst ihr euch mehr um Benachteiligte kümmern, oder ihr müsst mehr missionarischen Einsatz zeigen, oder ihr müsst mehr beten oder ähnliches. Wir haben alle den Eindruck, dass wir uns zu wenig einsetzen, wir haben da alle ein schlechtes Gewissen, und der erste, der sagt: wir müssen uns doch mal ernsthaft an die eigenen Nase fassen, ob wir genug helfen, oder ob wir genug beten und ob wir genug Einsatz zeigen – der hat immer Recht, dem kann keiner widersprechen.

Damals in Kolossä sagten sie: wenn ihr es wirklich ernst nehmt mit dem Glauben, dann müsst ihr euch beschneiden lassen, ihr müsst die jüdischen Festtage einhalten, und ihr müsst fasten und euch selbst schlecht behandeln als Zeichen eurer Demut. Heute würden wahrscheinlich stärker soziale Aufgaben thematisiert, damals ging es stärker um religiöse Dinge im engeren Sinne. Besonders Demut scheint da wichtig gewesen zu sein, es gab da wohl so einen richtigen Demutswettbewerb nach dem Motto: Ätsch, ich bin noch viel demütiger als du! Und das funktioniert nur, weil wir Menschen natürlich alle irgendwo wissen, dass wir zu sehr um unser Ego kreisen.

Und dann kommen Menschen nach der Methode Zeitschriftenabo-Werber und aktivieren unser schlechtes christliches Gewissen und sagen: wenn ihr echte Christen sein wollt, dann tut das, was wir euch sagen! Gehorcht uns, dann seid ihr richtige Christen!

Aber Paulus schreibt: um Himmels willen, lasst die Finger davon! Geht dem nicht auf den Leim! Wenn ihr Nachfolger Jesu seid, braucht ihr das nicht. Überlegt mal: Wem seid ihr denn etwas schuldig? Diesen Leuten gegenüber? Nein, Gott gegenüber doch wohl. Aber was hat Gott getan? Er hat den Schuldschein, der gegen uns stand, durchgestrichen, er hat ihn zerrissen und die Fetzen in den Dreck geworfen. Gott hat auf diese Forderung verzichtet. Und es kann niemand – niemand! – mehr in Gottes Namen kommen und in Gottes Auftrag bei dir kassieren. Und wenn doch einer kommt, dann schmeiß ihn raus. Lass dir von niemanden Schuldgefühle einreden, weil der einzige, der das Recht dazu hätte, Gott ist, und in dem Moment, wo du zu Jesus gehörst, zerreisst er deinen Schuldschein. Er hat ihn ans Kreuz geheftet. Er hat darauf verzichtet, uns die Rechnung zu präsentieren. Gott ist kein Zeitschriftenabowerber, der uns mit unserem schlechten Gewissen erpresst. Er will uns als starke und freie Menschen, und deshalb wird er nie in Menschen Schuldgefühle schüren, um sie dann zu etwas hinzumanipulieren, was sie eigentlich gar nicht wollen. Er wird uns auch nicht zum Guten hinmanipulieren.

Gott stellt uns die Vertrauensfrage, er wünscht sich das so sehr, dass wir ihm unser Vertrauen aussprechen, wir alle, 100 Prozent, aber er verzichtet auf ein Scheinvertrauen, das durch Erpressung und Manipulation zustande kommt. Er verzichtet darauf, Menschen unter Druck zu setzen, damit sie gegen ihre eigene Überzeugung handeln. Gott arbeitet nie mit Vorwürfen, Schuldgefühlen, Angriffen oder moralischem Druck – weil er ein Gott der Freiheit ist.

Unter Menschen ist es gang und gäbe, dass wir die echten oder angeblichen Verfehlungen anderer sammeln, damit wir im entscheidenden Moment sagen können: »Nimm mal nur nicht den Mund so voll, ich hab hier deine ganze Sündenliste!« Wenn wir Jünger Jesu werden, schmeißt Gott diese ganze Sündenliste weg und sagt: »Interessiert mich nicht mehr. Erledigt. Zum Altpapier.« Und die einzigen, die manchmal noch losgehen und versuchen die Fetzen des Schuldscheins wieder zusammenzukleben, das sind Menschen: entweder andere, die uns irgendwie unter Kontrolle kriegen wollen, oder wir selber, weil wir das Gefühl haben, das kann doch nicht so einfach gehen, das gibt es doch nicht, dass das einfach weg ist. Ich habe sogar von Leuten gehört, die nachgeforscht haben, ob ihre Eltern Sünden begangen haben und meinten, dadurch hätten die Mächte des Bösen vielleicht noch irgendwie Anrecht auf sie und sie müssten auch damit erst noch brechen. Nein! Wenn du zu Jesus gehörst, dann hast du mit allen Sünden seit Adam und Eva gebrochen, und niemand hat mehr irgendein Anrecht auf dich.

Wie sagt Paulus? Die Mächte und Gewalten, die uns so gerne den Schuldschein präsentieren würden, die hat Gott entwaffnet und zur Schau gestellt. Man könnte sagen: er hat sie zu lächerlichen Figuren gemacht. Und jetzt fangt ihr Jünger Jesu bloß nicht an, die wieder ernst zu nehmen.

Natürlich kann es manchmal nötig sein, Aufräumarbeiten zu leisten: eine Therapie zu machen oder einen Seelsorger aufzusuchen z.B. Vielleicht haben meine Eltern mir ja wirklich einigen Murks in die Seele gesteckt, als ich noch klein war und ein schwaches Gewissen hatte. Und das meldet sich und tut mir weh und durch mich auch anderen. Deswegen sagt Paulus: haltet euch an die Christus-Wirklichkeit, bleibt mit Jesus verbunden! Denn es gibt von Jesus her einen Wachstumsprozesss, in dem wir den ganzen Schutt hinter uns lassen. Und wenn du in diesen Prozess eingetreten bist, dann sieht Gott dich so an, als ob das Ergebnis schon erreicht wäre. Und du selbst kannst auch sagen: da steckt noch viel Ungesundes in mir, aber ich weiß: über kurz oder lang werde ich mit Gottes Hilfe diesen Schutt rauskehren. Aber diese Aufräumaktion ist nicht die Voraussetzung dafür, dass Gott meinen Schuldschein durchstreicht. Sie ist die Folge davon. Nur wenn ich anfange, mich von diesem göttlichen Wachstum abzuschneiden, weil ich mir wieder ein schlechtes Gewissen machen lasse, dann verliere ich irgendwann Jesus wieder.

Und wenn man im Kolosserbrief weiterliest, dann merkt man, dass Paulus noch viel darüber schreibt, wie man dies neue Leben mit Jesus gestalten soll. Und wir brauchen da ganz viel Nachdenken und Lernen, wie das eigentlich heute bei uns aussieht, hier in Deutschland, in Groß Ilsede, in der Nachfolge Jesu leben.

Aber zuerst geht es um die Grundlage, auf der das geschieht. Und die Grundlage ist, dass der Schuldschein getilgt ist. Wenn also der Zeitschriftenwerber vor der Tür steht, dann können Sie ihm etwas abnehmen, Sie können es sein lassen und sein nachfolgendes Schimpfen durch Türschließen beenden, Sie können versuchen, ihn zu überreden, aus der Drückerkolonne auszusteigen, Sie könnten ihm aber auch erzählen, dass gerade ehemalige Strafgefangene Jesus brauchen. Vielleicht sagen Sie sich auch: ich kann nichts für ihn tun, ich weiß nichts. Tun Sie, was Sie nach ihren Möglichkeiten und Ihrer Stärke tun können. Aber tun Sie nichts aus einem schlechtem Gewissen heraus. Das brauchen wir nicht haben, wenn wir zu Jesus gehören und an Gottes Wachstumsprozess teilnehmen.